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Kategorie: Rezensionen

Dörrenbächer, Peter H.: James Bay. Institutionalisierung einer Region - Wasserkraftnutzung in Nord-Québec und die Entstehung regionaler Selbstverwaltungsstrukturen der Cree-Indianer. Saarbrücken 2003 (Saarbrücker Geographische Arbeiten, Band 48). 240 S.

Peter Dörrenbächer legt mit diesem Buch eine überarbeitete und aktualisierte Fassung seiner 1997 fertig gestellten Habilitationsschrift über die nördlichen Gebiete der kanadischen Provinz Québec vor. Die verzögerte Veröffentlichung der umfangreichen Forschungsergebnisse führt der Autor auf politische Ereignisse Ende der 1990er Jahre zurück, deren Auswirkungen auf die beschriebenen und analysierten Entwicklungspfade abgewartet werden mussten. Der Leser profitiert von dieser langjährigen, intensiven Beschäftigung mit Thema und Region.
Wie der Titel besagt, geht es in der Arbeit um den geographischen Begriff der Region, aber noch viel mehr um das Konzept von Region und die Prozesse ihrer Entstehung. Im Rückgriff auf die grundlegenden Arbeiten von A. Pred, A. Gilbert und M. B. Pudup spannt Peter Dörrenbächer den Bogen zu aktuellen Ansätzen der "New Regional Geography", die auf den Konzepten der sozialen Strukturation im Sinne A. GIDDENS aufbaut. Regionen werden durch die soziale Wirklichkeit konstituiert und sind Ausdruck und Produkt sozialer Praxis.
Die Arbeit zeigt, wie Regionen konstruiert werden. Basierend auf einem für das James Bay Gebiet fortentwickelten Konzepts der räumlichen Institutionalisierung werden unterschiedliche stages dieses Prozesses voneinander abgegrenzt und als Analysekategorien eingeführt. Vier Merkmale der Institutionalisierung von Regionen (nach A. Paasi  1986) - die klar definierte territoriale Gestalt, die regulierenden Institutionen, die symbolische Bedeutung und die interne sowie externe Identifizierung als Raumeinheit - werden zu einem Untersuchungskonzept transformiert, das anschließend angewendet wird. Wichtiges Element ist dabei auch die Unterscheidung räumlicher, zeitlicher und sozialer Maßstabsebenen: "Sozialer Raum wird durch soziale Praxis geschaffen" (S. 21). Damit macht Peter Dörrenbächer deutlich, dass Strukturen erst durch diese soziale Praxis unterscheidbar gemacht werden und sozialer Raum nicht nur ein Produkt ist, sondern auch ein Medium sozialer Praxis. "Es interessiert weniger, was in Räumen ist und wie sie strukturiert sind, sondern, wie sie entstehen bzw. geschaffen und strukturiert werden" (S. 21). Eingebettet in die langfristig institutionalisierten Strukturzusammenhänge im Sinne des longue durée nach F. Braudel sind lokal-spezifische Alltags-Handlungen. Sie sind zentral für die Entstehung von Regionen. Damit bekommt das Thema auch eine kultur-geographische Bedeutung im Sinne einer Analyse der Regionalkultur als Ausgangpunkt raumstrukturierender Prozesse.
Am Beispiel des James Bay Raumes, der im Zusammenhang mit dem James Bay Abkommen und der Erschließung und Ausbeutung der Wasserkraft sowie der Konstruktion regionaler und lokaler Cree-Selbstverwaltungsstrukturen ausdifferenziert wurde, wird veranschaulicht, wie Ressourceninteressen auf  national-staatlicher, Provinz- und lokaler Maßstabsebene direkt und indirekt zu gesellschaftlichen Raumstrukturierungsprozessen führen.
Erst nachdem ihr Wasserkraftpotential erkannt wurde, rückte die Region im Norden Québecs ins Bewusstsein extraregionaler politischer und wirtschaftlicher Interessengruppen. Das zwang die indigenen Bewohner dazu, sich den Herausforderungen mit einem Identitätsfindungsprozess zu stellen.
In der Arbeit wird der räumliche Institutionalisierungsprozess in fünf Phasen gegliedert und in neun Kapiteln behandelt. Kapitel 2 beschreibt die Phase 0 der Präinstitutionalisierung vor 1971 und damit die strukturellen Rahmenbedingungen und früheren gesellschaftlichen Prozesse. Darüber hinaus werden hier die Bedeutung des staatlichen Elektrizitätserzeugers Hydro-Québec und die Emanzipationsbestrebungen der frankophonen Provinz gegenüber den anglophonen Provinzen Kanadas herausgearbeitet. Auch der Mythos des kanadischen Nordens als wichtiges Motiv für die Erschließung des Wasserkraftpotentials und der Naturraum sowie die Kultur und traditionelle Lebensweise der dort lebenden Cree-Indianer werden dargestellt. Kapitel 5 befasst sich mit dem Wandel der staatlichen Indianerpolitik, das folgende Kapitel stellt das James Bay Wasserkraftwerksprojekt vor. Es schließt sich eine Rekonstruktion des politischen und juristischen Konflikts zwischen den staatlichen Akteuren und der indigenen Bevölkerung an (Kapitel 7). Dieser Konflikt, der im James Bay Abkommen mündet, war der Ausgangspunkt für die Entstehung regionaler Cree-Verwaltungs- und Organisationsstrukturen, die in Kapitel 8 und 9 näher beleuchtet werden.
Kapitel 9 widmet sich außerdem der Rolle von räumlichen und raumbezogenen Symbolen, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der regionalen Identität leisteten. Anders als der Autor halte ich allerdings die Betonung, dass "indigene Völker" eine direktere Verbindung zum Naturraum und zu Natursymbolen aufweisen würden, für problematisch. Müsste es nicht gerade in der neuen Kulturgeographie darum gehen, zu zeigen, dass wir zwar von diesen Beziehungsgeflechten lernen können, dass es aber auch in den modernen Industriegesellschaften entsprechende Phänomene gibt, die es zu erkennen und zu untersuchen gilt.
Die jüngsten Entwicklungen und Neuausrichtungen, die in dem Abschluss eines erneuten Abkommens zwischen Cree und der Provinz Québec 2002 kulminierten, werden als Phase 3+ bezeichnet und in Kapitel 11 behandelt. Es wird dabei vom Autor hervorgehoben, dass es sich um einen offenen, nicht abgeschlossenen Prozess der Konstruktion einer Region handelt.
Peter Dörrenbächer stellt abschließend die Frage, ob die im James Bay Gebiet entstandenen Organisationsstrukturen letztlich die Cree-Kultur gestärkt oder geschwächt hätten. Dem Autor zufolge entsprechen diese Organisationsstrukturen denen einer modernen Industriegesellschaft. An diesen Strukturen könne sich nur ein Teil der Cree-Gesellschaft beteiligen, der sich von den übrigen Cree dadurch entfernt. Diese Strukturen seien also kulturell unangemessen und führten zu einer Spaltung der Cree. Nach Auffassung des Autors habe es für die Cree allerdings keine Alternative zu diesem Anpassungsprozess gegeben.
Die Arbeit von Peter Dörrenbächer gewinnt durch ihre zahlreichen schematischen Darstellungen und Analyseraster ebenso wie durch die umfangreichen Datentabellen und Aufbereitungen. Das Buch ist auf zweierlei Weise zu lesen und dem interessierten Leser zu empfehlen: Erstens bietet es einen tiefen Einblick in die Lebensweise und politische Rolle der Cree-Indianer im Kontext der kanadischen Souveränitätsdiskussion - nicht zuletzt auch beim letzten Referendum über eine Loslösung von Québec aus dem kanadischen Bund. Zweitens eröffnet die Arbeit dem am Regions- und Institutionalisierungsbegriff Interessierten ein anschauliches und instruktives Beispiel für die Konstruktion von Räumen.
Autorin: Beate Ratter

Quelle: Geographische Zeitschrift, 93. Jahrgang, 2005, Heft 1, Seite 62-63