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Kategorie: Rezensionen

Britta Klagge: Armut in westdeutschen Städten. Strukturen und Trends aus stadtteilorientierter Perspektive - eine vergleichende Langzeitstudie der Städte Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Hannover und Stuttgart. Wiesbaden 2005. 310 S.

Armut, in den meisten Regionen der ("Dritten" und "Vierten") Welt gesellschaftliche Normalität, hält gegenwärtig auch in hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten wie der Bundesrepublik verstärkt Einzug. Obgleich die Armut hier andere Formen und Ausmaße hat, beispielsweise eher subtil als spektakulär in Erscheinung tritt, wirkt sie kaum weniger bedrückend als dort.

Zwar gibt es hierzulande weder die Armengettos am Rande der Großstädte - wie in den USA - noch das Phänomen der Straßenkinder nach südamerikanischem Muster. Gleichwohl machen sich die berufliche Perspektivlosigkeit und die soziale Exklusion vieler Menschen immer deutlicher bemerkbar. Jüngere sind deshalb besonders stark von Armut betroffen, weil der "Um-" bzw. Abbau des Sozialstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die längst nicht mehr das Maß an Sicherheit haben wie die Nachkriegsgeneration: Von der Aushöhlung des "Normalarbeitsverhältnisses" (erzwungene Leih- und Teilzeitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, Scheinselbstständigkeit, Werkverträge etc.) über den durch die erhöhten Mobilitäts- und Flexibilitätserwartungen der globalisierten Wirtschaft noch beschleunigten Zerfall der "Normalfamilie" bis zur "regressiven Modernisierung" des Sozialstaates verschlechtern sich heute die Arbeits- und Lebensbedingungen der Erwerbstätigen wie nachfolgender Generationen.
Richard Hauser sprach 1989 zuerst von einer "Infantilisierung der Armut", weil die Hauptbetroffenen immer jünger wurden, während die Anzahl bedürftiger Rentnerinnen und Rentner nach der 1957 unter Konrad Adenauer durchgeführten Großen Rentenreform spürbar zurückging. Seit der Vereinigung von BRD und DDR hat kein Thema der Armutsforschung so viel Beachtung gefunden wie die zunehmende Kinder-, Mütter- bzw. Familienarmut. Umso mehr verwundert, dass Britta Klagge in ihrer Arbeit keine der zahlreichen Untersuchungen zu diesem Thema berücksichtigt. Lieber stützt sie sich auf Konzepte und Methoden der "dynamischen Armutsforschung", die ins Kreuzfeuer der fachwissenschaftlichen Kritik geraten ist, weil sie mit dem Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) einen wenig aussagekräftigen Armutsindikator benutzt, die Bedeutung der Langzeit- bzw. Dauerarmut unterschätzt und die Entwicklung zur Verfestigung prekärer Lebenslagen weder quantitativ noch qualitativ erfasst hat.
Längst hat die Armut mit vielen (Voll-)Erwerbstätigen das Gravitationszentrum der Gesellschaft und auch die Dörfer erreicht. Trotzdem ist sie im Grunde ein urbanes Phänomen geblieben, das durch die räumliche Polarisierung der (Groß-)Städte fortwirkt und mittlerweile selbst die multiethnischen Metropolen spaltet. Armut konzentriert sich in einzelnen Stadtteilen, die euphemistisch als "Stadtteile mit besonderem Erneuerungs-" bzw. "Entwicklungsbedarf" bezeichnet oder als "soziale Brennpunkte" gebrandmarkt werden. Sozial deprivierte Familien leben häufig in Plattenbausiedlungen am Rande der Metropolen, Einzelpersonen dagegen eher in mehrgeschossigen Mietshäusern des Stadtzentrums, wo die Wohnungen auch für sie noch bezahlbar sind und ihren Bedürfnissen entgegenkommen.
Wie sich die Armut sozialräumlich verteilt und in welchen Stadtteilen sie sich massiert, stellt ein auch politisch umstrittenes, aber für die Erfolgschancen der Gegenstrategien zentrales Problem dar. Mittels sehr detaillierter Einzelstadtanalysen prüft Britta Klagge ihre einleuchtenden Hypothesen, die sich am Bild der sozial und räumlich "gespaltenen Stadt" orientieren. Da Klagge keine eigenen Daten erhoben hat, beschränkt sie sich auf eine Sekundärdatenanalyse, die wiederum darunter leidet, dass der Bezug von Sozialhilfe als zentraler Armutsindikator dient, obwohl sich Klagge der konzeptionellen Probleme, die damit verbunden sind, bewusst ist (vgl. S. 49 ff.). Sehr viel mehr überzeugt die Auswahl der fünf westdeutschen Städte mit jeweils ca. 500.000 Einwohnern (vgl. S. 54 ff.).
Gut lesbar und logisch gegliedert, hätte die als Habilitationsschrift angenommene Studie von Britta Klagge ein Standardwerk der Armuts- wie der Stadtforschung werden können. Denn das Buch enthält viele interessante Gedanken und gibt zahlreiche Denkanstöße, bleibt jedoch eine schlüssige Antwort auf die Frage nach den strukturellen Zusammenhängen zwischen Armuts- und Stadtteilentwicklung schuldig. Von den acht Untersuchungshypothesen, die Britta Klagge ihrer Datenauswertung zugrunde legt (S. 48), bestätigt diese nur wenige, und das auch nur mit bedeutsamen Einschränkungen. Klagge hält das Konzept der "gespaltenen Stadt" für zu undifferenziert, um die Potenziale einer sozialen Stadt(teil)-entwicklung zu erschließen, und zieht ein Resümee, das ihren Ausgangsüberlegungen im Grunde diametral widerspricht: "Sich selbst verstärkende räumliche Polarisierungsprozesse durch kapitalistische Marktmechanismen und politisches Handeln, wie sie im pessimistischen Szenario der sozial und räumlich gespaltenen Stadt postuliert werden, finden in den Untersuchungsstädten nur in jeweils sehr spezifischer Weise statt und werden durch Einflüsse unterschiedlicher Art gebrochen." (S. 245)
Leser/innen, die auf ein Alternativkonzept zu dem empirisch gescheiterten Erklärungsmodell hoffen, werden jedoch enttäuscht. Auf den wenigen verbleibenden Seiten erwarten sie nur vage Andeutungen, während sich die großen, theoriegeleiteten Argumentationslinien der Arbeit immer mehr verflüchtigen. Wenn die soziale Polarisierung im Zuge der Globalisierung, Ökonomisierung und Kommerzialisierung vieler Gesellschaftsbereiche keine räumliche Segmentierung nach sich zieht, wie Britta Klagge meint, müsste die Segregation von Armut (und Reichtum) anders erklärt werden. Der unter Stichworten wie "Pfadabhängigkeit", "Interdependenz" und "Kontingenz" skizzierte, akteursorientierte Ansatz trägt zum Verständnis sich wandelnder "Wohnstandortmuster" der Armen freilich wenig bei. Gegenwärtig stellen sich im selben Problemzusammenhang schon wieder neue Fragen, etwa die, wie sich aufgrund für Arbeitslosengeld-II-Empfänger/innen "unangemessen" hoher Mieten erzwungene Umzüge vieler "Hartz-IV-Haushalte" in deutschen Großstädten sozialräumlich auswirken.
Autor: Christoph Butterwegge

Quelle: geographische revue, 8. Jahrgang, 2006, Heft 1, S. 51-53