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Kategorie: Rezensionen

Renate Ruhne: Raum Macht Geschlecht – Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum. 2. Auflage, Springer VS, Wiesbaden, 238 pp., ISBN-13: 978-3-531-18037-3, € 29.95, 2011.

Renate Ruhne: Raum Macht Gesellschaft

Nach dem Fall des sogenannten Eisernen Vorhangs zu Beginn der 1990er Jahre hatten sich in westeuropäischen Staaten nicht nur die Migrationsströme aus den osteuropäischen Ländern erhöht – auch einige Kriminalitätsziffern waren in die Höhe geschnellt. Die hohe Durchmischung der Städte im Westen Europas mit „Fremden“ gab den Impuls, das Thema Sicherheit ganz oben auf die Agenda zu setzen. Den Höhepunkt erreichte die Fokussierung auf die Sicherheitsthematik im Jahr 2001 nach dem Terroranschlag in New York am 11. September. Zu dieser Zeit – von 1998 bis 2003 – hatte sich Renate Ruhne mit dem Sicherheitsempfinden von Frauen und Männern im öffentlichen Raum auseinandergesetzt; die Tiefenschärfe der veröffentlichten Ergebnisse weist weit über die damalige, zeitspezifische Sicherheitsdebatte hinaus. Es ist folgerichtig, dass die Publikation von 2003 im Jahr 2011 in einer zweiten Auflage erschienen ist; denn sie leistet einerseits einen grundsätzlichen Erklärungsbeitrag zur (Un-)Sicherheitswahrnehmung im öffentlichen Raum und andererseits präsentiert sie ein neues forschungsmethodologisches Instrumentarium zur Analyse räumlich-geschlechtlicher Fragestellungen.

 

Die Daten des European Social Survey von 2003 unterstreichen, dass in der damaligen Zeit abends nach Einbruch der Dunkelheit eine relativ hohe Kriminalitätsfurcht herrschte. In der nächsten Erhebungsrunde 2008/2009 war die Furchtquote zwar gesunken, aber ein Merkmal blieb konstant: Signifikant mehr Frauen als Männer fühlen sich weiterhin nach Dunkelheitseinbruch im Außenraum unsicher. Diese Unsicherheiten von Frauen im öffentlichen Raum lassen sich empirisch nicht erklären. Im Gegenteil: Die Kriminalstatistik zeigt, dass Frauen eher im privaten Raum gefährdet sind (Gewalterfahrungen). Durch das nähere Hinschauen deckt Renate Ruhne somit einen paradoxen Zusammenhang auf: Frauen unterliegen im öffentlichen Raum einem weit geringeren Risiko, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, als Männer, aber sie projizieren ihre Kriminalitätsangst vor allem auf den öffentlichen Raum.

Die Autorin wirft vor diesem Hintergrund die Forschungsfrage auf, was Frauen im öffentlichen Raum unsicher macht und was Männer sicher? Sie schließt an die Diskurse über „Angsträume“ an, die in den 80er Jahren einsetzten, und die zu Maßnahmen wie das Frauennachttaxi, Frauenparkplätze und die Umgestaltung von öffentlichen Plätzen nach Kriterien der feministischen Stadtplanung führten, um die Sicherheit (bzw. das Sicherheitsgefühl) von Frauen im öffentlichen Raum zu erhöhen. Renate Ruhne steht dieser technokratisch fundierten Symptombekämpfung kritisch gegenüber. Stattdessen rückt sie das Thema Sicherheit als „gesellschaftliche Konstruktion“ im Rahmen eines dreifachen Perspektivwechsels in den Blickpunkt: (i) Sie wendet sich erstens von Handlungsansätzen im materiellen Raum ab (wie zum Beispiel Veränderung der Beleuchtung, Beschneiden von Hecken, Umbau von Haltestellen) und entfaltet einen gesellschaftlichen Raumbegriff (auf der Grundlage der relationalen Raumsoziologie). (ii) Sie bewertet zweitens das Thema Unsicherheit nicht mehr als ein Problem von Frauen, sondern als ein Phänomen des Geschlechterverhältnisses. (iii) Und sie gibt drittens den Gewaltbezug auf und stellt (Un-)Sicherheitsgefühle stattdessen in den Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Über diesen Perspektivwechsel findet die Autorin einen viablen Weg zu einem überzeugenden Analyserahmen, mit dem das Wirkungsgefüge zwischen Raum und Geschlecht mehrdimensional und prozessual transparent gemacht wird. (Un-)Sicherheit wird dabei als „eine Machtproblematik aufgefasst, die durch ein dynamisches, wechselseitiges Konstruktions- und Konstitutionsgefüge zwischen ‚Raum‘ und ‚Geschlecht‘ bestimmt ist und die umgekehrt aber auch bestimmend auf ein solches Gefüge und damit auf die Kategorien Raum und Geschlecht zurückwirkt“ (S. 173).

Im ersten Perspektivwechsel distanziert sich Renate Ruhne von der absolutistischen Vorstellung eines Containerraums; denn dabei wird der Raum auf ein materielles Substrat und Territorium – d.h. auf eine physikalischgeographische Größe – reduziert. Sie präferiert stattdessen das Modell einer gesellschaftstheoretischen, relationalen (Neu-)Konzeptualisierung des Raumes im Rahmen von Konstruktionsleistungen, bei denen soziale Handlungen und Raumstrukturen miteinander verknüpft werden. Die Autorin betont, dass Räume nie natürlich vorgegeben sind, sondern immer aktiv durch Syntheseleistungen (re-)produziert werden. Für die weiteren Analyseschritte des Perspektivwechsels wird das „dynamische Analysemodell für Raum“ von Gabriele Sturm aus dem Jahr 2000 operationalisiert. Die vier Komponenten dieses neuen forschungsmethodologischen Instrumentariums beziehen sich auf: (1) die materiellphysische Gestalt des Raumes; (2) die „strukturierende Regulation“ im Raum (S. 85); (3) die raumkonstituierenden Interaktions- und Handlungsstrukturen und (4) und die „symbolisch-kulturelle Ordnung“ im Raum (S. 145). In der ersten Dimension klärt die Autorin auf, wieso das materiellphysische Substrat des öffentlichen Raumes so eng mit einer vermeintlichen erhöhten Sicherheitsgefahr von Frauen verknüpft wird. In der zweiten Dimension richtet sie das Interesse aufWertorientierungen und Normen, die an der Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit beteiligt sind. In der dritten Dimension rückt die Wechselwirkung zwischen handelnden Menschen im Raum als konstituierend für die Geschlechtskonstruktion in den Blickpunkt. Und in der vierten Dimension arbeitet sie heraus, dass Raum und Geschlecht auch auf symbolischen Ebenen – beispielsweise durch sprachliche Anordnungen – konstruiert werden. Der Faktor „Macht“ verbindet die vier Dimension als „roter Faden“; ihm schreibt Renate Ruhne eine große Bedeutung zu: Die Raumordnung und auch die Geschlechterordnung werden als „machtvolle gesellschaftliche (An-) bzw. (Zu-)Ordnungen“ interpretiert (S. 157), in deren Herstellung und Stabilisierung die Frauen selbst aktiv involviert sind.

Auf den prozesssoziologischen Pfaden von Norbert Elias klärt Renate Ruhne das diagnostizierte Paradox auf, nach dem Frauen im öffentlichen Raum zwar weit weniger Risiken ausgesetzt sind als im privaten den Raum, aber vor allem im öffentlichen Raum Unsicherheitsgefühle entwickeln. Sie schaut dazu auf eine längerfristige, mehrere Generationen übergreifende Entwicklung zurück: Im 18. und 19. Jahrhundert fand eine „Aufladung des öffentlichen Raumes als ein vor allem für Frauen besonders unsicherer und vermeintlich gefährlicher Raum“ statt, in deren Kontext sich auch die bürgerliche Geschlechterordnung etablierte, nach der Frauen im privaten Haus zu bleiben haben und Männern der außerhäusliche öffentliche Raum zugewiesen wird (S. 12). Die Synthese nimmt ihren Anfang bei den Verstädterungstendenzen im 18. und 19. Jahrhundert: Das starke Wachstum führte zu einer zunehmenden Anonymität und Unübersichtlichkeit des städtischen Raums. Und technische Innovationen wie die Beleuchtung des Stadtraums durch Gaslaternen belebten die Städte auch in den Abend- und Nachtstunden. Auf das in die Städte einwandernde Proletariat und neue nächtliche Verhaltensroutinen – wie zum Beispiel das Aufkommen der Prostitution – reagierte das Bürgertum mit Distinktionsstrategien, um die Zuwanderer und ihre als unzivilisiert geltenden Verhaltensmuster auf Abstand zu halten. In dem Spannungsverhältnis veränderten sich die städtischen Beziehungsstrukturen tiefgreifend; denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwanden die Frauen des Bürgertums aus dem Straßenbild. Mit den neuen Verhaltensweisen des Großstadtlebens sei die Sittlichkeit nicht mehr gewährleistet, so die Argumentationsfigur des Bürgertums. In der Folge wurde den „anständigen Frauen“ die Zugänglichkeit zum öffentlichen Raum in Form von Ausgehverboten verwehrt. Dieser Prozess bildete den historischen Hintergrund für die Herausbildung der heute weit verbreiteten Trennung von öffentlichen und privaten Räumen; im Kern impliziert die Entwicklung die Gegenüberstellung von aggressivem öffentlichen Leben und friedlichem heimischen Herd. Der neue Kontrast von Öffentlichkeit und Privatheit markiert die Schnittstelle zwischen Raum und Geschlecht, weil an dieser Achse eine geschlechtsspezifische Zuordnung des Mannes zum Überlebenskampf in der Außenwelt und der Frau in das Private des familiären Häuslichen – also eine räumliche Geschlechterkonstruktion – stattfindet. Das Geschlecht wird dabei nicht nur gesellschaftlich gemacht, sondern erzeugt als strukturierende Größe auch selbst diese gesellschaftlichen Strukturen.

Die Autorin Renate Ruhne resümiert, dass die soziale Herstellung der im 19. Jahrhundert feststellbaren Ausgrenzung von Frauen aus dem Stadtraum ein wesentliches Charakteristikum sowohl der „dichotomen Trennung von öffentlichen und privaten Räumen“ als auch der „Zwei-Geschlechter-(Neu)Ordnung“ darstellt (S. 186). Das Meiden der unteren Schichten wurde als Distinktionsmittel für Frauen quasi „verfeinert“ um ihre „körperliche Unversehrtheit“ vor allem aber die „‚Unversehrtheit‘ ihres ‚guten Rufes‘“ zu wahren (S. 187). Mit der Durchsetzung von Ausgehverboten wurde die neue Geschlechterordnung konstruiert, die das sprichwörtliche schwache Geschlecht der Frauen und das starke Geschlecht der Männer konstituierte und jeweils dem privaten und dem öffentlichen Raum zuordnete. Renate Ruhne formuliert dazu: „In der Umsetzung der Anstandsgebote (. . .) erlebten Frauen sich dem idealtypischen Ordnungsmuster entsprechend als ‚schwach‘ in einem grundsätzlich als ‚feindlich‘ wahrgenommenen öffentlichen Raum, während Männer als grundsätzlich ‚starkes Geschlecht‘ den Gefahren des öffentlichen Raumes trotzen konnten und mussten“ (S. 196). Insofern waren schwerpunktmäßig die normativen Regulationen daran beteiligt, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert die Kategorien Raum und Geschlecht herausbildeten und in den Ausprägungen von öffentlichen und privaten Räumen sowie Männlichkeit und Weiblichkeit untereinander verknüpft waren.

Der betrachtete längerfristige, ungeplante Prozess hat das Konstrukt des für Frauen bedrohlichen öffentlichen Raumes bzw. ihre Charakterisierung als im öffentlichen Raum besonders gefährdete Gruppe hervorgebracht. Die geschlechtsspezifisch unterschiedenen (un-)sicheren öffentlichen und privaten Räume stellen aber nicht nur ein historisch generiertes Konstrukt dar, sondern werden in der Gestalt „objektivierter Artefakte“ zu einem „wirkmächtigen Moment des Sozialen“ (S. 193) über die Zeitläufte hinaus. So wirkt diese Konstruktion noch in der Gegenwart nach, wenn etwa die Polizei rät, Frauen sollten abends nicht allein durch Parks spazieren gehen. Tief verwurzelt ist sie auch in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, wenn in den Familien immer noch eine spezifische weibliche Bewegungskultur der Häuslichkeit und die risikobereite Eroberung des öffentlichen Raumes als männliches Grundmuster vermittelt werden. Renate Ruhne verweist dazu auf Forschungsergebnisse, nach denen Mädchen in der Folge sehr viel weniger als Jungen lernen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen und zu orientieren. Sie lernen nicht, selbstbewusst mit potenziellen Gefahren umzugehen, und reproduzieren das Muster des Unsicherheitsgefühls. Die durch (Un-)Sicherheiten induzierte Vermeidung, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, verstärkt somit das Frauenbild der Schwäche und projiziert es über die Sozialisation Generationen übergreifend in die Zukunft.

Die Publikation von Renate Ruhne trägt dazu bei, dass insbesondere disziplinäre Blicke der Geographie und der Raumwissenschaften neu justiert werden können. In der Rezeption wird transparent, wie Machtstrukturen über die geschlechtlich-räumlichen Handlungsweisen inkorporiert werden und „als objektivierte körperliche Gegebenheiten stabilisierend auf Prozesse der Konstruktion und Konstitution von Raum und Geschlecht rückwirken“ (S. 201).

Der Autorin ist es überzeugend gelungen, die geschlechtsspezifischen Unsicherheiten im öffentlichen Raum als soziale Konstruktionen zu identifizieren. Und sie macht die Rückwirkung transparent, wie dabei die Geschlechter- und Raumverhältnisse (re-)produziert werden.

Herbert Schubert, Köln


Quelle: Geogr. Helv., 68, 283–285, 2013

www.geogr-helv.net/68/283/2013/
doi:10.5194/gh-68-283-2013
© Author(s) 2013. CC Attribution 3.0 License.

Herbert Schubert: Fachhochschule Köln – Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, SRM Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkt „Sozial | Raum | Management“, Gustav-Heinemann-Ufer 54, 50968 Köln, Germany Correspondence to: H. Schubert (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

 

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