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Kategorie: Rezensionen

Eva Hartmann, Caren Kunze u. Ulrich Brand (Hg.): Globalisierung, Macht und Hegemonie.Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie. Münster 2009. 272 S.

Der Sammelband, der auf eine Tagung der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) in Kassel 2007 zurückgeht, fokussiert interdisziplinäre Theorieansätze in der sich seit den 1970er Jahren zum eigenständigen Forschungsfeld institutionalisierten Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ). Die Beiträge verstehen sich angesichts der derzeitigen Deutungskrise kapitalistischer Entwicklungstendenzen als Kontrastprogramm zu Paradigmen neu-orthodoxer Wirtschaftswissenschaften sowie zu politikwissenschaftlichen Konzepten, die sich lediglich auf Fragen politischer Steuerung, deren Legitimität und Effektivität konzentrieren.

Beide Zugänge könnten Interdependenzen entgrenzter Entwicklungen aufgrund ihrer Konzeptionalisierung von Politik und Ökonomie als zwei voneinander getrennte Sphären mit eigenen, spezifischen Rationalitäten nur unzureichend erklären. Ausgeblendet würden insbesondere die komplexen Zusammenhänge der ineinandergreifenden Strukturen von Allokationseffizienz und (neo-)realistischer Wirtschaftspolitik, die sie letztlich als gegeben hinnähmen und damit reproduzierten. Ihre "herkömmliche Unterscheidung zwischen hierarchisch strukturierten innenpolitischen Entscheidungsprozessen auf der einen und anarchischen zwischenstaatlichen Beziehungen auf der anderen Seite" werde damit als methodologischer Nationalismus akzeptiert und fortgeschrieben (25). Zudem fehle diesen Ansätzen ein systematischer Krisenbegriff.

Die kritische IPÖ hingegen habe sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten u.a. feministischen, diskurstheoretischen, postkolonialen sowie poststrukturalistischen Argumenten geöffnet und durch Aufnahme marxistischer Kritik ein historisch-materialistisches Verständnis entwickelt. So seien keine normativen, sondern ontologische und epistemologische Ansätze entstanden, "die in kritischer Abgrenzung von der marktliberal-rationalistischen Orthodoxie die gesellschaftsstrukturellen und politischen Reproduktionsmuster, d.h. die sozialen und diskursiven Praktiken und Machtbeziehungen, in herrschaftskritischer Perspektive zu entschlüsseln bestrebt sind" (17).

Ein großer Teil der Beiträge ist konzeptioneller Art: Hans-Jürgen Bieling stellt heterodoxe Theorieansätze innerhalb der IPÖ vor, die den orthodoxen als kritische Varianten gegenübergestellt werden. Entwicklungen wirtschaftlicher Indikatoren werden von ersteren nicht ausschließlich als ökonomische Sachverhalte betrachtet, sondern "als Ausdruck transformativer sozialer und politischer Dynamiken", die "den konstitutiven Charakter, den unterschiedliche soziale Beziehungen - etwa zwischen Klassen, Geschlechtern oder Ethnien - für die Funktionsweise der internationalen politischen Ökonomie haben", betonen (29). Daran anschließend füllt Petra Purkarthofer "blinde Flecken" der heterodoxen IPÖ (43) durch grundlegende postkoloniale Annahmen. Sie zeigt, dass Rassismus, Maskulinismus und Eurozentrismus nicht nur diskursive Produkte sind, die Macht absichern, sondern konkrete materielle und institutionalisierte Praxen von Herrschaftsverhältnissen darstellen. Auch Aram Ziai und Friederike Habermann reflektieren Schwächen der kritischen IPÖ, jedoch mit explizit feministischen Perspektiven, die durch neo-gramscianische und postkoloniale Theorieeinbindungen erweitert werden, gegenüber einer klassischen historisch-dialektischen Herangehensweise durch Bernd Röttger. Dieser plädiert für eine Reformulierung von Gramscis politischer Theorie des Marxismus, um gewerkschaftliche Kämpfe um Hegemonie im integralen Staat als Ausdruck von Subalternität und Gegenmacht des Kapitals in den Fokus kritischer Analysen zurückzuholen. Joscha Wullweber erweitert die IPÖ-Kontrastprogrammatik durch einen hegemonie- und diskurstheoretischen Dekonstruktionsansatz, der zeigt, "dass sich das Soziale und Ökonomische über Diskurse und dementsprechend über hegemoniale Auseinandersetzungen um die Durchsetzung bestimmter Handlungen und Bedeutungen herstellt" (122). Betont werden hegemoniale (Macht-)Verhältnisse in jeder Beziehung, egal ob privat, ökonomisch, technologisch, rassistisch, etc., wodurch sich keine Dominanz einer Beziehung über die andere ergeben würde, da hegemoniale Auseinandersetzungen "ein grundlegendes gesellschaftliches Organisationsprinzip von, vor allem, aber nicht nur, demokratischen Gesellschaften" seien (140). Joachim Hirschs und John Kannankulams politische Formanalyse des Kapitalismus zielt auf Staaten als "institutionelle Materialisierungen eines internationalen Geflechts widersprüchlicher Klassenbeziehungen" (193), die mit Hilfe des marxschen Begriffs der sozialen Form und der Theorie politischer Räume nach Gramsci und Poulantzas untersucht werden. Sie fragen dabei, inwieweit der bestehende Staatenpluralismus historisch kontingent und damit im Prinzip aufhebbar ist oder ob er struktureller Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise ist. Daneben evaluieren bzw. erweitern Ulrich Brandts neo-poulantzianisches Konzept der materiellen Verdichtung zweiten Grades und Eva Hartmanns formanalytische Befreiung internationalen Rechts aus dem Begriffskorsett des neoliberalen Konstitutionalismus mit ähnlichen Ansätzen unterschiedliche empirische Gegenstandsanalysen.  Durch vielfältige Bezüge zu aktuellen kritischen Kapitalismus-Debatten zeigt der Band, dass die IPÖ weder ein "Ableger" (Bieling) des Marxismus ist noch in neoklassischer Ökonomieargumentation verbleibt. Die interdisziplinären und sich teilweise duellierenden Ansätze erweitern das Feld der IPÖ und zeigen umgekehrt Möglichkeiten auf, die jeweiligen Disziplinen um Kernelemente der IPÖ zu bereichern. Damit repositioniert das Buch die IPÖ als aktuelle Kapitalismusforschung.
Torben Ehlers (Hannover)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 132-134

 

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