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Kategorie: Rezensionen

Till Winkelmann: Handeln im Zeichen von HIV, AIDS: Untersuchungen zu gesellschaftlicher Transformation im ländlichen Raum Malawis. Berlin (Entwicklungsforschung 8) 2010. 270 S.

Die HIV/AIDS Pandemie im subsaharischen Afrika durchdringt und verändert die Gesellschaften vor Ort tiefgreifend. Dennoch wird dieser Themenkomplex in der deutschsprachigen Geographie bisher nur unzureichend beleuchtet. Gesellschaftlicher Wandel in Entwicklungsländern hingegen ist ein zentrales Beschäftigungsfeld, v. a. der geographischen Entwicklungsforschung.

Diese gesellschaftlichen Veränderungen werden vor dem Hintergrund verschiedenster Kontexte betrachtet: Klimawandel, Globalisierung, Modernisierung oder, wie in diesem Buch, Demokratisierung. Der empirische Fokus von Arbeiten der geographischen Entwicklungsforschung liegt dabei häufig auf der lokalen Haushalts- und/oder Akteursebene. Die publizierte Diplomarbeit von Till Winkelmann schließt sich dieser Fokussierung an, indem sie auf einer lokalen Ebene, problemorientiert und gesellschaftstheoretisch eingebettet, gesellschaftlich relevante Themen betrachtet. Sie trägt damit zu einem besseren Verständnis von gesellschaftlichen Transformationsprozessen im Kontext von Demokratisierung und HIV/AIDS im ländlichen Malawi bei. Die Plattform, die A. Dittmann, W. Gieler und A.P. Escoval in Form der "Beiträge zu interdisziplinären Studien in Ländern des Südens“ bieten, dient dazu, Arbeiten junger Wissenschaftler zu fördern und einen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis zu stimulieren.

"Wie verändert sich das Handeln lokaler Akteure – und damit ihre gesellschaftlichen Strukturen – im Kontext des Zusammenwirkens von Demokratisierungsprozessen und HIV/AIDS?“ (S. 21). So lautet die von Till Winkelmann aufgestellte übergreifende Fragestellung. Ziel seiner Arbeit ist es, das Handeln und die gesellschaftliche Struktur in zwei malawischen Dörfern zu erfassen und zu verstehen. Die Kombination aus Demokratisierungsprozessen und HIV/AIDS stellt ein sowohl innovatives als auch ambitioniertes Forschungsvorhaben dar, zu dem bisher nur wenig geforscht wurde. Zu Beginn der Arbeit gibt Winkelmann eine Übersicht über die unterschiedlichen konzeptionellen und theoretischen Ansätze, sowohl der Geographie als auch anderer Disziplinen, die zur Bearbeitung der oben genannten Fragestellung relevant sind (Kapitel 2). Diese umfassen u. a. Handlungstheorien, Vulnerabilitätskonzepte, Risiko- und Gesundheitsperzeptionsansätze, Transformationstheorien und Globalisierungsansätze. An einigen Stellen werden Querverbindungen zwischen den unterschiedlichen konzeptionellen und theoretischen Ansätzen dargestellt. Dem Autor gelingt es jedoch nicht ganz überzeugend, die einzelnen Ansätze theoriebezogen miteinander in Bezug zu setzen. Als zentrales zusammenfassendes Moment, um die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Konzepte und Theorien zu vereinen, dient die Strukturationstheorie nach Giddens. Dies erscheint im Hinblick auf die Forschungsfragen nachvollziehbar, leider werden diese zentralen Zusammenhänge nur knapp und an einigen Stellen relativ unkritisch dargestellt. Beispielsweise bleibt unklar, warum Handeln in Phasen gesellschaftlicher Transformation plötzlich anstatt von praktischem Bewusstsein nun von diskursivem Bewusstsein gelenkt wird.

Die Stärken dieser Arbeit liegen in der Methodik und der Empirie (Kapitel 4 und 5). Die malawischen Dörfer Chambwe und Kamkundi dienen als Fallbeispiele. Diese werden der Chewakultur zugeordnet. Chambwe mit ca. 800 Einwohnern und Kamkundi mit ca. 300 Einwohnern weisen im regionalen Durchschnitt eine besonders hohe HIV-Prävalenzrate auf. In ersterem Dorf wurden bereits um das Jahr 2000 mit Hilfsleistungen wie Schulbau und Ausbildung von AIDS-Beratern seitens der GTZ begonnen. Zusätzlich dient Chambwe als Modelldorf für Aktivitäten des Gesundheitsministeriums.

Der Autor betrachtet insbesondere, wie sich Werte und Normen wie Respekt und Gehorsam gegenüber Älteren sowie Kommunikationsstrukturen innerhalb der Dörfer verändern. Für die Chewa stellen Respekt und Gehorsam eine wichtige Bedeutung dar. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie sich solche Werte während der relativ jungen demokratischen Transitionsphase (Mehrparteiendemokratie seit 1994) verändern. Der Autor konnte herausarbeiten, dass sich teilweise ein Wandel von Werten feststellen lässt, welcher "im Wesentlichen auf den erweiterten Handlungsmöglichkeiten [beruht], die sich seit dem Ende des repressiven Systems unter Banda und mit der Verbreitung der demokratischen Ideale von Meinungs- und Handlungsfreiheit entwickelt haben“ (S. 148). Im Widerspruch dazu stehen die Ergebnisse, dass sich zum Beispiel die tradierten geschlechterspezifischen Rollenzuweisungen sowie grundlegende Kommunikationsstrukturen nicht verändert haben. Frauen tragen weiterhin einen größeren Teil der Arbeitslast im Alltag und Männer fällen die meisten wichtigen ökonomischen wie auch familiären Entscheidungen. Weiterhin werden Informationen und Ratschläge entlang des alterspezifischen Gradienten vermittelt, also von den Älteren zu den Jüngeren. Im Kontext von HIV/AIDS werden Informationen von den Ältesten jedoch nicht notwendigerweise angenommen, da anderen Informationsquellen, wie Radio oder Krankenhäusern eine größere Wissenskompetenz im Kontext dieser Krankheit zugesprochen wird. Dies liegt u. a. daran, dass HIV/AIDS vermehrt als biomedizinische Krankheit verstanden und wahrgenommen wird. Winkelmann arbeitet in den Fallbeispielen eine in der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung verbreitete Dreiteilung des HIV/AIDS Diskurses heraus: HIV/AIDS als biomedizinischer Diskurs, als indigener Diskurs und als religiöser Diskurs. Im zeitlichen Verlauf konnte für Chambwe dargestellt werden, wie sich diese zum Teil überlappenden Diskurse verändern. Etwa seit der Jahrtausendwende setzte sich die Erkenntnis von HIV/AIDS als Infektionskrankheit mehrheitlich durch. Erst dadurch, so die Argumentation des Autors, ist eine Anpassung des Handelns der Menschen im Kontext der Krankheit möglich. Mit dieser Differenzierung zwischen den Krankheitsdiskursen wird über die Akteursebene hinaus auch auf die gesamtgesellschaftliche Kommunikation und Wahrnehmung von HIV/AIDS geschaut.

Ein Beispiel für die originelle und anschauliche Vorgehensweise ist die Analyse von Beerdigungsansprachen von an HIV/AIDS verstorbenen Personen. Diese dienen als Symbol für "die Anpassung indigener Bräuche an rezente und moderne Ansprüche“ (S. 193) und zeigen auf, wie lokale Autoritäten öffentlich mit der Krankheit umgehen. Die Chiefs stehen vor dem Zwiespalt, auf der einen Seite HIV/AIDS aus Respekt vor dem Verstorbenen an Beerdigungen nicht anzusprechen, und auf der anderen Seite dieses gesellschaftliche Ereignis zu nutzen, um einen offeneren Umgang mit der Krankheit zu fördern. An diesem Beispiel konnte der Autor sehr gut die Widersprüche und Schwierigkeiten zwischen der Wahrung von lokalen Normen und Werten (hier der Respekt gegenüber Toten) und dem veränderten Umgang mit HIV/AIDS aufzeigen. Die Widersprüche und Ambiguitäten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen werden aufgedeckt. Daran zeigt sich, wie gesellschaftlicher Wandel in den Untersuchungsgebieten zu sozialen Spannungen führt und wie diese Spannungen dann diskursiv ausgehandelt werden und sich dadurch auf das Handeln vor Ort auswirken.

Eine fundierte und umfangreiche Methodik wird angewendet: qualitative Erhebungsmethoden wie teilnehmende Beobachtung, Sekundärquellenanalyse bis hin zu einer großen Bandbreite an PRA-Methoden werden ergänzt durch quantitative Erhebungen und Auswertungen. Die Vielfalt begründet sich durch den thematischen Umfang der zu behandelnden Fragestellungen.

Till Winkelmann behandelt in seiner Arbeit möglichst umfassend unterschiedlichste Problemkomplexe: allgemeine gesellschaftliche Ordnung der Chewa, demokratische Transformationsprozesse, geschlechter- und altersspezifische Rollenzuweisungen, Kommunikationssysteme, Systeme sozialer Sicherung, soziale Konstruktion von HIV/AIDS, sowie das Wirken externer Organisation. Dem Autor gelingt es, ein Gesamtbild der gesellschaftlichen Transformation und Persistenz in den Untersuchungsdörfern zu zeichnen. Trotz des Umfangs und der Komplexität der behandelten Themen werden die Fragestellungen größtenteils auch in einer angemessenen inhaltlichen Tiefe betrachtet. Die Fallstudie leistet einen wichtigen Beitrag für die sozialwissenschaftlich, geographisch orientierte HIV/AIDS Forschung im Entwicklungskontext.
Fabian Schlatter, Erlangen-Nürnberg

Geographische Zeitschrift, 100. Jg. 2012, Heft 3, S. 186-187

 

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