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Kategorie: Rezensionen

Sabine Collmer (Hg.): From Fragile State to Functioning State. Pathways to Democratic Transformation in a Comparative Perspective. Berlin 2009. 377 S.

Der Sicherheitsdiskurs der letzten beiden Jahrzehnte hat nicht zuletzt Arbeiten im Rahmen von durch Regierungen betriebenen Think Tanks angeregt. Das von der deutschen sowie der US-Regierung getragene George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen hat für das hier dokumentierte komparative Projekt Expertinnen und Experten versammelt, die großenteils Erfahrungen in staatlichen Institutionen einschließlich der Sicherheitsapparate von Afghanistan, Kosovo, Georgien und Moldawien, aber auch der USA, der Ukraine, Kroatiens, Rumäniens oder der Universität der Bundeswehr München mitbringen.

 

Den Großteil des Buches nehmen Fallstudien zu Afghanistan, Georgien, Kosovo und Moldawien ein, wobei einige Beiträge Kurzfassungen längerer Texte darstellen, die im Rahmen eines am Marshall Center angesiedelten Projekts entstanden sind. Sie werden durch eine Einleitung und einen Schlussteil der Herausgeberin sowie durch drei übergreifende Beiträge zur Staatsreform (Graeme P. Herd), zu Fragen der Umweltsicherheit (Steven Hearne) und zur lokalen Verankerung auswärtiger Hilfe für fragile Staaten (Ann L. Philipps) ergänzt.

Wie Sabine Collmer mehrfach deutlich macht, orientiert sich der allgemeine Bezugsrahmen weitgehend am Mainstream der Studien zu fragilen Staaten. "Fragile Staaten" weisen demzufolge Defi zite in den Bereichen "Sicherheit, soziale Wohlfahrt, Wirtschaftswachstum und legitime Institutionen" auf (9). Weitere Risiken betreffen demzufolge "Terrorismus und Massenvernichtungswaffen" sowie "mangelnden politischen Willen", weiter "die weltweite Ausbreitung von Epidemien ... wie HIV/ AIDS oder Vogelgrippe", "Sicherheit im Energiebereich", wobei hier in erster Linie die Liefersicherheit im Vordergrund steht, und endlich "regionale Instabilität", zumal "böse Nachbarn" (9f). Die begriffl ichen Folgen einer solchen Ausweitung dessen, was unter "Sicherheit" alles bezeichnet wird, zeigen sich noch einmal im Schlusskapitel, wo die Rede von "politischer Sicherheit" oder "wirtschaftlicher Sicherheit" den Verdacht nicht zerstreuen kann, mit "Wirtschaft" oder "Politik" sei es beispielsweise auch getan. Die verbale Versicherheitlichung bedeutet demnach keinen kognitiven Gewinn, wohl aber eine wichtige semantische Verschiebung. Dabei werden Probleme mit der Diffusität, ja Nicht-Rationalität des Konzeptes vom fragilen Staat (Herd, 30) oder auch die unklare Bestimmung von Demokratie in Überlegungen zum "demokratischen Frieden" (Herd, 33) durchaus erkannt. Die Problematik wird eher deutlich mit dem Verweis auf die "sich nicht integrierende Lücke", die dem "funktionierenden Kern" gegenübergestellt wird, während "Saum-Staaten wie Griechenland, Mexiko, Brasilien, Indonesien und Pakistan" dazwischen liegen sollen (Herd, 26). Die damit verbundene Rede vom "roll-back" (Herd, 27) weist deutliche Parallelen zur Sprache des Kalten Krieges auf. Zugleich aber deutet sie auf die Vorstellung hin, irgendwann sei etwas in die falsche Richtung gelaufen, und diese verkehrte Weichenstellung müsse - und könne - nun korrigiert werden. Die deutlichen Anklänge an klassische Modernisierungstheorien werden verstärkt durch mehrfach wiederholte Unterstellungen, erfolgreiche Modernisierung impliziere den Anschluss an den Westen, oder aber Russland lasse es an der erforderlichen Neutralität fehlen, wo offenkundig die Gas- und Ölpipelines zur Debatte stehen, die durch Georgien führen und geeignet sind, Russlands geopolitische Machtposition zu untergraben. Eine objektive Einschätzung müsste vorab die gegenläufi gen geopolitischen Optionen ansprechen und nicht Legitimität auf der einen (westlichen), Illegitimität auf der anderen (russischen) Seite einfach unterstellen. Ähnlich problematisch erscheint auch die durchgängige Annahme, die mangelnde Kontrolle des staatlichen Territoriums etwa angesichts der abtrünnigen Regionen Georgiens (Abchasien, Süd-Ossetien) oder Moldawiens (Transnistrien) konstituiere bereits ein Element fragiler Staatlichkeit. Ungeachtet der damit verbundenen, hier immer wieder ausgebreiteten Probleme, die sich den Regierungen in Tbilisi und Chishinau stellen, ist damit schließlich weder eine zwingende Aussage darüber gemacht, ob es sich bei den abtrünnigen Regionen um die von Herd angesprochenen "ungoverned spaces" oder nicht vielmehr um Gebiete mit konkurrierender Staatlichkeit handelt. Für letzteres könnte etwa die Ausgabe russischer Pässe in Süd-Ossetien und Abchasien sprechen, die einen der Anlässe zum georgischrussischen Krieg im August 2008 darstellte. Eine distanzierte Sicht auf dieses Ereignis, die auch Fehlleistungen der georgischen Regierung unter Präsident Micheil Saakaschwili in Betracht zieht, lässt sich unter den zahlreichen Bezugnahmen allein bei Maia Chiabrishvili erkennen. An anderen Stellen wird ohne weiteres auf die Stabilität verwiesen, die westlich orientierte Tyrannen in Zentralasien garantieren - wobei nach neuesten Erfahrungen stets zu fragen ist, wie lange das wohl dauern wird.

Immerhin ein Beitrag unternimmt es, das all dem zugrundeliegende, prinzipiell an Thomas Hobbes und Max Weber orientierte Bild vom modernen Staat mit seinem Monopol legitimer Gewalt in der Hinsicht zumindest zu modifi zieren, dass deutlich wird, dass auch dieser Staat auf einer Ordnung der Gewalt beruht und nicht einfach einen friedvollen, allenfalls einen befriedeten Raum umgreift. Conrad Schetter und Rainer Glassner versuchen nicht nur, unter der Prämisse, dass "die Kontextualisierung der Situation der Schlüssel zum Verständnis jeder Sicherheitsarchitektur" sei (156), ein auf der Analyse lokaler, recht unterschiedlicher Prozesse aufbauendes Bild sehr verschiedenartiger Dynamiken der Gewalt zu zeichnen, die "feudale Kriegsherren" in Kandahar, "fragmentierte Kriegsherrenherrschaft" in Kundus und die "Herrschaft der Stämme" in Paktia voneinander unterscheiden. Für die gesamte Debatte wichtiger dürfte freilich der Hinweis sein, dass Kriegsherren sich generell in ihren grundlegenden Strategien weit weniger deutlich von Konstituierungsprozessen der als modellhaft gehandelten westlichen Staaten unterscheiden, wenn man abstrakte Theorien mit konkreten historischen Prozessen konfrontiert, wie dies Charles Tilly in seinem richtungsweisenden Aufsatz über Kriege und Staatsaufbau als organisiertes Verbrechen getan hat (157). Eine solche Perspektive lässt die einfachen Zuordnungen zwischen staatlicher Stabilität, nicht weiter bestimmter Demokratie, Marktwirtschaft und Westorientierung zutiefst fragwürdig erschienen. Sie werden freilich nicht nur in diesem Band als Konsens behandelt. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass in den Fallstudien implizit, von Collmer im Schlusskapitel explizit ethnische Konfl ikte auf "Strukturen" zurückgeführt werden, denen "Prozesse" gegenüberstehen - ein kategoriales Arrangement, das entgegen neuerer Einsichten der Essentialisierung von Ethnizität und der pauschalen Zuschreibung von Gewaltkonfl ikten eben auf reifi zierte ethnische Gegensätze Vorschub leistet. Das führt dann zu Lösungsansätzen, die vorab auf proportionale Repräsentation dieser präjudizierten Ethnizität setzen. Dementsprechend gilt auch Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations einschließlich der vorgeblichen Bruchlinien hier für bare Münze. Es ist schwer zu bestreiten, dass die unter solchen Gesichtspunkten scheinbar verfügbaren diskreten Einheiten äußerlich gesehen leichter zu verwalten sind, realistischer ist ein solcher Blick deshalb noch lange nicht - ebenso wenig wie der wiederholte Verweis auf die Brüchigkeit multiethnischer Staaten als offenbar bereits letztinstanzliche Konfl iktursache. Solange solche Thesen vertreten werden, ohne die Stabilität Indiens oder auch der USA anzusprechen, zeugen sie schlicht von Denkfaulheit. Und die kann sogar gefährlich werden, wenn es in der hier angesprochenen Weise um "Sicherheit" gehen soll. Wer freilich allein schon im Faktum der für 2009/10 angesetzten Wahlen in Moldawien und Afghanistan ein Zeichen der Hoffnung sehen will, "dass die Dinge hinterher allgemein besser werden" (Collmer, 369), wird sich wenigstens im letzteren Fall zumindest darüber Gedanken machen müssen, was es denn wirklich heißen kann, dass die Herstellung von staatlicher Funktionalität auch in dem hier bezeichneten Sinne ein "nicht-linearer Prozess" ist (Collmer, 368).
Reinhart Kößler

Quelle: Peripherie, 31. Jahrgang, 2011, Heft 121-122, S. 361-364

 

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