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Kategorie: Rezensionen

Wendelin Strubelt (Hg.): Der gebändigte Raum. Bilder und Texte zur Raumnutzung in Deutschland. Tübingen 2010. 210 S.

 
Im Gegensatz zu Bildbänden mit Luftaufnahmen von Gerster (1975) oder Arthus-Bertrand (2001) werden hier Fotos vorgelegt, die sehr nüchtern Raumnutzung, Siedlungsformen und Flächenverbrauch dokumentieren. Entsprechend wird als Ziel des Bandes formuliert: „Es mangelt immer noch an Darstellungen/Veröffentlichungen, die versuchen, die räumlich-empirische Analyse mit bildhaften Dokumentationen und Analysen zu verbinden, sie in einen dialektischen Bezug zu setzen […]. Hier besteht eine Lücke, die wir versuchen wollen mit unserem Band/Buch über die ‚gebändigten Räume’ in Deutschland aufzufüllen“ (29).

 

In seinem einleitenden Essay, dem auch dies Zitat entstammt, untersucht Wendelin Strubelt Bildbände über Deutschland aus früheren Jahrzehnten, angefangen mit dem Kaiserreich. Dazu gehören das Buch „Deutschland“ mit Kommentaren von Ricarda Huch (1932), das ein eher konservativ-bewahrendes Bild von Deutschland zeichnet. Es wurde 1939 nicht wieder aufgelegt, weil die Nationalsozialisten einen neuen Kommentar wollten, der Schweizer Verlag sich jedoch weigerte. 1951 erschien der Band erneut, 1960 in der 6. Auflage (14). Sodann schreibt Strubelt über „Deutschland“ (1956 und 1958) von der Büchergilde Gutenberg sowie „Deutschland“ vom Bertelsmann Lesering (1960), letzteres mit einem einleitenden Essay von Theodor Heuss und einer Gliederung nach Bundesländern. Eine Luftbildreihe bei Westermann aus den späten 1960ern zeigt die „Landschaft als menschliches Tätigkeitsfeld“ (22), hingegen der Band „Im Flug über Deutschland“ (1977) ein schönes Deutschland, seien es Burgen oder Ölraffinerien. „Im Flug über die DDR“ (Bayreuth 1984) vermittelt ein „realistisches Bild der gesellschaftlichen und baulichen Wirklichkeit“ Ostdeutschlands (24).

Zwei Bände hebt Strubelt hervor. Zum einen den Band „Das Land der Deutschen“ von Eugen Diesel (1931). Er enthält schon Luftbilder aus dem Zeppelin und Freiballon von Robert Petschow. Es ist wohl der Band, der am stärksten den sozialen Wandel bildlich erfasst, gegliedert in „Naturlandschaft“ – Kulturlandschaft“ – Maschinenlandschaft“. Diesel „lässt die räumliche Inzidenz dieser neuen Form von Gesellschaft, der Massengesellschaft des Industriezeitalters eindrücklich erkennbar werden“, wie Strubelt kommentiert (19). Zum anderen ist es der Band von Brugger mit Luftbildern von Baden-Württemberg (1990) aus 35 Jahren (3. Band 2009), weil er den Wandel sehr gut dokumentiert. Darüber hinaus sei der „Widerspruch zwischen gesellschaftlichen und individuellen Ansprüchen an den Raum […] einzigartig im Detail dargestellt“ (25).

Insgesamt wird aus diesem sehr informativen Essay erkennbar, wie sehr die Bildbände anschauliche Dokumente sowohl der Objekte als auch der historischen Sichtweisen sind. Und sie belegen, was Hans-Jochen Vogel schrieb: „Städte sind Stein gewordene Gesellschaftspolitik“ (20).

Im folgenden Beitrag geben Fabian Dosch und Gisela Beckmann eine „analytische Sicht auf die gesellschaftlichen Nutzung des Raumes“. Sie belegen den zunächst ungebremsten Gestaltungswillen, die ständige Transformation der Landschaft. Sie gerät nun in einen Gegensatz zu einer ökologisch orientierten Raumordnung. Dazu wird auf das dritte Leitbild der Raumordung von 2006, „Ressourcen bewahren, Kulturlandschaften gestalten“ verwiesen und wir werden belehrt: „Mit dem Leitbild wird der Übergang von einer eher ordnenden zu einer stärker entwickelnden, dialogorientierten Raumordnungsplanung evident“ (35). Es folgen kurze Abschnitte und thematische Karten u. a. zur Waldfläche, zur Siedlungsstruktur, zu Freiflächen und dem demographischen Wandel im Raum. Das ist informativ, aber ein Bezug zu den Fotos wird nicht hergestellt. Der Kontrast dieses administrativen Textes („un froid inventaire de mots et de chiffres“, wie Strubelt auf Seite 10 zu einem anderen Buch zitiert) zu dem fast literarischen von Strubelt könnte kaum größer sein.

Der Hauptteil sind 151 Schrägluftbilder, aufgenommen mit einer Kamera an einem Mini-Zeppelin 60 Meter über der Erde. Die Luftbilder sind nach vier räumlichen Kategorien geordnet: Stadtraum – Stadtrand – Kleinstadt/Dorf – Ländlicher Raum. Sie sollen den Raumordnungskategorien der BBR entsprechen.

Hierzu einige Beispiele: Unter „Stadtraum“ ist in Berlin ein deutlicher Kontrast zwischen der alten Blockrandbebauung (73) und den irgendwie in den Raum gesetzten Ministergärten (71) dokumentiert, ferner die vertane Chance einer städtebaulichen einheitlichen Konzeption des Potsdamer Platzes (61). Zu besichtigen ist auch die spielzeughafte Entsprechung von in Reih und Glied aufgestapelten Containern und parkenden Pkw im Eucaro in Bremen (95) oder die wahllose Anordnung der neuen Wohngebäude in Dessau (97).

Am „Stadtrand“ findet sich ein Foto des Tagebau-Restlochs in Bitterfeld (104) und das Beispiel einer Gartensiedlung in Dessau (105). Zu sehen ist der Flächenverbrauch von eingeschossigen Industriegebäuden und Fachmärkten, hier am Beispiel Berlin-Blumberg (107); ferner die merkwürdige Anordnung dreigeschossiger Giebelhäuser im Landkreis Mittenwalde (115). Insgesamt sind die Unterschiede im suburbanen Raum von west- und ostdeutschen Städten nicht (mehr) erkennbar.

Für „Kleinstadt/Dorf“ mag man sich über eine Ei-förmige grüne Verkehrsinsel mit zwei Bäumen in Sangershausen (124) wundern, mehr noch über zwei große, fast leere Parkplätze im historischen Stadtkern von Doberlug (127), sowie nach der Wende modernisierte viergeschossige Wohngebäude in Dessau (129) – aber auch alte dörfliche Strukturen (140, 141).

Im „ländlichen Raum“ ist vor allem eindrucksvoll zu erkennen, wie stark er den Verkehrstrassen geopfert wurde, insbesondere im Kontrast zu der noch erhaltenen Havellandschaft (180).

Was bedauerlich ist: Im Text finden sich keine Hinweise darauf, warum man was ausgewählt hat. Den Lesern geht es so, wie Strubelt es in seinem Text über das Buch Kein „Einst und Jetzt“ (Gütersloh 1960er) geschrieben hat: zu wenig Interpretation, „der Leser ist ziemlich auf sich selbst gestellt“ (20). Vielleicht ist das aber eine zumindest unproduktive Frage, weil die Antwort hierzu von den Autoren so rasch nicht zu erhalten ist. Also sollte man die Frage zugunsten folgender aufgeben: Was sagt mir dieses Foto? Die Antworten können je nach Betrachter/in unterschiedlich ausfallen. Sie können vor allem von der Dimension abhängen, in der man das Foto, den „Befund“, untersucht, z. B. Flächenverbrauch, Ästhetik, architektonische Qualität, rechtliche Grundlagen. Weitere Fragen sind, was der Vergleich der Fotos innerhalb einer Kategorie und was der Vergleich zwischen den Kategorien erbringt.

Warum sollten Planer, Geographen und Soziologen diesen Band lesen? Zum einen, weil erkennbar wird, dass jede Auswahl von Fotos ihrer Zeit und deren Sichtweise verhaftet ist. Zum anderen, weil diese Kontextgebundenheit auch für die Stadt- und Raumplanung gilt. Deshalb eignen sich die Fotos auch besonders gut dazu, zu fragen: Warum wurde hier so gebaut? Luftbilder sind eine Makroperspektive, sozusagen das aggregierte Ergebnis des Handelns individueller und kollektiver Akteure. Man muss untersuchen, welche Bedingungen auf der Makroebene der Gesellschaft oder Stadt zu diesem Ergebnis geführt haben, und weiter: welche dieser Bedingungen die individuellen (u. a. Politiker) und kollektiven Akteure (u. a. Baubehörden) dazu gebracht haben, die Landschaft und den Raum derart umzubauen, sodass wir am Ende das Ergebnis erhalten, welches uns das Luftbild zeigt.

Anregend wäre ein Universitäts-Seminar, geleitet von einer Geographin oder einen Geographen und einem/einer Stadt- oder Raumplaner/in, in dem diese Fotos untersucht werden. Vielleicht entstünde dann ein Buch, das die Luftbilder in reale ökonomische und politische Zustände auflöste – also in eine gesellschaftliche Naherkundung.

Der Band zeigt nicht nur die Raumnutzung, sondern auch dessen Zerstörung. Insofern ist der Titel irreführend: Den Raum kann man nicht bändigen wie einen Tiger, eher schon schlachten wie Vieh – und das träfe die Sache besser. Es ist der Raum, den wir uns täglich weiter untertan machen.


Literatur

Arthus-Bertrand, Y. (2001): Die Erde von oben – Tag für Tag. München: Knesebeck.
Gerster, G. (1975): Der Mensch auf seiner Erde. Ein Flugbild. Zürich-Freiburg: Atlantis.

Jürgen Friedrichs, Köln

Geographische Zeitschrift, 100. Jg. 2012, Heft 3, S. 251-252

 

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