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Kategorie: Rezensionen

Alexander Neumann: Kritische Arbeitssoziologie. Ein Abriss. Stuttgart 2010. 192 S.

"Geschichte wird gemacht" - die reale, aber auch die Geschichte der Theorien. Dass Theorieproduktion und gesellschaftliche Prozesse ineinander verwoben sind, ist der Erkenntniskern der Kritischen Theorie, der heute fast vollkommen verblasst ist. Verf. unternimmt den Versuch, das Erbe der Frankfurter Schule am Beispiel der französischen Arbeitssoziologie fruchtbar zu machen. Er führt uns eine ›Theorie in Aktion‹ vor, einen "Seiltanz zwischen geschichtlicher Entwicklung und begrifflicher Debatte" (20).

Die Kritische Theorie ist bei diesem Unterfangen nicht nur methodischer Leitfaden, sondern gleichermaßen der verdeckte Gegenstand. Verf. sieht sie nämlich in der französischen Arbeitssoziologie viel mehr ›aufbewahrt‹ als etwa in der deutschen Industriesoziologie. Das Anregungspotenzial der Kritischen Theorie bestehe in der produktiven Kombination verschiedener Theorieelemente. Von Marx bezieht sie die Einsicht in den Warenfetisch - den "Pinocchio des Kapitalismus" (28) -, die abstrakte Arbeit und die reelle Subsumtion, von Weber die Herleitung der Arbeitsmoral und von Freud die Entdeckung der Triebregungen im individuellen und gesellschaftlichen Leben. Verf. schlussfolgert, dass mit dieser Theoriearchitektur die Verengung der Perspektive der Arbeitssoziologie auf die industrielle Produktion ebenso vermieden werden könne wie die Reduzierung der lebendigen Arbeitskraft auf das variable Kapital. Die Kritische Theorie beuge der Verdinglichung der Kritik vor: dem Determinismus, dem Ableitungsmarxismus, der Teleologie, der Auslöschung von Subjektivität. "Widerstände gegen den Kapitalismus speisen sich [...] aus moralischen und kulturellen Ansichten, aus Vorstellungen von Gerechtigkeit oder gutem Leben, die außerhalb der Warenzirkulation liegen [...]. Es ist nicht das Kapital an sich, das diese Widerständigkeit spontan erzeugt." (166)

Der Abriss, den der Verf. über die französische Arbeitssoziologie gibt, ist mehr als eine Entschlüsselung des Frankfurter Erbes in einem Frankreich, das dies nicht so gerne zugibt (vgl. etwa Foucaults kurz vor seinem Tod gemachtes Zugeständnis, er hätte sich viel Arbeit erspart, hätte er die Frankfurter Schule früher zur Kenntnis genommen). Er porträtiert die Arbeitssoziologie in Frankreich als eine linke, politische Disziplin, die von den ökonomischen und politischen Kämpfen inspiriert und deren Skript in den Zentralen der linken Parteien und Gewerkschaften mitverfasst wird. Die Spaltung in eine realistische und utopische Strömung sei bereits in der Gründung der Arbeitssoziologie nach dem zweiten Weltkrieg angelegt. Georges Friedmann als Repräsentant des realistischen "ouvrierisme" vertrete einen emphatischen Begriff von Arbeit als Selbstverwirklichung. Arbeit und Leben werden von ihm jedoch voneinander isoliert und die gesamtgesellschaftlichen Aspekte der Arbeitssoziologie zugunsten der ›Wertneutralität‹ ausgeblendet. Anders der Utopist Pierre Naville, der die kapitalistische Dynamik (Wachstum, Automation) problematisiert, die Flexibilisierung voraussieht und die sowjetische Staatsbürokratie einer Fundamentalkritik unterzieht. Mit der 1968er-Revolte bricht dieser Stellungskrieg zusammen und es werden Fragen nach der "neuen Arbeiterklasse" (Serge Mallet), den "sozialen Bewegungen" (Alain Touraine), dem "Streik" (Claude Durand / Pierre Dubois) und den "Metamorphosen der Lohnarbeit" (Castel) aufgeworfen. Sie eint die Abkehr vom Traditionalismus der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) mit seiner Fixierung auf die klassische Industriearbeiterschaft und deren Lohninteressen. Mit Cornelius Castoriadis und André Gorz radikalisiert sich die Kritik: nicht nur mehr der Parteimarxismus steht am Pranger, sondern der Marxismus überhaupt. Castoriadis setzt gegen die proletarische Erfahrung auf Autonomie und Imagination. Für ihn sind soziale Kämpfe nicht auf die Kapitallogik, sondern auf die Distanzierung von ihr zurückzuführen. Gorz rechnet mit dem Marxismus ab, verabschiedet sich vom Proletariat und postuliert das Neoproletariat - die unqualifiziert und nur zeitweise Beschäftigten und die Überzähligen der "Reservearmee" - als neues revolutionäres Subjekt. In diese Suche nach dem politischen Subjekt der Veränderung, von der auch die Kritiker des Parteimarxismus nicht lassen können, schaltet sich der im französischen Exil lebende Antonio Negri mit der ›Erfindung‹ der Multitude ein. Pierre Bourdieu spricht den prekarisierten Arbeitern die Fähigkeit ab, die Stimme zu ergreifen. Er wendet sich gegen das ›historische Subjekt‹ und den wirklichen Subjekten zu, die er in Das Elend der Welt (Konstanz 1997) eindrucksvoll zum Sprechen bringt. Während er eine beklemmende, prekarisierte Sozialwelt entdeckt, feiert sein Schüler Luc Boltanski wenig später den "neuen Geist des Kapitalismus", der die Künstler- und Sozialkritik der 1968er erfolgreich in seine "Projektstadt" integriert habe.

Die Geschichte der französischen Arbeitssoziologie ist voller Irrungen und Wirrungen. Aber es ist eine lebendige Geschichte, die von den Attraktions- und Repulsionskräften zwischen Politik und Wissenschaft genährt wird und die in ihren Fragestellungen aufs Ganze geht. Warum das so ist, zeigt Verf. in einem Exkurs über französische Zustände, die sich durch die permanente Krise, die unablässige Kritik und unvermittelte Revolten auszeichnen. Eine kritische Theorie hat es dort leichter als in Deutschland. Es verwundert nicht, dass sie auf eine rebellische Subjektivität setzt, die sie nicht im Betrieb, sondern auf der Straße (in der Gegenöffentlichkeit) findet, dass sie sich statt auf die immanenten Widersprüche des Kapitalismus auf die Einsprüche der Akteure beruft. "Die kritische Theorie hat eine Subjektivität im Blick, die weder in der kapitalistischen Verwertung aufgeht noch im Geist des Kapitalismus, in seiner Arbeitsmoral, Weltsicht und seinen Institutionen." (166) Die Kritischen Arbeitssoziologen und mit ihnen Verf. laufen jedoch Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Welt der konkreten Arbeit scheint die Aufmerksamkeit nicht mehr zu lohnen: "Auch der Begriff der konkreten Arbeit in der Produktion wird von der abstrakten Arbeit weitgehend überholt, da der Wert der produzierten Waren durch den globalen Markt bestimmt wird." (33) Ist es nicht gerade umgekehrt? Wo sonst als in der konkreten Arbeit wird der Widerspruch zwischen dem Bedürfnis, eine Sache gut zu machen, und dem Zwang, eine Sache schnell und billig zu machen, so spürbar? Und was produziert mehr an widerständischer Subjektivität als die Erfahrung dieses Widerspruchs?
Josef Reindl (Saarbrücken)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 454-456

 

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