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Kategorie: Rezensionen

Steffi Richter, Lisette Gebhardt (Hg.): Japan nach "Fukushima". Ein System in der Krise. Leipzig (Leipziger Ostasien-Studien, Bd. 15) 2012. 218 S. 

Das "Große Erdbeben von Ostjapan 2011" und seine Folgen, die Tsunami- und Atomkraftwerkskatastrophe, gelten als Zäsur in der modernen japanischen Geschichte. Besondere Aufmerksamkeit erregte die AKW-Katastrophe "Fukushima". Seine mediale Repräsentation brachte sehr unterschiedliche Deutungsversuche zur Benennung, Darstellung und Gewichtung dieses erschütternden Ereignisses hervor. Der vorliegende Band enthält vier anregende Beiträge zur japanischen Rezeption dieser Katastrophe vor und nach dem 11. Marz 2011: aus der Sicht der politischen Ökonomie sowie der Gesellschafts-, Medien- und Literaturwissenschaften.

Der besondere Wert dieser Studien liegt darin, dass auf der Grundlage vorwiegend japanischer Quellen wenig beachtete kritische Wortmeldungen und Akteure aus Japan präsentiert, von den Autoren reflektiert und über Japan hinaus öffentlich gemacht werden. Bereits lange vor "Fukushima" fragte der Nestor der japanischen Anti-AKW-Bewegung, TAKAGI Jinzaburo (1938-2000), warum wiederholte AKW-Störfälle in Japan nicht dazu führen, dass Verantwortlichkeiten aufgedeckt und Fehler korrigiert werden. Die Antwort fand er in unhinterfragten Verhaltensmustern der Mehrheit der japanischen Gesellschaft. Es mangele an offener Diskussion, Kritik und Verantwortung. Stattdessen herrschten das Dogma einer zwangsbasierten Schicksalsgemeinschaft, Obrigkeitsglaube und Nationalismus. Es fehle der Wille zur kritischen Selbstreflektion.

In einem aufschlussreichen Beitrag zur politischen Ökonomie der nuklearen Katastrophe geht Enno Berndt der Frage nach, warum Interessen an atomarer Stromproduktion in Japan entstanden und ihre Vertreter dermaßen mächtig geworden sind, und mit welchen Widersprüchen eine AKW-zentrierten Stromwirtschaft in Japan konfrontiert ist. Dezidiert wird nachgewiesen, dass die vermeintlich billige Kernkraft auf der Grundlage eines Plutoniumkreislaufs nicht nur gefährlich und risikoreich, sondern auch ausgesprochen teuer ist. Drei Szenarien des zukünftigen Umgangs der japanischen Gesellschaft mit der "nuklearen Erdbebenkatastrophe" (genpatsu shinsai) seien denkbar und wurden sich mit einander vermischen: 1. eine undiskutierte und ungeahndete Fortsetzung des "staatsmonopolistischen Nuklearkomplexes" und der Manipulation der japanischen Gesellschaft - bis es zur nächsten nuklearen Katastrophe kommt; 2. eine politische Wende, die "lokal und von unten initiiert" (durch Anti-AKW-Bewegungen und Organisation in offenen Netzwerken) und "national und von oben nachvollzogen" wird; 3. eine Marktbereinigung, durch die sich die Liberalisierung des japanischen Strommarktes nicht mehr verhindern lässt: Subventionierung und Sozialisierung der Kosten atomarer Stromerzeugung gehen zurück, AKW-zentrierte Unternehmen sind dann nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Logik eines AKW-Ausstiegs in Japan (vgl. die gut nachvollziehbare Abb. S. 74) wurde wirklichkeitsnah, wenn der Staat und die Stromkonzerne von den Bürgern Druck bekamen.

Dieser Blickpunkt und somit Szenario 2 gerät in den Fokus der drei folgenden Beiträge, in denen Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten und sonstige engagierte Bürger "Fukushima" auch als Krise des "Systems Japan" begreifen und einen "Zivilisationsdiskurs" fordern. Stichworte: "Naturkatastrophe" versus "menschengemachte Katastrophe", "Aufklärung" versus "Diskriminierung", "konsumfixierte Lebensstile" versus "nachhaltige Entwicklung", "Atomsyndikat" versus "atomfreie Gesellschaft". Steffi Richter zielt in ihrem "Post-Fukushima-Diskurs" auf die mediale Verhandlung der atomaren Krise, in der Fukushima hinsichtlich der Informationspolitik mit Tschernobyl (1986) vergleichbar ist und in Anlehnung an Robert Jungk ("Der Atomstaat" 1991) in einen  globalkapitalistischen Zusammenhang gestellt wird. Dazu gehört das Problem der Leiharbeiter ("Atom-Nomaden"), über deren Arbeit unter Zwangscharakter und Strahlenbelastung man nichts erfahre. Deshalb sei der Kamikaze-Heldenmythos, den man den Liquidatoren andichte, gründlich zu  dekonstruieren. Die Stärkung der Anti-AKW-Bewegung durch alternative, unabhängige Internetmedien und neue digitale Medien (Twitter, Facebook, Blogs, Video-Streaming), mit denen sie sich eindrucksvoll Gehör in der Öffentlichkeit verschafft hat, thematisiert Nicola Liscutin. Der fundamentale Vertrauensverlust in die japanischen Massenmedien als zuverlässige Träger und Vermittler von Informationen insbesondere in Krisensituationen habe seit "Fukushima" zu einem entscheidenden Strukturwandel in der Massenkommunikation geführt: vom monopolisierenden, AKW-gefälligen Nachrichtenportal der herkömmlichen Mainstream-Medien hin zu einer breiten Informationsplattform der "Massen-Selbst-Kommunikation", z.B. durch "live-sendende Bürger" (chukei shimin) als wesentliche Kraft basisdemokratischer Kommunikations- und Vernetzungsstrategien. Zur Theoriebildung, die der extrem rasanten Entwicklung hinterherhinkt, wird auf die für 2012 angekundigte neue Publikation des Mediensoziologen Manuel Castells verwiesen: "Networks of outrage and hope: Social movements in the internet age". Positionen in der japanischen Literatur nach "Fukushima" analysiert Lisette Gebhardt in vier essayistischen Beiträgen bekannter japanischer Autoren. Diesen geht es vor allem um eine Bilanzierung der japanischen Nachkriegsgeschichte im Zeichen des "Systems" Japan, um die Defizite der japanischen Demokratie und die Möglichkeiten einer neuen kritischen Öffentlichkeit im Lande. Der japanische Bürger solle sich emanzipieren und seine Autonomie entdecken. Dies setze allerdings voraus, dass er selbst Verantwortung trägt und sich von bequemen Mechanismen der Konsumgesellschaft verabschiedet. Alles in allem ein sehr lesenswerter Band auch fur diejenigen, die weniger an Japan als an einem höchst aktuellen Thema interessiert sind, mit spannenden Diskursen zur Emanzipation von der Kernenergie, die offen lassen, wie weit Wünsche auch Wirklichkeit werden.
Winfried Flüchter, Duisburg-Essen

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 56 (2012) Heft 3, S. 207-208

 

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