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Kategorie: Rezensionen

Beate M. W. Ratter: Natur, Kultur und Komplexität: adaptives Umweltmanagement am Niagara Escarpment in Ontario, Kanada. Berlin-Heidelberg-New York et al. 2000. 315 S.

Es sind drei Bücher von BEATE RATTER (BR) in einem: Das erste umreisst die Komplexitätstheorie und führt in
Forschungsansätze der Human- und Kulturökologie ein. Nach knappen Ausführungen zu "Umwelt - Ressourcen - Nachhaltigkeit - Management", wird für den komplexen Vorgang der Planung der "Abbruch der Allmählichkeit" in den Worten G. W. F. Hegels zur Gewissheit, das plötzliche Auftreten und Verschwinden von Ordnung im Verhalten von Systemen. Den Vorstellungen eines zu erreichenden und zu bewahrenden Gleichgewichts folgt BR nicht. Es geht um eine komplexe Sicht der Interaktionen sozialer Systeme mit Ökosystemen und Hinweise auf Raumpotential, -lage, -organisation und die Perzeption der Situation. BR ist sprachlich präzise, in der Berücksichtigung von Auffassungen anderer Wissenschaftler nuanciert und in der Darlegung eigenständig.
Das zweite widmet sich dem Niagara Escarpment. Durchs weiträumige und geomorphologisch sonst wenig akzentuierte Süd-Ontario zieht sich ein markanter Tatzelwurm von der halben Länge der europäischen Alpen zwischen Lake Erie und Lake Huron. Die silurische Dolomit-Schichtstufe wird als System mit den Subsystemen Umwelt, Wirtschaft, Planung verstanden und räumlich besonders im Bruce und Grey County untersucht. Die Schilderung des Naturraums ist eine gelungene Kompilation vorhandenen Wissens. Die kulturräumliche Veränderung des südlichen Grenzsaumes von Kanada und des Escarpments wird zum faszinierenden Gang durch Phasen kontrastierender Bewertung und liest sich am besten begleitet von den drei Bänden des Historical Atlas of Canada (1987-1993). Einprägsam sind die Wechsel in der Perzeption der Steilstufe vom forestscape über das farmscape zum tourismscape. BR schildert die Phasen des Naturschutzes in Kanada und die Entwicklung des Niagara Escarpments zum 2000 qkm großen Schutzgebiet mit einem seit 1985 bestehenden und seither verfeinerten Planungskonzept. Der Niagara-Escarpment-Plan bringt dabei Forderungen, Belastungen, Chancen und Perspektiven von Naturschutz, Wohnen, Tourismus, Landwirtschaft und Abbau von Steinen unter einen Hut. Der Weg dorthin zeigt die vielerorts durchlebte Polarisierung der Planung von oben versus der sich emanzipierenden Selbstorganisation der Betroffenen. Eine von BR im Sommer 1997 durchgeführte Befragung von
Anwohnern veranschaulicht dies.
Das dritte führt zu den Aufgaben einer Geographie der Umweltressourcen. Die Gestaltung der Interaktion zwischen Mensch und Natur muss sich bewusst sein, dass dabei Ordnung ohne Vorhersehbarkeit, also Chaos, vorkommt. Das "adaptive Ressourcenmanagement" wird von BR als Erweiterung bisherigen Umweltmanagements propagiert, in dem Lernen während des Managements nicht nur möglich sondern angestrebt wird und eigene Korrekturen selbstverständlich sind. Da das gesellschaftliche Problem des Umweltschutzes noch schwieriger zu verstehen ist als das stoffliche, erscheint eine Geographie der Umweltressourcen als sehr anspruchsvoll. BR skizziert den Weg darauf zu.
Die drei Bücher sind ineinander verwoben. Sie bilden trotz der unterschiedlichen Gedankenstränge, der detaillierten
Beobachtungen und der etwa 700 berücksichtigten Artikel und Bücher (schön die Kombination von deutsch- und
englischsprachiger Literatur zum Umweltmanagement!) ein untrennbares Ganzes, nicht nur ein Knäuel von Einzelfäden. Zwei Quellen haben zum Erfolg geführt: Die der Habilarbeit vorausgegangene wissenschaftliche Vorgeschichte von BR - besonders in der Karibik - und ihre Selbstdisziplin, trotz Bäumen (Bruce und Grey County) den Wald (Natur, Kultur und Komplexität) zu betrachten. Auch ein zweiter Durchgang garantiert Lernzuwachs und Lesegenuss.
Autor: Ludwig Ellenberg

Quelle: Erdkunde, 55. Jahrgang, 2001, Heft 3, S. 307