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Kategorie: Rezensionen

Michael Flitner (Hg.): Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Frankfurt/Main 2000. 312 S.

Man muß nicht erst das Märchen von Hänsel und Gretel erinnern, um sich mit einer finsteren Geschichte vom dunklen Wald zu konfrontieren. Auch wenn sachlich oder wissenschaftlich und damit scheinbar rational und aufgeklärt vom Wald die Rede ist, sitzen die Diskurse einer affektlogischen Sprech-, Denk- und Empfindungsweise auf, in der die Mythen lebendig sind - die alten und die neuen Geschichten vom Wald, in denen sich Erinnerung, Assoziation und Konstruktion überlagern. Unter den unheimlichen, rätselhaften, vor allem aber fremden Wäldern nimmt der Tropenwald, der Urwald der Äquatorialzone, eine besonders prominente Rolle ein.
Der von Michael Flitner herausgegebene Sammelband widmet sich dem Tropenwald nicht in ökologischer oder forstwirtschaftlicher Sicht. Vielmehr werden die vielen Denkweisen thematisiert, in denen der Tropenwald mal zur beängstigenden Fremde und mal zum quasigöttlichen Paradies wird. Es sind keine Expeditionen in die "grüne Hölle", auf denen der landschaftliche Raum des Tropenwaldes erschlossen wird. Ideologiekritische Exkurse öffnen vielmehr Wege zum Verstehen eines kulturell und historisch geprägten mentalen Raumes. So entdeckt sich die Geschichte des Urwaldes als eine Kulturgeschichte der Mimesis ans Fremde der Natur. Es zeigen sich Wege, auf denen das Fremde als Teil des Eigenen beherrschbar wird. Der Tropenwald steht exemplarisch für viele Gegenstandsbereiche der Natur. In 16 Exkursen werden Denkbilder rekonstruiert, durch die und mit denen die Bäume zum Urwald, zur Wildnis, zum Paradies, zum Rohstofflager, zur naturwissenschaftlichen Sensation oder zu einem Gegenstandsbereich der Kunst werden. Der Band ist interdisziplinär angelegt und liefert Aufrisse aus der Sicht von Geographie, Soziologie, Germanistik, Filmwissenschaft, Geschichte u.a. Disziplinen. Die Stärke des Buches liegt in der Vielfalt der aufgespannten Perspektiven und der Solidität der einzelnen Analysen. Die Flut der Essays zum deutschen Wald wird durch ein äußerst gehaltvolles und differenziertes Gegenstück ergänzt.
"Deutsch" ist der Tropenwald nicht nur als kolonial angeeigneter Ressourcenraum, sondern auch als ideologisch (um)konstruierter Raum, denn jede Deutungsarbeit ist in hintergründigen Interessen und systemischen Verwicklungen kulturell verankert. Die Zugriffe auf (koloniale und post-koloniale) Regenwald-Ressourcen können sich rein materiell in transkontinentalen Aktionen spiegeln und in Form waldwirtschaftlich verknüpfter Entwicklungen kulturlandschaftlich sichtbar werden. Hans Walden skizziert in seinem historischen Beitrag einen solchen Zusammenhang. Die gewinnbringende koloniale Nutzung des Tropenwaldes sicherte die ökonomischen Vorausetzungen für die Finanzierung heimatlicher Aufforstungen. Am Beispiel betuchter Hamburger Kaufleute zeigt der Hamburger Historiker, wie im 18. und 19. Jahrhundert mit den Erträgen aus dem blühenden Kolonialhandel in tropischen Gebieten Landkäufe zur Aufforstung von Flächen im Hamburger Umland finanziert wurden, die dann später in der Ausdehnungsphase der Stadt äußerst gewinnbringend als Bauland für Villen wieder verkauft werden konnten. Von den ehemaligen "Kaufmannswäldern" sind einige noch heute erhalten und dienen als städtische Erholungsgebiete; so der Jenischpark in Hamburg-Flottbek, der 1828 von Caspar Voght erworben wurde. Walden skizziert mit seinem Beispiel transnationale ökonomische und zugleich kulturlandschaftliche Wandlungszusammenhänge, die sich auch als eine ungleichzeitige Illustration zum Globalisierungsdiskurs unserer Tage lesen lassen. Die zutiefst kulturelle Haltung, aus der heraus der Tropenwald angeeignet wird, zeigt sich aber nicht erst in der Rekonstruktion ökonomischen Wirkens. Die in der Beschreibung und Erklärung des Urwaldes virulenten Denk- und Interpretationsmuster, die durch die Zeiten hinweg einen je eigenen Blick imprägniert haben, verdienen schon als soziale Konstruktionen für sich besondere Aufmerksamkeit. Sie liegen als gleichsam didaktische Klammer auch allen Beiträgen des Bandes zugrunde.
Der Berliner Historiker Albert Wirz zeigt in seinem Beitrag, daß der Regenwald selbst in seiner vorkolonialen Zeit der indigenen Völker schon ein kultivierter und nicht menschenleerer Raum war. Wirz weist auf rund 5000 Jahre alte Spuren der Expansion von Bantusprachen im Regenwaldgebiet hin. Der "unberührte" Urwald erweist sich als eine soziale Konstruktion. Für die Kolonisten aus Europa und die ihnen bis ins 19. und 20. Jahrhundert in den verschiedensten Missionen folgenden Reisenden ist der Urwald wild, chaotisch und feindlich. Es entstehen semantisch verschlungene Mythen und Ideologien, die vor allem den Tieren einen herausgehobenen Platz zuweisen. Während in Stanleys Reisebeschreibungen aus dem 19. Jahrhundert die Tiere noch als Feinde des Menschen dargestellt werden, ist es in der bekannten von Bernhard Grzimek gemachten Fernsehserie der 60er Jahre "Ein Platz für Tiere" anders herum. Die Tiere müssen nun vor den Menschen geschützt werden. Der Mensch ist deshalb auch nicht mehr von der Urnatur des Tropenwaldes bedroht. Umgekehrt gilt vielmehr: der Mensch bedroht die Natur! Zu dieser Interpretation gehört die Idealisierung der Tiere und die Verteufelung der (vor allem einheimischen) Menschen (vgl. Beitrag Flitner). Eine Aktualisierung erfährt Grzimeks Lehre in den Naturbildern einer (ungenannt gebliebenen) großen deutschen Umweltschutzorganisation. Der Politikwissenschaftler Volker Heins reflektiert in seiner Ideologiekritik eines verbandspolitischen Tropenwalddiskurses die Macht unreflektierter Bedeutungszuschreibungen. Das thematisierte Klischee einer Natur, die nur intakt sein kann, wenn die Menschen von ihr ferngehalten werden, zieht seine Spuren bis in die aktuelle Naturschutzdebatte.
Die wilde Fremdheit von Natur wird zu verschiedenen Zeiten auf spezifische Weise ideologisch ins Bild gesetzt. Einen ausgewiesenen und prominenten Raum findet sie im Tropenwald. Die durch die Zeiten verschleppten Deutungen und Deutungsrelikte brechen nicht nur in touristischen "Informations"-Medien wieder auf, sondern auf einem offiziellen kulturpolitischen Niveau auch in Schulbüchern. Klaus-Dieter Hupke legt zu diesem Thema eine empirische Studie vor, die den historischen Wandel je herrschender Lehrmeinungen (bezogen auf den Geographieunterricht) auf erhellende Weise dokumentiert.
Der von Flitner zusammengestellte und herausgegebene Band ist eine konstruktive Bereicherung der wissenschaftlichen Debatte über das Mensch-Natur-Verhältnis. Die Lektüre der gehaltvollen Beiträge öffnet den Blick für fachübergreifende Betrachtungen eines oft auf Fragen der Ökologie verengten Themas.
Autor: Jürgen Hasse

Quelle: Geographische Zeitschrift, 89. Jahrgang, 2001, Heft 2 u. 3, Seite 190-191