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Kategorie: Rezensionen

Hans Joachim Kujath und Sabine Zillmer (Hg.): Räume der Wissensökonomie. Implikationen für das deutsche Städtesystem. Münster (Stadt- und Regionalwissenschaften 6) 2010. 413 S.

Thema dieses Buchs ist die räumliche Dimension dessen, was heute in den Wirtschaftswissenschaften und zunehmend auch in Geographie und Raumforschung als Wissensökonomie bezeichnet wird. Dabei wird in besonderer Weise den entsprechenden Konsequenzen für das Städtesystem in Deutschland nachgegangen.

Der Ausgangspunkt und wissenschaftliche Kontext dieser Arbeit, die auf einem Forschungsvorhaben am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner beruht, besteht in zwei Setzungen: Erstens wird Wissen und Kreativität heute eine zentrale Bedeutung als Ressource und Wettbewerbsfaktor in spätindustriellen, im klassischen Sinne rohstoffarmen Gesellschaften zugewiesen. Zweitens finden diese neuen Aktivitäten ihren räumlichen Niederschlag in einer Präferenz für urbane Standorte – attraktive Kerne des metropolitanen Raums werden hier wiederholt als prototypisch genannt. „Räume der Wissensökonomie“, so der Titel dieser Untersuchung, ist aber nicht zwingend essenzialistisch zu verstehen, etwa dass diese Funktionen räumlich sehr spezifisch verteilt bzw. angeordnet seien; es geht vielmehr um die mehrskalige Analyse von Standortbindung, Reichweite und Verflechtungsdynamik von Wertschöpfungsprozessen in ausgewählten, funktional definierten Sektoren. Dazu gehören die Hochtechnologieindustrie, die Informations- und Medienindustrie sowie transformations- und transaktionsorientierte Dienstleister. Als theoretische Grundlage wird ein differenzierter institutionenökonomischer Ansatz entwickelt. Methodisch wurde dieser räumlichen Dimension der Wissensökonomie anhand einer sekundärstatistischen Auswertung der   Beschäftigungsentwicklung in diesen Sektoren sowie einer eigenen Unternehmensbefragung in ausgewählten Bundesländern zu den Verflechtungsmustern einschlägiger Unternehmen auf den Grund gegangen. Besondere Beachtung wurde dabei – insofern der Fokus auf das deutsche Städtesystem – den Städten und Regionen jenseits der Metropolräume zuteil. Sie sind bekanntlich wichtige Hochtechnologiestandorte, spielen aber auch im Tertiärisierungsprozess eine nicht unbedeutende Rolle. Das Buch gliedert seine Inhalte in fünf Abschnitte sowie 12 Kapitel. Abschnitt I besteht mit Kapitel 1 aus der Einleitung, die einen Überblick über das Werk verschafft. In den nachfolgenden vier Kapiteln des Abschnitts II werden die theoretischen Grundlagen diskutiert. In Abschnitt III werden die eigene Abgrenzung der Wissensökonomie vorgestellt und begründet, anschließend die   sekundärstatistische Erhebung dokumentiert. Kap. 7-11 in Abschnitt IV geben die Methodik sowie die Befunde der Primärerhebung zu verschiedenen Aspekten des Themas wieder. Der letzte Abschnitt dient der Synthese der Untersuchungsergebnisse. In seinen zentralen Aussagen kommt das Buch zu einem sehr differenzierten Urteil, das offenbar der ebensolchen Natur seiner beiden Hauptgegenstände entspricht: der Heterogenität dessen, was man Wissensökonomie nennt, ebenso wie der komplexen Struktur wirtschaftsräumlicher Verfechtungen, die horizontal und vertikal außerordentlich differenziert erscheinen. Die metropolitane Neigung moderner Dienstleistungen wird durch die Studie bestätigt; dieser Befund wird zugleich durch die Bedeutung auch von Städten bzw. Regionen des zweiten und dritten Rangs relativiert. Entsprechende Interaktionsmuster von unternehmerischen Akteuren sind räumlich weit gestreut und keineswegs auf Kernstädte beschränkt, und sie unterscheiden sich zwischen Industrien und Dienstleistern (sowie innerhalb dieser Kategorien) mitunter beträchtlich. Das wissensökonomische Städtesystem wird vereinfacht als duales System interpretiert, in dem es einerseits „eine vielfältige Konzentration wissensökonomischer Aktivitäten – insbesondere von Transaktionsdienstleistern und Unternehmen der Informations- und Medienindustrie – in großen Agglomerationen gibt und zum anderen eine stärkere räumliche Verteilung von Hochtechnologieindustrie und Transformationsdienstleistern“ (S. 368). Je nach Entwicklungspfad ist die Wissensökonomie sowohl in Großstädten als auch in Mittel- und Kleinstädten vorfindbar (je größer die Stadt, dann in der Regel umso differenzierter), es gibt aber auch auf allen Ebenen des Städtesystems solche Räume, die keinen Besatz an einschlägigen Aktivitäten bzw. Unternehmen aufweisen. Das Buch dokumentiert eine gründliche und empirisch aufwändige Studie (in einem statistisch schwierigen Setting) zu einem relevanten Thema, die an vielen Stellen ein neues Licht auf die räumliche Dimension moderner   Ökonomien wirft. Ihr Mehrwert liegt sicher darin, dass sie bezogen auf das Städtesystem insgesamt stärker als bisher differenziert und den einseitigen Blick auf die Kapitalen und Metropolen früherer Studien vermeidet. Angesichts der komplexen Verschachtelung der verschiedenen räumlicher   Maßstabsebenen, auf denen sich die wissensbasierte Ökonomie nachvollziehen lässt, wird hier vermutlich ein realistischeres Bild gezeichnet als in manch populärer Arbeit zu kreativen Clustern. Kritisch anzumerken bleiben einige formale Dinge. Das Werk liest sich streckenweise etwas sperrig bis lehrbuchhaft (wenn auch viele Ansätze nachvollziehbar erläutert werden). Es hätte vom Umfang her durchaus knapper, kondensierter ausfallen können; in der Bezugnahme auf den gemeinsamen Gegenstand weisen die Kapitel gelegentlich eine Tendenz zur Redundanz auf. Die Logik hinter der Dopplung von Einleitungs- und Einführungskapitel ist nicht selbsterklärend. Wertvoll hingegen ist das Synthesekapitel, das alle wichtigen Untersuchungsschritte und -befunde zusammenfasst. Von grundsätzlicher Bedeutung könnte die Frage sein, inwiefern man tatsächlich von einer „Wissensökonomie“ sprechen kann, wenn sich diese gleichzeitig in sehr unterschiedliche Teilsegmente zerlegt. Wie hier aufgezeigt, sind mindestens Industrie und Dienstleister dann doch so verschieden, dass es auch den AutorInnen kaum sinnvoll erscheint, von der Wissensökonomie als solcher auszugehen. In wissenschaftshistorischer Hinsicht wäre es schließlich – über den vorliegenden Anlass hinaus – interessant zu klären, woher eigentlich die anhaltende Begeisterung für das Wissen kommt und was denn womöglich das nächste – dann hegemoniale – Paradigma der diesbezüglichen Forschung sein wird.

Markus Hesse

Quelle: Die Erde, 142. Jahrgang, 2011, Heft 3, S. 317-319

 

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