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Kategorie: Rezensionen

Stefan Kaufmann: Soziologie der Landschaft. Wiesbaden 2005. 369 S.

Erst der Raum, jetzt die Landschaft? Die Entdeckung wie auch Aneignung zentraler Begriffe der Geographie durch die Soziologie schreitet voran. Und dieses erfolgt keinesfalls zum Nachteil der Geographie, wie diese bemerkenswerte Publikation zeigt. Das Buch, offensichtlich hervorgegangen aus dem SFB 541 der DFG mit dem Titel "Identitäten und Alteritäten" setzt sich mit dem Landschaftsbegriff und seiner inhaltlichen Ausfüllung im Rahmen eines "soziologischen Landschaftskonzeptes" auseinander.

Dieser Anspruch markiert auch Aufbau und Gliederung des Werkes, das letzten Endes zweigeteilt ist. Der erste Teil widmet sich einer theoriegeleiteten Betrachtung des genannten soziologischen Landschaftskonzeptes; der zweite Teil untersucht und testet dieses Konzept am Beispiel des American Grid-System als einer Landschaftsordnung der Moderne. Um ein Ergebnis der Studie vorwegzunehmen: beide Teile sind anregend und für Geographen nachdrücklich empfohlene Lektüre, zumal sie sich - naturgemäß - sehr ausführlich auch mit der Landschaft der Sprache und der "Landschaft der Geographen" im Sinne von HARD befassen.
Ausgangspunkt der Studie ist eine theoriegeleitete Betrachtung eines soziologischen Konzeptes. Dabei wird explizit von der Auffassung ausgegangen, dass ein solches Konzept mehr zu sein habe als die Addition gängiger Landschaftsbegriffe, seien es "physisch-biogeographische Umwelten", "ästhetisch-philosophische" oder "geographisch-positivistische Ganzheiten"; metaphysische bzw. naturalistische Landschaftsverständnisse oder "soziozentrische Fassungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse". Ziel der Diskussionen soll eine Konzeptualisierung von Landschaft sein "an Modellen, die gesellschaftliche Naturverhältnisse aus kulturhistorischer Perspektive" reflektieren.
In diesem Sinne beschreibt Teil I der Studie eine differenzierte Auseinandersetzung mit den angedeuteten gängigen Vorstellungen des Landschaftsbegriffes. Ausgangspunkt ist dabei die als Ergebnis der Globalisierungsdebatte sich allenthalben abzeichnende Fragmentierung überkommener räumlicher wie gesellschaftlicher Identitäten und ihr Ersatz durch permanent neue Konfigurationen soziokultureller Konstrukte und Realitäten. Der Verfasser schlussfolgert daraus - in Anlehnung an IPSENs Raumbilder-Konzept -, dass Landschaften als Produkte gesellschaftlicher Aktivitäten einschließlich ihrer sozialen Integration von Natur zu gelten haben, als solche aber auch historisch immer wieder neu geschaffen und definiert werden. Der Verfasser stellt dabei die Analyse von Landschaft als lebensweltliche (Landschaft als historisch gewachsene Struktur und umgangssprachliches Idiom), ästhetische wie naturräumliche Ganzheit ebenso nüchtern-sachlich, zugleich aber objektiv relativierend wie die Kritik holistischer Landschaftskonzepte einschließlich geographischer Diskurse der Vergangenheit in den breiteren Kontext der multidisziplinär geführten Landschaftsdiskussion. Ergebnis der theoriegeleiteten Betrachtungen des ersten Teiles sind Schlussfolgerungen, die "Landschaften als Netzwerke gesellschaftlicher Naturbeziehungen" (S. 150-160) identifizieren. Sie sind zu verstehen als eine Symbiose von materialer Gestalt, strukturierender Regulation, historischem Konstituieren und kulturellem Ausdruck. Als solche sind Landschaften nicht nur äußerst dynamische und ständigem politischen wie gesellschaftlichem Wandel unterworfene Konstrukte, sondern zugleich auch immer phänomenologisch fassbarer Ausdruck ihrer sich verändernden Rahmenbedingungen.
Der zweite Teil befasst sich mit der Exemplifizierung dieser "Landschaftsidee" am Beispiel der US-amerikanischen Kulturlandschaft, ihrer Vermessung, Erschließung und Entwicklung. Das Ohio Ordinance System scheint angesichts seiner Rationalität einerseits, mehr aber noch angesichts seiner staatspolitisch-ideologischen Begründung durch JEFFERSON und die frühen Institutionen der unabhängigen USA in besonderer Weise geeignet, das Anliegen und die Thesen des Verfassers zu untermauern und zu befördern. Die Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte des Kontinents mit der puritanischen Metapher von "God's own land" und der zu erobernden Wildnis über die Rolle und Bedeutung der Frontier bis hin zu JEFFERSONs Demokratieideal des landbesitzenden "free man" - alles das wird mit der Erschließung der kontinentalen Weiten durch das "grid system" und durch "township and section"-Ordnungen kenntnisreich und mit überzeugenden Argumenten interpretiert. Klassifikatorische Prinzipien, wie sie der Ordnung der amerikanischen (Kultur-) Landschaft zugrunde liegen, haben - so der Verfasser - ideengeschichtliche Wurzeln bei MONTESQUIEU und BUFFON; sie werden über JEFFERSON und seine politischen Weggenossen zu objektiviertem Geist als symbiotischer Ausdruck der zuvor genannten Landschaftskomponenten. Anregend und überzeugend sind dabei nicht nur die historischen und literarischen Bezüge zu den Erschließungsideologien des nordamerikanischen Kontinents, sondern immer wieder auch die gut belegten und dokumentierten Reflexionen über gesellschaftspolitische Ideale und ihre landschaftlichen Konsequenzen. Vor allem das, was in Kapiteln 3 (Ästhetische Perzeption), 4 (Philosophische und wissenschaftliche Naturkodierung) und 5 (Politisch-ökonomische Landschaftsformung) des zweiten Teiles ausgeführt wird, bereichert einerseits unser Verständnis der Erschließung des trans-appalachischen Amerika, andererseits aber auch die Komplexität und Ideologie von Landschaftsentwicklung als menschlich-sozialem Konstrukt wie auch als wissenschaftliche Fragestellung.
Insgesamt stellt das hier rezensierte Buch sowohl in seinem theoretisch-diskursiven Teil als auch in seinem praktisch-exemplifizierenden Teil eine begrüßenswerte, nachdenklich stimmende und innovative Ergänzung des geographischen Schrifttums sowohl zur Diskussion des Landschaftsbegriffes als auch zur Landeskunde Nordamerikas dar. Neu ist dabei die argumentativ gut begründete Wiederbelebung traditioneller Landschaftsbegriffe aus soziologischer Perspektive, gepaart mit einer neuen Sinnhaftigkeit und Sinnerfüllung des Phänomens "Landschaft". Aus diesem Grunde sei das Buch nochmals und nachdrücklich empfohlen. Es sollte in keiner Institutsbibliothek fehlen. Es sollte aber auch jedem, der sich mit dem Phänomen "Landschaft" wie mit der Genese und Ideologie der nordamerikanischen Kulturlandschaft befasst, die Anschaffung und Lektüre wert sein!    
Autor: Eckart Ehlers

Quelle: Erdkunde, 60. Jahrgang, 2006, Heft 4, S. 375-376