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Kategorie: Rezensionen

Jürgen  Hasse: Georges Perec und die Lebenswelt: Phänomenographische Mikrologien des Raumes

Georges Perec: Träume von Räumen (aus dem Französischen von Eugen Helmé). Berlin und Zürich 2013. 160 S.

Bei diaphanes erschien im September 2013 Georges Perecs Träume von Räumen neu. Dem Original (Espèces d´Espaces) aus dem Jahre 1974 (Éditions Galilée, Paris) folgte die deutsche Erstausgabe erst 1990 (Manholt Verlag, Bremen); eine Neuausgabe brachte der Fischer Taschenbuchverlag 1994 heraus. Zuletzt waren sogar antiquarische Exemplare äußerst rar und nur zu hohen Preisen zu haben. Georges Perec (1936 - 1982) gehört zu den wichtigsten Repräsentanten der französischen Nachkriegsliteratur.

Sein bekanntestes Werk Das Leben. Gebrauchsanweisung aus dem Jahre 1978 (1982 bei Zweitausendeins erschienen, 894 Seiten) beschreibt banale bis absurde Geschichten, die sich in 99 Zimmern eines Hauses abspielen. Zu dem Werk Versuch einen Platz zu erfassen aus dem Jahre 1974 (deutsch 2010) vgl. auch meine Besprechung auf raumnachrichten.de (http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1268-perec).
 
Perecs Sprachstil ist bemerkenswert, weil er gegen alle Konventionen verstößt. Er ist abgehackt, die Sätze sind meist kurz und von einer bestechenden Klarheit, wie man sie aus der Sprache der Kinder kennt. Damit kündigt sich - weit über das Formale seines Schreibens hinaus - ein Denkstil an, der sich den spielerischen Kampf gegen das Selbstverständliche und Rundlaufen lebensweltlicher Gewissheiten zur Aufgabe gemacht hat. Perecs Art zu schreiben folgt einer doppelten Spur; zunächst beschreibt er in einer akribischen Haltung des Archivars das Allerbanalste des täglichen Lebens. Dann macht er dieses in der Art wie er schreibt und was er aus seinen Mikrologien des Lebens preisgibt, dem Denken verfremdet wieder zugänglich. Diese verdeckte Programmatik liegt auch seinem nun in deutscher Sprache wieder erschienen Buch Träume von Räumen zugrunde.


Räume durchqueren
Der Titel hat mit dem Original vor allem das Sprachspiel gemeinsam. Der Inhalt entspricht indes mehr dem Originaltitel als dem der Übersetzung, geht es Perec doch weniger um Träume von Räumen als um spezifische Räume. Er beginnt sein Buch mit einer nicht zufällig unsystematischen Anhäufung von Raum-Begriffen (vgl. Abbildungen). Die Liste lässt

erwarten, dass es dem Verfasser nicht um eine Erforschung des Raum-Begriffes geht und auch nicht um eine sonstwie geartete wissenschaftliche Reflexion über Raum wie es die Geographen tun, wenn sie sich in einem Taumel wissenschaftstheoretischer Abgrenzungen, historischer Rekonstruktionen und der Ausrufung von feindlichen Lagern "falscher" Raumdenker einem gigantischen Desinfektionsprojekt widmen, dessen Ziel - im Namen der Sicherung diskursiver Routinen - die Begriffshygiene ist. Das will Perec nicht! Er durchquert mal den einen und mal den anderen Raum, mal das flache Land, die Treppe oder das Wohnzimmer und dann den Unraum eines Blattes Papier. Mit dem Raum hat das Blatt Papier nicht zu tun, weil es im Raum liegt, sondern weil fast "alles früher oder später über ein Blatt Papier, eine Notizblockseite, ein Merkbuchblatt oder irgendeinen anderen zufälligen Schriftträger [...] eingetragen wird". Was zur Notiz wird, weist stets irgendwelche Spuren zum Leben des Notierenden auf; die meisten Notizen haben zumindest biographische Nebenwurzeln. Auch Perecs Text hat biographischen Charakter. Aber er geht doch auch weiter und ist nicht nur Zeugnis persönlicher Geschichte. Was in einem individuellen Leben von Bedeutung ist, gibt in Perecs Geschichten stets eine verdeckte Spur ins Allgemeine der Zeit preis, das im Denken und Fühlen des Zeitgeistes aufscheint. So weist die von ihm zitierte "Liste für die allerdringlichsten Einkäufe" nicht nur Kaffee, Zucker, Katzenstreu, eine 75-Watt-Birne, Batterien und Wäsche auf, sondern auch ein Baudrillard-Buch. In seinem Versuch einen Platz zu erfassen tauchte in der anonymen Menge der Vorübergehenden plötzlich Paul Virilio auf. Wenn es nun Jean Baudrillard ist, der zum Nötigsten gehört, dann deshalb, weil Perec auf diese Weise zu erkennen gibt, dass er den unkonventionellen Stil der Gesellschaftskritik des 2007 verstorbenen französischen Philosophen teilt. Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, war (1968) neben einer Reihe weiterer Arbeiten von Jean Baudrillard schon erschienen, als Perec an seinem Buch arbeitete.

Definitionen bestreiten
Perec geht es nie um Räume im engeren Sinne, viel mehr um das, was "in" ihnen ist und die Menschen mit Dingen und Situationen in Räumen machen. Wenn er  sich auf fünf Seiten - bevor er zum Schlafzimmer kommt - dem Bett widmet, so lässt er keinen Zweifel an der Exotik des scheinbar so profanen Gegenstandes aufkommen: "Das Bett ist ein für die nächtliche Ruhe von nicht mehr als einer oder zwei Personen erdachtes Gerät." Diese geradezu typische "Definition" (die nur vorgibt eine zu sein) lässt erahnen, dass Perec nur scheinbar eine Phänomenologie des Raumes schreibt. Er bietet vielmehr Mikrologien vom Charakter einer Bio-Phänomenographie. Das Bett ist dafür nur ein Beispiel neben zahlreichen anderer Dingen, Zimmern, Orten und Räumen. Zum einen ist es der persönlich-subjektive Blick auf die Welt, der ihn zu diesem Schreiben motiviert. Zum anderen klingt im Aufleuchten des Biographischen stets etwas an, das eine Referenz zum Allgemeinen impliziert. Gleichwohl verallgemeinert Perec in seinen Ausführungen nie. Er macht die Dinge grün wo sie rot sind, um alles in die Schwebe zu bringen. So wird auch das Bett (beinahe erwartungsgemäß) ganz entgegen seiner "Definition" zum Fadenkreuz aller nur erdenklichen Tätigkeiten, denen man aus einem Bett heraus nachgehen kann. Das Bett wird zu einer Raumweiche, über die die verschiedensten Dinge bewegt werden: die Bürste, mit der das Fell der Katze gepflegt wird, das Telefon, das Transistorradio, die Lampe, Filzstifte, Bleistifte und Bleistiftanspitzer. Nicht genug damit, dass sich das Bett nun doch als vitaler Ort des Lebens erweist. Was man nach alledem - jenseits einer sicheren Definition und eher in einem konnotativen Sinne - für ein Bett halten könnte, muss schließlich in Gänze zweifelhaft werden. Einem ganz ähnlichen Zweck wie dem Bett dienen ja auch noch Hängematten, Strohsäcke, Feldbetten, Schlafsäcke usw.

So flüchtig in Perecs Beschreibungen wird, was die Dinge ausmacht, so beginnen auch die Räume, in denen sich die Dinge befinden, zu changieren. Perec macht aber nicht nur Dinge, Orte und Räume fragwürdig, indem er ihren konventionellen Sinn zerstreut. Er tut dasselbe mit der Sprache über den Umgang mit den Dingen sowie die Benutzung des Raumes. Die in den Sozialwissenschaften so selbstverständliche Rede von Praktiken räumlicher Aneignung büßt ihr kommunikativ sicheres Funktionieren ein, wenn Rückfragen zum Begriffs(vor)verständnis konkret werden: "Was heißt, sich einen Ort aneignen? Ab wann wird ein Ort wirklich der Ihre? Ist es der Fall, wenn man seine drei paar Socken in einer rosa Plastikschüssel eingeweicht hat? [...] Ist es der Fall, wenn man dort Angstgefühle des Wartens oder die Überschwenglichkeiten der Leidenschaft oder die Qualen rasender Zahnschmerzen erlebt hat?" Scheinbar banale Fragen entfalten eine wissenschaftstheoretische Sprengkraft, weil sich die Fatalität der Abstraktion - das Denkmilieu Wissenschaft betreibender vitaler Personen - geradezu plakativ aber ohne Anklage in ihren potentiell absurden Ergebnissen von selbst demonstriert.

Wenn Perec abermals nach langen "Definitionen" der Räume eines Wohnhauses sein eigenes Nachdenken über die Selbstverständlichkeiten als scheinbar lächerlich bezeichnet, weil Architekten "ganz genaue Vorstellungen über das haben, was eine Diele sein muß, ein Wohnzimmer (LIVING-ROOM, Empfangsraum), ein Elternschlafzimmer, ein Kinderzimmer, ein Dienstmädchenzimmer, ein NEBEN-AUSGANG, eine Küche und ein Badezimmer", so dient die Vergewisserung doch ihrem Gegenteil. Ins entstandene Vakuum entweichen schließlich seine eigenen abermals allein der Irritation dienenden Vorschläge, wie sich die Zimmer eines Hauses - entgegen ihrer üblichen funktionalen Vernetzung - auch organisieren ließen: "Es ist nicht dümmer, sich einen Raum vorzustellen, der ausschließlich dem Montag vorbehalten wäre, als Villen zu bauen, die nur sechzig Tage im Jahr genutzt werden." Die sich scheinbar ins Absurde versteigenden Vergleiche und Beispiele Perecs parodieren in der ironisierenden Überzeichnung immer wieder auf neue Art und Weise die fatale Selbstverständlichkeit tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse. Das ist seine Form der Kritik, die sich als solche nicht sogleich auch zu erkennen gibt. In allem was er aufschreibt, ist Perec Archivar. Aber er archiviert nicht des Sammelns willen. Er will das Normale auflisten, um es im Metier des Konkreten aus lebensweltlichen Gefäßen des Normalen entweichen zu lassen. Dass seine Sprache über den unmittelbaren Sinn ihrer Worte hinausschießt, versteht sich da nur von selbst. So empfiehlt er im Hinblick auf Wohnhäuser eine Reihe von Dingen, die "man hin und wieder systematisch tun sollte [...] sie betrachten; den Kopf heben und hochschauen [...] sich, im Falle eines neuen Wohnhauses, zu erinnern versuchen, was vorher dort war" - mit anderen Worten: die Wahrnehmung schärfen. Perecs Empfehlungen sind - auch wenn sie sich in noch so konkreten wie einfachsten Hinweisen zu genügen scheinen - mit methodischen Fußnoten gespickt: "Nicht usw. sagen, nicht usw. schreiben. Sich zwingen, das Thema erschöpfend zu behandeln, selbst wenn es grotesk, belanglos oder zu dumm zu sein scheint. Man hat noch nichts betrachtet, man hat nur das bemerkt, was man seit langen schon bemerkt hat." Das klingt wie eine Kritik an Anthony Giddens' geradezu genialer Idee, die theoretische Kategorie der "Nebenfolgen" menschlichen Handelns einzuführen, dient sie doch in glänzender Weise dazu, das Bemerken dessen, "was man seit langen schon bemerkt hat" zu ritualisieren und alles beim alten zu lassen.


Das Besondere und das (darin versteckte) Allgemeine
Der Alltag dient Perec nur als Brennglas eines Allgemeinen, über das er nicht theoretisiert, das er aber parodierend annotiert und damit einer zugespitzten Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse zugänglich macht: "Ein Stück Stadt entziffern, daraus Gewissheiten ableiten: Die Anzahl der Einparkversuche beschreiben, die der Fahrer eines Autos unternimmt, als er zu dem einzigen Zwecke parkt, hundert Gramm Geleefrüchte zu erstehen". Es folgt die minutiöse Auflistung von dreizehn Aktionen des Fahrers, bis er schließlich den Ort des Parkens verlassen hat. Erst die Archivierung der operativen Momente des absolut Banalen schärft die Mikrologie des Überflüssigen so weit, dass sich die Frage nach dessen systemtragender Funktion in Kultur und Ökonomie reklamiert. Perecs Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse versteckt sich im archivierenden Beschreiben.

Die Art und Weise, wie Perec selbst Dinge "definiert", dient nicht deren Definition im engeren Sinne; sie bringt vielmehr Vorbehalte gegenüber den vernichtenden Effekten des Definierens zum Ausdruck. Diese sollten viel später ein großes Thema in Jean-François Lyotards Widerstreit werden. "Nicht versuchen, allzu schnell eine Definition der Stadt zu finden; das ist viel zu groß, man hat alle Aussichten, sich zu irren." Und so empfiehlt er eine Methode der Annäherung: "Man müßte entweder darauf verzichten, von der Stadt zu sprechen, über die Stadt zu sprechen oder sich dazu zwingen, so einfach wie nur möglich darüber zu sprechen [...] Jede vorgefaßte Meinung verjagen. Aufhören in Fertigbegriffen zu denken, vergessen, was die Städteplaner und die Soziologen gesagt haben." Was er an "der" Stadt nur mit Fragen und unsicherem Suchen umkreist, lässt er an "seiner" Stadt konkret werden. Aber dies ist nicht "die" (allgemeine) Stadt, sondern seine persönliche Stadt. Indes löst sich auch diese - gleichsam zwangsläufig - ins Geheimnis wieder auf: "Ich liebe meine Stadt, aber ich vermöchte nicht genau zu sagen, was ich an ihr liebe." Zum einen gibt es die Dinge wie sie sind (die Straßen, "die besonderen Eigenschaften der Viertel", die Kneipe, die Grünanlage), zum anderen gibt es all dies aber auch nur in der Weise, in der es individuell gelebt wird - wie die Kneipe, in der er "sechs Stunden hintereinander am Flipper gespielt" hat.

Die Orte sind, was wir aus ihnen machen. Aber das ist nur eine Hälfte der Geschichte, die Perec in endlosen Variationen erzählt. Denn die Verhältnisse, in denen wir die Dinge nach Gewohnheiten bewegen, machen auch etwas mit uns, das auf unser Verhältnis zu den Dingen zurückwirkt. So ist Perec "in Städten geboren", weshalb er über das flache Land nicht viel zu sagen habe, mehr noch, ihm "alles einigermaßen gleichgültig" sei. Wenn er sodann eine akribische "Dorfutopie" umreißt konterkariert er sich selbst, um die Herkunft der Wünsche, Vorstellungen und Begriffe zu verwirren. Wenn er nicht in dieser oder jener Stadt, sondern in Städten geboren ist, geht es nicht um seine Heimatstadt, sondern um das Allgemeine städtischer Lebensformen und die in ihnen virulenten Vorstellungen über das Leben auf dem flachen Land, die Dinge und die Welt. Als "heimlicher Soziologe" ragt Perec nie aus seinem Schreiben hervor. Er verdeckt sich mit seinen Gedanken, um in einem Spiel mit dem Verborgenen das Allgemeine seiner Kritik zugänglich zu machen. Er erzählt Geschichten, die in ihren Mikrologien überlaufen, um auf einem metatheoretischen Niveau etwas zu bedeuten, das sich im Konkreten nur beispielhaft ausdrückt.

Quelle: geographische revue, 15. Jahrgang, 2013, Heft 1, S. 55-61

 

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