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Kategorie: Rezensionen

Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland (Hg. Institut für Länderkunde, Leipzig). Band 4: Bevölkerung (Hg. Paul Gans und Franz-Josef Kemper). Heidelberg, Berlin 2001. 164 S.

Wenige Monate bevor mit der Einführung der Euro-Zahlungsmittel der Fortschritt der europäischen Einigung sich in den Portemonnaies der Individuen materialisiert hat, ist mit dem Band "Bevölkerung" der vierte von insgesamt 12 geplanten Teilen eines Nationalatlas "Bundesrepublik Deutschland" erschienen, herausgegeben vom Institut für Länderkunde (Leipzig) und konzipiert als Ausweis der Fähigkeit der deutschen Geographie, regionale Differenzierungen zahlreicher Sachverhalte auch einem nicht-akademischen Publikum zu vermitteln.
Der scheinbare Anachronismus, in einem Zeitalter der europäischen Einigung und der Globalisierung räumliche Unterschiede auf der Ebene eines Nationalstaats darzustellen, löst sich auf, wenn zwei Aspekte berücksichtigt werden: zum einen die nationalstaatliche Organisation von (geographischer) Wissenschaft, die es als kaum realisierbar erscheinen lässt, etwa einen "Europäischen Atlas" durch Hochschulgeographen zu erstellen. Die Kommunikations-und Koordinationsprobleme dürften in einem solchen Fall unüberwindlich sein.
Zum anderes ist der Nationalatlas auch als Produkt der Wiedervereinigung zu verstehen, die ja in erster Linie nicht die heutigen Neuen Bundesländer in die EU integrierte, sondern als Abschluss einer (erneuten) Nationalstaatsbildung verstanden wurde. Insofern ist die Herausgabe eines Nationalatlanten ein den aktuellen wissenschaftlichen wie politischen Gegebenheiten adäquates Unterfangen.
In den 46 Abschnitten des vorliegenden Bands wurden Daten zur Bevölkerungsverteilung und -struktur (Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Religion), zu sozioökonomischen Merkmalen, zur natürlichen Bevölkerungsentwicklung und zur Migration in einzelne Artikel von 2 oder 4 Seiten Länge umgesetzt, die in der Regel aus einer großen Karte und mehreren Nebenkarten sowie einem erläuternden Text mitsamt Grafiken und fallweise Begriffserklärungen bestehen. Der Leser erhält auf diese Weise einen umfassenden Überblick sowohl über den Inhalt eines typischen Lehrbuchs "Bevölkerungsgeographie" als auch über die regionale Verteilung zahlreicher Merkmale der Bevölkerung Deutschlands.
Mag die technische Ausführung der Karten manchem vielleicht etwas bieder erscheinen, so ist sie doch ebenso wie das Layout insgesamt ein bemerkenswertes Beispiel für die hohen gestalterischen Fähigkeiten der Kartographie am Institut für Länderkunde.
Auf inhaltlicher Seite hätte man sich von den Herausgebern eine strengere und konsequentere Redaktion gewünscht. Dies betrifft zum einen die Glossare, bei denen oft nicht ersichtlich ist, nach welchen Kriterien Begriffe als erklärungsbedürftig ausgewählt wurden. So wird etwa "Mortalität" an sechs verschiedenen Stellen fast gleichlautend definiert; anderen Begriffen geht es ähnlich. Auch dass Begriffe wie Saldo, Sozialhilfe, Singles, Pendeln oder Assimilation (definiert einzig durch das Synonym "Angleichung") erklärt werden müssen, erschließt sich nicht unmittelbar, wenn daneben unerläutert bleibt, was z. B. unter "Kovariation" oder "Restitution" zu verstehen ist.
Zum anderen reicht es nicht aus, im Vorwort auf einzelne Karten hinzuweisen, die missverständliche Informationen anbieten und damit als kartographisch fehlerhaft oder zumindest wenig aussagekräftig einzustufen sind, wenn es nicht zu den Aufgaben des Atlanten gehören soll, Probleme der Umsetzung von räumlichen Daten in Karten zu illustrieren. Hier hätte schließlich bereits bei der Erstellung der Karten eingegriffen werden müssen.
Gewisse Einschränkungen sind darüber hinaus im Hinblick auf die Nutzung durch Nicht-Geographen zu machen: So bauen einzelne Karten für Personen, die im Lesen von thematischen Karten eher ungeübt sind, doch recht hohe Zugangsbarrieren auf, da die Vielzahl der enthaltenen Informationen nicht immer durch den erläuternden Text adäquat wiedergegeben werden. Nicht zuletzt erliegen nicht nur, aber insbesondere Laien gerne der Gefahr des ökologischen Fehlschlusses, also dem durch die visuelle Präsentation nahegelegten Irrtum, aus der Korrelation von Gebietsmerkmalen könne auf Zusammenhänge auf der Ebene von Individuen geschlossen werden. Dies ist jedoch ein Grundproblem der thematischen Kartographie, das mit dem Instrument des Atlas nur begrenzt gelöst werden kann. Sieht man von diesen Einschränkungen ab, muss dem Atlas attestiert werden, in überwiegend sehr gelungener Weise zahlreiche wichtige Merkmale zur Bevölkerung Deutschlands aufgearbeitet zu haben und auch ansprechend zu präsentieren. Man möchte dem Atlas wünschen, durch eine empfindliche Preisreduktion (von jetzt 99 EUR) eine größere Verbreitung finden zu können.
Autor: Wolfgang Aschauer

Quelle: geographische revue, 4. Jahrgang, 2002, Heft 2, S. 80-82