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Kategorie: Rezensionen

Elisabeth Tuider, Hanns Wienold u Torsten Bewernitz (Hg.): Dollares und Träume. Migration, Arbeit und Geschlecht in Mexiko im 21. Jahrhundert. Münster 2009. 517 S.

Das Buch bietet einen Überblick, der sich umfassend mit dem komplexen Spannungsfeld Migration – Arbeit – Gesellschaft befasst und dabei auch die Dichotomie Entwicklung/Unterentwicklung aufgreift. Es ist Ergebnis einer 2008 vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst geförderten Studienreise von Studierenden aus Hildesheim und Münster unter der Leitung von Elisabeth Tuider und Hanns Wienold. Neben den TeilnehmerInnen sind im Band viele AutorInnen aus Mexiko vertreten. Bei dieser Vielfalt ist es unvermeidlich, dass bestimmte Themenbereiche mehrfach behandelt werden. Dabei können auch unterschiedliche und z.T. widersprüchliche Meinungen und Konzepte zu Wort kommen. Gerade so werden die LeserInnen in die Lage versetzt, sich unter Abwägung der unterschiedlichen Standpunkte selber eine Meinung zu bilden.

 

Das Buch stellt die USA und Mexiko – und damit das wirtschaftliche und politische Zentrum der Gegenwart und ein Land der Peripherie – einander gegenüber. Die beiden Länder teilen eine 3.000 km lange Grenze. Dadurch ist im Unterschied zu Ländern ohne gemeinsame Grenze eine Regulierung der Migration kaum möglich. Es sind überwiegend Gering-Qualifizierte, die versuchen, aus Mexiko in die USA zu kommen. Diesem spezifischen Aspekt der Migration schenkt die Publikation große Aufmerksamkeit.

Der Band versammelt in den fünf Abschnitten „Migration und Subalternität“, „Grenzräume, undokumentierte Migration und Gewalt“, „Frauenarbeit, Migration und gewerkschaftliche Organisierung in der Maquiladora-Industrie“, „Feminisierung der Migration, Autonomie und Empowerment“ sowie „Diversifizierung der Migration“ 22 Beiträge: theoretische Essays, Übersichtsartikel, Analysen, Erfahrungsberichte und sogar eine Bilderserie, die die Aussagen untermauert.
 
Den eher theoretisch-analytisch orientierten ersten Teil eröffnet Juan Manuel Sandoval Palacios mit seinem Artikel „Arbeitsmigration, Freihandel und Grenzsicherheit in Nordamerika“. Er stellt die Auswirkungen der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA auf die Migrationsbewegungen von Mexiko in die USA dar. Danach ist die zunehmende Arbeitsmigration vom Süden in den Norden Folge der transnationalisierten Produktionsprozesse und der wirtschaftlichen Integration der Region. Gleichzeitig verschärfen die USA Grenzkontrollen und Strafen für undokumentierte Migranten sowie den Druck auf Mexiko, um ihre Südgrenze abzuschotten. Denn im vorherrschenden ökonomischen Modell soll Mexiko – wie auch andere Länder der Peripherie – vor allem preisgünstige Rohstoffe und qualifizierte Arbeitskräfte liefern. Dieses Thema vertiefen Ana María Aragonés und Uberto Salgado mit ihrem Beitrag „Segmentierte Arbeitsmärkte und Migration: die USA und Mexiko“. Sie zeigen, wie die USA versuchen, die Immigration entsprechend des Arbeitsmarktes zu regeln. Dabei werden die schlecht bezahlten Jobs vorwiegend an gering qualifizierte Latinos/Latinas – und hier oft an undokumentierte MigrantInnen – vergeben. Auf der anderen Seite der Grenze gibt es trotz wachsender Industrialisierung durch die Maquiladoras kaum einen steigenden Bedarf an hoch qualifiziertem Personal, wie Gian Carlo Delgado im Artikel „Maquila-Industrie, technologische Abhängigkeit und die Migration qualifizierter Arbeitskräfte“ herausarbeitet. Trotz großer Direktinvestitionen wird die Struktur der Produktionsprozesse nicht verändert: Ein Technologietransfer findet nicht statt, signifikante Anteile der Hochqualifizierten finden keine Beschäftigung und sind gezwungen, in die USA zu migrieren.

Mit einer Analyse der Städte El Paso und Ciudad Juárez unter der Überschrift „Die Grenze zwischen USA und Mexiko im Lichte ihrer Demographie“ beginnt der zweite Teil. Darin zeigen Jon Amastae und Leticia Fernández, dass beide Städte einen eng miteinander verwobenen dynamischen Wirtschaftsraum bilden, dessen Bevölkerungswachstum jeweils über dem nationalen Durchschnitt der jeweiligen Länder liegt. Während sich jedoch die EinwohnerInnenzahl bis in die 1980er Jahre hinein kaum unterschied, ist Juarez mittlerweile doppelt so groß wie El Paso, da die Maquiladoras viele Arbeitskräfte angezogen haben. Cristopal Mendoza untersucht in „Transnationale soziale Räume, Orte und Grenzen: Notizen für eine Reflexion“ Literatur und Diskussion zu transnationalen sozialen Räumen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Diversität von Identitäten als Element der Transnationalisierung eine wichtige Rolle für die sozialwissenschaftliche Forschung spielt. Wie Rodolfo Rubio Salas in seinem Beitrag „Klandestine Grenzübertritte zwischen Mexiko und USA“ zeigt, haben die USA in den 1990er Jahren ihre Grenzkontrollen massiv ausgeweitet. Dem haben sich die Strategien der undokumentierten MigrantInnen um den Preis höherer Kosten und einer erhöhten Vulnerabilität – Durchquerung der Wüste, verschärfte Ausbeutung durch sogenannte Coyotes beim Grenzübertritt – angepasst. Angela G. Alfarache Lorenzo untersucht „Frauen, Migration und feminizide Gewalt in Mexiko“. Diese Gewalt nehme nicht nur in Ciudad Juarez, sondern auch in vielen anderen Teilen des Landes zu. Die Autorin hebt in diesem Zusammenhang die hohe Straflosigkeit für die Täter hervor. Migrantinnen – auch jene aus Zentralamerika – seien dieser Gewalt besonders schutzlos ausgesetzt. Ferner zeigt Alfarache Lorenzo direkte Zusammenhänge zwischen Migration, prekärer Beschäftigung, der Ansteckung mit HIV/AIDS und der Vulnerabilität gegenüber feminizider Gewalt auf. Erst 2007 wurde das „Allgemeine Gesetz für den Zugang von Frauen zu einem Leben frei von Gewalt“ verabschiedet, das erstmals Frauen als Rechtssubjekte anerkennt und den Staat verpflichtet, gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen. Beginnend mit einem Auszug aus dem Theaterstück „Mujeres de arena“ (Frauen aus Sand) legen Corinna Duschat und Leoni Weyreter in „Kunst als Politik am Beispiel de Femincidio“ dar, wie sich die Kunstszene in Ciudad Juaréz zunehmend dem Thema der Feminicidios widmet und versucht, es in die Öffentlichkeit zu bringen und ein Bewusstsein zu schaffen. Demgegenüber wollen die verantwortlichen Institutionen der Stadt das Thema so weit wie möglich ignorieren und sorgen sich vorwiegend um das Image der Stadt. 18 Schwarz-Weiß-Fotografien von Ireen Hillmann runden den zweiten Teil ab. „Ciudad Juárez – Auf dem Weg nach Norden“ betitelt, vermitteln sie Eindrücke aus der Grenzregion.

Der erste Beitrag des dritten Abschnitts, „Migrationsdynamik und flexible Produktion: Die Maquiladora-Industrie an der mexikanischen Nordgrenze“ von Claudia Cornelia Zamorano Villareal erklärt, wie das wirtschaftliche Wachstum der Grenzstädte (Tijuana, Ciudad Juárez) zu einem weit überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum geführt hat: Diese Städte ziehen Menschen aus dem Süden Mexikos, RückkehrerInnen aus den USA und Personen an, die in den USA arbeiten, aber in Mexiko leben. Die in den Maquilas entstehenden Arbeitsplätze bringen eine andere Dynamik als die traditionellen Beschäftigungsverhältnisse: Saisonale Arbeitsspitzen bedingen kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse und häufige Arbeitsplatzwechsel. Dadurch sind diese Arbeitskräfte gezwungen, persönliche Interessen und Kultur aufzugeben. Die Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen, die sich aufgrund der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit in der machistisch geprägten mexikanischen Gesellschaft herausgebildet haben, analysiert Miriam Trzeciak im Beitrag „Zwischen Ausbeutung und Empowerment – Zur Situation von Arbeiterinnen in der nordmexikanischen Maquiladora Industrie“. Sie zeigt, dass diese Veränderungen keinesfalls aus emanzipatorischer Absicht heraus entstehen, sondern als Folge von ökonomischen Notwendigkeiten. Diese Prozesse vollzögen sich langsam, Frauen seien immer noch Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, erzielten geringere Einkommen und verwendeten einen großen Teil zur Deckung der Grundbedürfnisse der Haushaltsmitglieder, während Männer in der Regel einen Teil für eigene Bedürfnisse zurückhielten. Tim Ackermann und Torsten Bewernitz untersuchen die „Gewerkschaftliche Organisierung in der Maquila-Industrie Nordmexikos“. Danach gibt es in 60 % der Maquiladoras gewerkschaftliche Vertretungen. Zu unterscheiden sind hier jedoch traditionelle und subordinierte Gewerkschaften: Erstere setzten sich für die Interessen der ArbeitnehmerInnen ein, während letztere als verlängerter Arm der Maquila-Industrie dienten. Vielfach würden gesetzliche Regelungen wie Mutterschutz in den Kollektivverträgen nicht eingehalten. Aufgrund der autoritären und korrupten Strukturen sei der Sindicalismo (das Gewerkschaftswesen) in Ciudad Juarez verpönt. Alternative Organisationsformen würden jedoch nicht offiziell anerkannt. Diese stellten zwar die traditionellen Organisationsformen in Frage, böten aber eine Plattform für emanzipatorische Bewegungen.

Mit Ofelia Woo Morales’ Beitrag „Bleiben oder Zurückkehren? Die Erfahrungen mexikanischer Frauen mit der Migration in die Vereinigten Staaten“ beginnt der vierte Teil des Bandes. Die auf Interviews mit mexikanischen Migrantinnen basierende Analyse verweist zunächst auf die unterschiedlichen Migrationsmuster von Männern und Frauen. Die meisten Migrantinnen wüssten, wohin sie gehen. Sie würden von Bekannten erwartet, die bei der Orientierung und Arbeitssuche behilflich seien. Die Aufnahme von Arbeit sei dabei weniger als bewusstes Empowerment zu verstehen, sondern den ökonomischen Notwendigkeiten geschuldet. Allerdings verändere sich dadurch die Stellung der Migrantinnen in der Familie. Für diese Frauen seien die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gründung einer Familie wichtige Motive bei der Entscheidung, ob sie in den USA bleiben oder nach Mexiko zurückkehren. In Woos Beitrag fehlt leider eine Reflexion darüber, dass migrierende Frauen deutlich größeren Gefahren ausgesetzt sind als männliche; zumindest ein Verweis auf die entsprechenden Artikel im zweiten Abschnitt wäre angebracht gewesen. Anschließend diskutieren Alexandra Schirmer und Tanja Tienken den Schritt „Von der Unsichtbarkeit der Migrantinnen zur Feminisierung der Migration“. Vor dem Hintergrund der sehr patriarchalen Strukturen in Mexiko gehen sie der Frage nach, inwieweit es tatsächlich möglich ist, von einer Feminisierung der Migration zu sprechen. Denn Frauen hätten stets einen großen Anteil der MigrantInnen gestellt, zwischen 1930 und 1979 sogar mehr als die Hälfte der Migrationsströme von Mexiko in die USA. Nur ein geringer Teil der Frauen migriere aus Gründen der Familienzusammenführung. Obwohl gut ausgebildet, fänden die meisten Frauen in den USA nur unqualifizierte Stellen. Es sei daher weniger von einer Feminisierung der Migration zu sprechen als von der Notwendigkeit, Migration zunehmend aus einer genderspezifischen Perspektive zu betrachten.

Magdalena Barros Nock vertritt in ihrem Beitrag „Sozioökonomischen Alternativen für mexikanische Migrantinnen“ die These, der Anteil der Frauen an den internationalen Migrationsbewegungen habe zugenommen. Anhand mehrerer Beispiele illustriert sie, dass Frauen andere soziale Netzwerke aufbauten und damit ein anderes Soziales Kapital besäßen als Männer. Damit eröffneten sich ihnen Einkommensalternativen. So könnten sie jenseits der traditionellen Beschäftigung in der Landwirtschaft als Kleinunternehmerinnen in den Bereichen Gastronomie oder Handel erfolgreich sein. Inhaltlich schließt dieser Text sehr schön an den vorherigen Artikel an, leider ist die genutzte Datenbasis m.E. veraltet und der Umgang mit statistischen Daten mitunter nicht exakt. Schließlich untersuchen Elisabeth Tuider und Marcela Gaulotuña in „Mutterschaft auf Distanz“ die Auswirkungen der Migration auf die Mutter-Kind-Beziehung. Aus der Migration von Müttern resultierten neue Formen der transnationalen Beziehungspflege. Dabei würden die Mütter ihrer Verantwortung durch Rücküberweisungen gerecht; den Kontakt zu ihren Kindern hielten sie über Telefon und Internet aufrecht.

Im den letzten Abschnitt eröffnenden Beitrag „Der Weg nach Norden“ zeigt Yuribi Mayek Ibarra Templos, wie die Mixtekos nach ihrer Migration engen Kontakt zu den Herkunftsgemeinden unterhalten und dort in soziale Prozesse integriert sind, zunehmend aber auch Verantwortung in den Zielorten übernehmen. In „Transformations und Einbettungsprozesse in einem transnationalen sozialen Rahmen indigener Migranten und Migrantinnen“ erläutert Maria Guadalupe Rivera, warum trotz – oder gerade wegen – der zunehmenden Migrationsbewegungen und des wachsenden Tourismus die indigene Gemeinschaft in El Alberto, Hidalgo, in der Lage war, ihre Identität zu wahren. MigrantInnen und lokale Bevölkerung sind hier die AkteurInnen der lokalen Entwicklung und können deren Richtung mitbestimmen. Sebastian Nessel stellt im Text „Solidarische Ökonomie in Mexiko – Eine Alternative diesseits der Arbeitsmigration“ die Gefährdung der Kleinbauern durch globale Marktprozesse dar. Zugleich zeigt er am Beispiel einer Kleinbauerkooperative aus Oaxaca wirksame Strategien gegen diese Gefährdungen auf, z.B. den Aufbau einer eigenen Kreditkooperative, Produktdiversifizierung und Fair-Trade-Zertifizierung. Daran anschließend beschreibt Lutz Kerkeling in „Migration im Kontext der Transformation indigener Lebensweisen in Chiapas“ die zunehmende Durchdringung auch der kleinbäuerlichen Lebenswelten durch das kapitalistische Produktionssystem. Die De-Facto-Autonomie der indigenen Völker biete jedoch das Potenzial, den Drahtseilakt zwischen tradierter und autonomer lokaler Ökonomie und der Einbindung in globale Marktstrukturen zu bewältigen. Unter der Überschrift „Migration und die Konstruktion sozia ler Räume“ legt Andrea Paula Gonzales Cornejo dar, dass auch an Mexikos Südgrenze transnationale Räume entstehen, in die Arbeitskräfte aus Guatemala zeitweilig einwandern, um in verschiedenen Sektoren der mexikanischen Wirtschaft ihren Lebensunterhalt zu erwerben.

Insgesamt zeichnet der Band ein umfassendes Bild der Migration innerhalb Mexikos und von dort in die USA. Dabei liegt sein besonderes Augenmerk auf den sich verändernden Arbeits- und Geschlechterverhältnissen. Die Bedeutung Mexikos als Transit- und sogar als Zielland von Migrationsbewegungen aus Zentralamerika sowie als verlängerter Arm der USA zur Kontrolle von Migration bleibt unerwähnt. Dies zu analysieren, lag jedoch auch nicht in der Absicht der HerausgeberInnen.

Volker Hamann

PERIPHERIE Nr. 125, 32. Jg. 2012, S. 124-128

 

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