Drucken
Kategorie: Rezensionen

Susanne Peters-Schildgen: "Schmelztiegel" Ruhrgebiet: Die Geschichte der Zuwanderung am Beispiel Herne bis 1945. Hg.: Stadt Herne und Kommunalverband Ruhrgebiet. Essen 1997. 431 S.

Im Gegensatz zum Lesebuch von Annette Krus-Bonazza bietet diese Veröffentlichung eine tiefgehende Darstellung der Zuwanderung in das Ruhrgebiet, am Beispiel der Stadt Herne. Sie beginnt historisch etwa mit der Zeit um 1840 und führt den Leser an das Thema in zwei Kapiteln zur "Herkunft und Entwicklung der Bevölkerung" sowie zu "Ein- und Auswanderungsbestimmungen" in den regional- und migrationshistorischen Kontext ein. Ergänzt wird diese historiographische Quellenstudie durch Interviews mit den Nachkommen der Immigranten. Diese Methode der "oral history" verstärkt die Aussagekraft der schriftlichen Quellen und vermittelt einen lebensnahen Einblick in die Alltagsprobleme der Zuwanderer aus Sicht ihrer Nachkommen. Die Studie wird ergänzt durch rund 100 Abbildungen und Fotos sowie durch einen umfangreichen Anhang aus Statistiken, einem Vereinsverzeichnis und einer umfangreichen Bibliographie.
Die Geschichte der Zuwanderung in diese Region ist die Geschichte ihrer Industrialisierung. Darin unterscheidet sich die Untersuchungsregion nicht von den anderen sich entwickelnden Städten des Ruhrgebiets und ähnlichen Industrieregionen des Deutschen Reiches. Der Bergbau im Ruhrgebiet und im speziellen in der Region Herne setzte um 1840 eine Urbanisierung in Gang, die zunächst auf Arbeitskräfte aus der unmittelbaren Region, also vor allem dem agrarischen Westfalen, und auf englische und irische Bergbauexperten und Bergleute zurückgriff. Bereits damals, in dieser Phase eines zersplitterten Deutschen Reiches, erschwerte der Ausländerstatus auch für Zuwanderer aus den nicht-preußischen deutschen Kleinstaaten die Integration. Ihre Naturalisierung, also die Zuerkennung der preußischen Staatsangehörigkeit, gehörte damals zu den wichtigen Instrumenten staatlicher Politik. Der Ausländerstatus bildete aber auch den Hebel für polizeiliche Interventionen bei Streiks und anderen politischen Aktivitäten. Ausweisungen konnten die Folge sein.
Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich innerhalb dieserZuwanderergruppen ein umfassendes kulturelles Leben und ein lebendiges Vereinswesen. Die Autorin schildert im Detail die Aufbauphase dieser Selbstorganisationen, die, wie in anderen Städten des Ruhrgebiets auch, zum Teil eng mit der Katholischen Kirche verknüpft waren. Selbstorganisation und politische Partizipation waren - dies macht nicht nur diese Veröffentlichung deutlich - kein "Rückzug ins Ghetto", sondern eine folgerichtige Phase der "Seßhaftwerdung". Hierin unterscheidet sich diese Zuwanderung nicht von jüngeren Immigrationsbewegungen nach Deutschland: Vereinsgründungen, kirchliche Seelsorge und politische Betätigung insbesondere im sozialdemokratischen Milieu wurde von Gewerbe- und Unternehmensgründungen begleitet. Nicht erst die vorliegende Arbeit zu Herne hat diese Entwicklung umfassend beschrieben. Zuwanderer wurden zu Minderheiten. Die Autorin schildert diesen Prozeß detailliert und verweist auf den in der aktuellen Migrationsforschung allerdings nicht unumstrittenen Zusammenhang von ethnischer Segregation und Assimilationspolitik.
Die Integration wurde aber auch von Widerständen und Rassismus in der einheimischen Bevölkerung begleitet.  Insbesondere in der Weimarer Republik verstärkten etwa die "Volkstumskämpfe" im Osten des Deutschen Reiches Stereotypen und Ressentiments vor allem gegenüber der wichtigsten Zuwanderergruppe, den polnischen Arbeitern und ihren Familien. Die bis heute gängigen antisemitischen Vorurteile entstanden im Zuge der Zuwanderung ostjüdischer Flüchtlinge, die in Herne insbesondere in den zwanziger Jahren eintrafen. Die Autorin berichtet von den Problemen der ersten britischen Immigranten, über die "Polenkrawalle" Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den jüdischen und den Sinti- und Roma-Opfern der Vernichtungspolitik sowie der Zwangsarbeit in der Region.
Seit den frühen siebziger Jahren und mit den migrationshistorischen Arbeiten von Christoph Kleßmann und Ulrich Herbert stellt die historische Migrationsforschung insbesondere am Beispiel des Ruhrgebietes Materialien und Analysen zur Verfügung, die auch für die Forschungsarbeiten zur deutschen Nachkriegsimmigration wichtige Anknüpfungspunkte liefern. Parallele Entwicklungen im historischen Kontext werden deutlich, die von der Selbstorganisation von Zuwanderern bis hin zum Transfer von Stereotypen in der Aufnahmegesellschaft reichen. Insofern ergänzt die vorliegende Veröffentlichung dieses Bild und die zahlreichen übergreifenden Darstellungen, etwa von Klaus Bade, in idealer Weise um spezifische regionalhistorische Aspekte. Sie ergänzt sie außerdem um wichtige, in der Forschung weniger untersuchte Themenbereiche, wie Weiterwanderungs- und Rückkehrprozesse. Insofern bildet die Veröffentlichung von Susanne Peters-Schildgen eine wichtige Quelle sowohl für den regionalgeschichtlich wie migrationshistorisch interessierten Leser. Es ist zu wünschen, daß weitere solcher Studien das Bild des Landes als historischer Einwanderungsgesellschaft vervollständigen.
Autor: Thomas Schwarz

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 1, S. 71-72