Drucken
Kategorie: Rezensionen

Elisabeth Lichtenberger: Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis. Darmstadt 2002. 304 S.

Das hier vorzustellende Buch trägt einen sehr anspruchsvollen Titel: "Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis". Obwohl die gleichermaßen in der theorieorientierten Gegenwartsgeographie und in der historischen Stadtgeographie bestens ausgewiesene emeritierte Wiener Professorin ELISABETH LICHTENBERGER einen sehr weiten Bogen spannt, muss doch eingangs darauf hingewiesen werden, dass der Untertitel "Von der Polis zur Metropolis" falsche Vorstellungen in Richtung auf das Überwiegen der historischen Sichtweise erweckt.

Die Autorin hätte lieber in Gegensatz zum Verlag den Untertitel "Gebaute Umwelt und Gesellschaft" unter die Hauptüberschrift gesetzt, da sie, wie aus dem Vorwort hervorgeht, überzeugt davon ist, dass die Visualisierung der Information das Hauptmerkmal an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert darstellt. Schließlich ist einschränkend festzuhalten, dass sich das Buch nur mit den großen Städten von Europa und Nordamerika beschäftigt. Dem Ortsregister und dem Literaturverzeichnis ist zu entnehmen, dass innerhalb dieses Feldes die Schwerpunkte auf Mittel- und Westeuropa sowie den USA liegen. Besonders intensiv wertet die Verfasserin ihre umfangreichen Erfahrungen mit Wien aus, wozu sie ja zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst hat. Dieser regionale Ausgangspunkt lässt sich auch aus dem Abbildungsteil ersehen; immerhin beziehen sich über 40 Pläne und Fotographien auf diese Stadt. Dies sind nur unwesentlich weniger als alle Abbildungen zu Nordamerika insgesamt. Insgesamt wird das Buch durch 286 Abbildungen in Schwarz-Weiß illustriert. Das Stichwortverzeichnis gibt interessante Hinweise auf die Themenschwerpunkte. Besonders häufig genannt werden Mietshaus, Bevölkerung, Verkehr, Stadtentwicklung, gründerzeitlicher Baubestand, Verbauung, Adel, Altstadt, Downtown, Funktionen, Größenklassifizierung, Gründerzeit, Industrie, Innenstadt, Metropolen, Oberschicht, Stadtplanung, Städtebau, Suburbs. Es fällt auf, dass Stichworte wie Kulturlandschaft, Landschaft und Nationalsozialismus fehlen. Das Literaturverzeichnis ist nicht systematisch gegliedert; es enthält "nur" ca. 300 "Literaturhinweise". Davon ist etwa ein Drittel englischsprachig, während Veröffentlichungen aus anderen Sprachräumen seltener sind. Den größten Block stellen noch die französisch-sprachigen Titel mit etwa 20 Nummern. Etwa die Hälfte der Titel stammt aus der Zeit ab 1990, ein Drittel aus den 70er und 80er Jahren. Viele Hinweise beziehen sich nicht auf geographische Literatur im Sinne von Beiträgen aus diesem Fach, was den interdisziplinären Ansatz von ELISABETH LICHTENBERGER gut widerspiegelt (vor allem Geschichte des Städtebaus und der Architektur, Sozialwissenschaften, Kommunalpolitik und Stadtplanung). In Hinblick auf die trotz der Einschränkung der Verfasserin im Vorwort starken Rückgriffe in die Geschichte überrascht die relativ geringe Zahl von Titelhinweisen aus dem (weitgefassten) Bereich der Geschichtswissenschaften (weniger als ein Zehntel). Immerhin hat LICHTENBERGER selbst wegweisende Bücher und Aufsätze zur Historischen Stadtgeographie vorgelegt (vgl. dazu meine Besprechung ihres Buches über "Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City" in den Berichten zur deutschen Landeskunde 54, 1980, S. 296-297).
Das Buch ist didaktisch gut durchdacht und weist zahlreiche Hilfen für den Leser auf, die weitgespannte schwierige Materie besser zu erfassen. Zu nennen sind speziell die einleitende Zusammenstellung der "Fragestellungen" und die Zusammenfassungen der wichtigsten Ergebnisse der Hauptkapitel am Beginn dieser Kapitel jeweils unter der Überschrift "Überblick". Die Verbindung zu den Gegenwartsproblemen der europäischen Großstadt und ihren Zukunftsperspektiven stellt das Abschlusskapitel her mit der Überschrift "Wozu braucht die Gesellschaft die Stadt?" An dieser Stelle erscheint es angebracht, auch die zentrale Metapher zu zitieren, womit ELISABETH LICHTENBERGER das Anliegen ihres Buches umschrieben hat: "Städte sind wie verschlüsselte Bilderbücher über vergangene und gegenwärtige Gesellschaftssysteme, man muss sie aufschlagen und die Symbolik zu entschlüsseln versuchen".
Die Kapitel 1 bis 3 behandeln die Makroebene in zeitlicher und räumlicher Dimension; Kapitel 4 bildet mittels sachlicher Determinanten eine Brücke zur Mikroebene von gebauter Umwelt und Gesellschaft; Kapitel 5 bis 7 sind der Mikroebene von gebauter Umwelt und Gesellschaft gewidmet. Während die politischen Systeme für die Darstellung den Ordnungsrahmen liefern, werden in der konkreten Darstellung auf verschiedenen Maßstabsebenen die einzelnen Teile der gebauten Umwelt, beginnend bei der Gesamtstadt über die Stadträume und Stadtviertel bis zu den Häusern und Wohnungen behandelt. Im ersten Kapitel werden ausgehend von der Gegenwart zwei zentrale Fragen gestellt: Welche materiellen Formen haben sich als gebaute Umwelt umfunktioniert erhalten? Welche Normen und Werte der Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart? Es verwundert nicht, dass auf den zur Verfügung stehenden 40 Seiten nur einiges angerissen werden konnte. Es fehlt hier der Raum, um in eine Diskussion darüber eintreten zu können, ob die als Erbe genannten Phänomene wirklich den postulierten Stellenwert für die Gesamtheit der europäischen und nordamerikanischen Großstädte gehabt haben. Für die Antike werden genannt: das Rasterschema des Grundrisses und die Monumentalität öffentlicher Bauten, das Prinzip einer optimalen Stadtgröße, das Prinzip der Raumordnung von Städte- und Verkehrsnetzen und die hochentwickelte technische Infrastruktur. All dies läuft unter der Kapitelüberschrift "Von der griechischen Polis zur Neuen Stadt"; im Buchuntertitel wird diese Linie noch plakativer gezogen: "Von der Polis zur Metropolis". Es folgt das zweite Kapitel, in dem über Konvergenz oder Divergenz der Stadtentwicklung zu Beginn
des 21. Jahrhunderts nachgedacht wird. Die drei großen politischen Systeme, das soziale Wohlfahrtssystem Europas, das privatkapitalistische System der USA und die Transformationsstaaten des Postsozialismus bilden dabei die Bezugsbasis.
Die Zielrichtung des Buches wäre sicherlich besser zu erkennen, wenn die Aussagen des ersten Kapitels in die Kapi-
tel 3 bis 7 integriert worden wären. Dann wären die dort zu findenden Rückgriffe in der Geschichte, die von Fall zu Fall unterschiedlich tief sind, noch weiter durch allgemeinere Aspekte angereichert worden. Unabhängig davon sind diese Kapitel gerade durch die kontinuierliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit unter Berücksichtigung der Zukunft außerordentlich anregend. Im Kapitel 3 "Stadträume" werden die Stadtmitte, Stadtviertel, Stadtränder und postmoderne Megastrukturen behandelt, im Kapitel 4 "Determinanten und Leitbilder", das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit sowie die städtebaulichen Leitbilder für Bauten und Strukturen aller Art von repräsentativen Gebäuden bis zu Verkehrsführungen vorgeführt, im Kapitel 5 "Die Anatomie der Stadt" die Langlebigkeit des Stadtplans demonstriert, im Kapitel 6 "Wohnraum und Gesellschaft" eine Analyse der städtischen Wohnbauformen und ihrer spezifischen sozialen Organisation geboten und im Kapitel 7 "Die Wirtschaft im Stadtraum" schließlich die Erscheinungen der Wirtschaft im Stadtraum thematisiert.
Auf der Buchrückseite wird vom Verlag als zentrale Frage herausgestellt, "ob nicht das Konzept der Stadt überholt ist?" Hier wäre es besser gewesen, vom Konzept der europäischen Stadt zu sprechen.
Besondere Schwerpunkte des Buches sind die Aufdeckung der Wurzeln der europäischen Stadt, die Behandlung der Bedeutung der wechselnden Gesellschaftssysteme und politischen Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung bis heute sowie der Vergleich zwischen der aktuellen europäischen und amerikanischen Situation. Die Verfasserin stellt die viele Menschen bewegende Frage: "Wird die europäische Stadtentwicklung etwas verspätet den Weg der nordamerikanischen einschlagen oder werden die spezifisch europäischen Züge erhalten bleiben und vielleicht sogar zeitgemäß weiterentwickelt werden?" Gerade weil sie die amerikanischen Verhältnisse sehr gut kennt, ist ELISABETH LICHTENBERGER eine entschiedene Anhängerin der europäischen Stadt. Sie ist aus folgenden Gründen überzeugt, dass diese überleben wird:
1. Der Raum ist in Europa ein Mangelgut. 2. Das Brachfallen von Gelände und das Leerstehen von Gebäuden wird nicht als eine normale Erscheinung angesehen. Außerdem werden gewachsene, persistente Strukturen und Elemente grundsätzlich zumindest als potentielle kulturlandschaftliche Werte angesehen, über deren Weiterentwicklung auch die Kulturlandschaftspflege mit zu entscheiden hat. 3. Wohlfahrtsstrategien versuchen das Auseinanderentwickeln von Räumen zu verhindern. 4. Die politisch-administrativen Organisationsformen sind vor allem durch die Existenz einer unteren Verwaltungsebene besser geeignet.
Das Buch von ELISABETH LICHTENBERGER ist vor allem deshalb von großem Wert für die derzeit auch in Mitteleuropa intensiv geführte Diskussion über die Konzepte der "Kompakten Stadt", der "Zwischenstadt" und des "Städtenetzes" (vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen LUTZ HOLZNER und AXEL PRIEBS in Erdkunde 54, 2000, S. 121-147 vor allem über das "Amerikanische" in deutschen Städten), weil hier zahlreiche grundlegende Überlegungen zur Bedeutung des historischen Hintergrundes für die Beschäftigung mit den oben genannten Themen angestellt werden. Auch wenn man der Meinung ist, dass die europäische Stadt zukunftsfähig ist, muss man über zeitgemäße Veränderungen oder zumindest Anpassungen nachdenken. Dies betrifft weniger die Innenstädte der Metropolen, sondern die städtische Peripherie. Hier gibt es, wie die Autorin mit Recht sagt, noch keine allgemein akzeptierten Leitbilder. Aus historisch-geographischer Sicht erscheint es unverzichtbar, möglichst viel an historischen Strukturen und Elementen in die Entwicklung der Zonen zwischen Stadt und Land, die heute den Hauptprozentsatz der städtischen Agglomerationen ausmachen, zu integrieren. Es wäre verhängnisvoll, wenn diese Räume gänzlich oder mehrheitlich den Status sog. "Schmutzräume" bekämen, die im Gegensatz zu den sog. Schutzräumen beliebig umgestaltet werden dürften. Für die sich aus diesem Votum ergebende umfangreiche Querschnittsaufgabe der Kulturlandschaftspflege gibt es inzwischen zahlreiche Ansatzpunkte (vgl. dazu u.a. Die Zukunft der Kulturlandschaft zwischen Verlust, Bewahrung und Gestaltung. Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 215. Hannover 2001, insbesondere AG 1: Kulturlandschaften in urbanen und suburbanen Räumen).
Das Buch von ELISABETH LICHTENBERGER ist sowohl hierzu als auch zur Thematik der Großstadt im Zeitalter der Globalisierung ganz allgemein eine hervorragende Problemübersicht, aber auch eine flüssig zu lesende, vorzüglich illustrierte Gesamtdarstellung. Die Verfasserin scheut sich dabei auch nicht heiße Eisen anzufassen, wie z.B. die städtebauliche Entwicklung von Berlin nach der Wende. Sehr fruchtbar ist der kontinuierliche Vergleich zwischen den europäischen und den nordamerikanischen Verhältnissen. Wie unterschiedlich diese sind, zeigt der Umgang mit der urbanen und suburbanen Kulturlandschaft. In Nordamerika gilt sie durchwegs als individuell zu nutzenden Verfügungsraum (vgl. den Begriff "Spekulationsbrache"), während zumindest in Mitteleuropa die nachhaltige, substanzschonende Weiterentwicklung der Kulturlandschaft (vgl. den Begriff "gewachsene Kulturlandschaft") innerhalb der Aufgabe der Raumordnung eine immer bedeutsamere Rolle spielt.              
Autor: Klaus Fehn

Quelle: Erdkunde, 57. Jahrgang, 2003, Heft 4, S. 338-340