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Kategorie: Rezensionen

Hans-Dieter Haas, Simon-Martin Neumair: Wirtschaftsgeographie. Darmstadt 2007 (Geowissen kompakt). 143 S.

Die deutsche Wirtschaftsgeographie lebt, ihr geht es gut: Diese Nachricht vermittelt das Erscheinen eines weiteren Lehrbuchs in einer Reihe jüngerer deutschsprachiger Studienbücher. Es ist ein Einführungstext, der sich auch an Anfänger nichtgeographischer Studiengänge richtet und der auf einer langjährigen Lehrerfahrung seiner Autoren in einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät beruht. Das Buch betont diese Nähe und fokussiert zugleich auf den "Wirtschaftsraum" als das Eigene der Wirtschaftsgeographie. Das klingt sehr klassisch, umfasst aber nicht nur die tradierten Konzepte der Räumlichkeit in der Geographie, sondern auch die neuen, aus den Wirtschaftswissenschaften kommenden Konzepte wie Cluster oder Distrikt.

Eine Reihe, die sich "Geowissen kompakt" nennt, gibt einen engen Raum für die Vermittlung der Grundzüge des Faches vor. Das Buch beginnt, wie viele Lehrbücher beginnen: Kap. 1 definiert das Fach, stellt die Gegenstände und Perspektiven der Forschung dar, nennt seine interne Gliederung und beschreibt Beziehungen zu benachbarten Teilgebieten der Geographie. Kap. 2 "Methodische Grundlagen" führt in Raumkonzepte und Standortüberlegungen ein. Mit der Betonung des Wirtschaftsraumes als dem zentralen Fokus des Faches könnte man fast eine deutsche Pfadabhängigkeit des Denkens vermuten, da noch einmal Wirtschaftslandschaft und Wirtschaftsformation vorgestellt werden. Die pragmatische Sicht der Standortwahl (Standortfaktorenlehre) wird durch aktuelle Nähebegriffe ergänzt. Schließlich werden wichtige Forschungsansätze des Faches, quasi das erste Kapitel vertiefend, relativ ausführlich behandelt.
Kap. 3 berichtet im ersten Teil über die klassischen Theorien zur "rationalen" Erklärung von Standorten (ausführlich: Weber) sowie Standortstrukturen (von Thünen, Christaller) und führt dann zu wahrnehmungsorientierten und strategisch-dynamischen Standortwahlhandlungen. Die strenge "Rationalität" und das Maximierungsziel des Homo oeconomicus in den zuvor dargestellten Modellen werden nun zu unvollständiger und asymmetrischer Information und (gelegentlich widersprüchlichen) Zielsystemen des satisfizers, die nur eine Optimierung von Entscheidungen erlauben, gemildert. Der zweite Teil dieses Kapitels erweitert die Einführung in die bekannten regionalen Wachstumstheorien um die Grundgedanken der geographical economics sowie - mit Blick auf die Entwicklungsländer - um einige modernisierungs- und dependenztheoretische Konzepte. Im langen Kap. 4 wenden sich die Autoren den Konzepten der Organisation des Raumes zu, die die wirtschaftsgeographische Wissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten besonders bewegt haben. Anders als die zuvor dargelegten Theorien zeichnen sich diese neuen Konzepte dadurch aus, dass zeitliche, "historische" Prozesse und gesellschaftliche Bedingungen der Entwicklung zu zentralen Erklärungsdimensionen werden. Vermeintlich individuelles, "rationales" Handeln - wie es die klassischen Theorien annehmen - tritt zurück gegenüber kollektivem, manchmal kooperativem Handeln, das allerlei Zielsetzungen und Kontexten unterliegt. Das macht die neuen Konzepte des innovationsgetriebenen gesellschaftlichen Kontextes für Standortkonfigurationen und Regionalentwicklung (Kap. 4.1: Regulationstheorie und ihre Folgen), der Raumorganisation durch unternehmerisches Handeln (Kap. 4.2: Netzwerke, Cluster, Distrikte und Milieus) und der Raumerweiterung in der Globalisierung (Kap. 4.3) so spannend. Leider zeigt das Buch solche übergeordneten, der Orientierung des Lesers dienende Gedanken nicht auf. Das abschließende Kap. 4.3 (internationale Raumsysteme) beschreibt mit Hilfe weniger Fachzitierungen einige Aspekte der Globalisierung wie Welthandel, Direktinvestitionen und die neuen politisch konstruierten Weltwirtschaftsregionen. Doch bietet es in diesem so wichtigen Themenbereich wenig fachliche Orientierung für angehende Wirtschaftsgeographen. Das mag auch an einer Lücke in der wirtschaftsgeographischen Forschung liegen, aber mit Konzepten wie Globale Wertketten oder Wertnetze, Global Cities, globalen Logistiknetzen, nationalen und regionalen Innovationssystemen oder business systems liegen diskussions- und berichtenswerte Konzepte der gegenwärtigen Wirtschaftsgeographie vor, die eine eigene Geographie globaler Vernetzung begründen können.
Ohne Frage leistet das Buch insgesamt einen guten, auch verständlich geschriebenen und leicht lesbaren Einstieg in das, was das Fach seit langem bewegt. "Raum" als den zentralen Aspekt des Faches Geographie zu benennen, führt auf die eigene fachgeschichtlich begründete Identität zurück. Dabei vermeidet das Buch die allzu oft noch verwendete simple Einteilung des Wirtschaftssystems in drei Sektoren, die längst in der globalen Wirtschaft so nicht mehr gelebt wird. Das ergibt zusammen eine angemessene Einführung, aber wo schlägt das konzeptionelle Herz der Autoren? Es scheint, mehr in einer Verknüpfung von entscheidungsorientierten Ansätzen mit dem raumwirtschaftlichen Ansatz als im Wagen neuer Sichtweisen. Ich finde das Buch nicht mutig genug: Es bleibt stark der Fachtradition verbunden, bietet dort sicher einen guten ersten Einblick, wohlgeordnet, aber es weist an keiner Stelle über die klassischen Grenzen des Faches hinaus. Wohl gibt es frühe Hinweise, etwa auf die Bedeutung von Risiken - mehr natürliche als gesellschaftliche -, die einer stärkeren Beachtung wert gewesen wären. Auch bleibt Vieles begrenzt auf den nachholenden deutschen Diskurs, deutsche Lehrbücher und auch entlegene deutsche Literatur werden mehr zitiert als englische Literatur. In der Kürze geraten Erklärungen nicht immer gut. Schließlich noch eine allgemeine Bemerkung zur "Lehrbuch-Landschaft" der deutschen Wirtschaftsgeographie: Auch dieses Lehrbuch hat wenig zu sagen über Handlungs- und Gestaltungskonsequenzen (und deren Methoden), die sich aus dem erweiterten Wissen der Wirtschaftsgeographie über Raumstrukturen und deren Entwicklung im Zeitalter der Globalisierung ergeben. Wirtschaftsgeographie, so wird auch hier schnell deutlich, ist eine Expost-Wissenschaft, die vor allem Wirkungen analysiert, aber wenig Anleitung zur aktiven, zukunftsorientierten Gestaltung bietet. Dieses Lehrbuch - wie viele andere auch - fördert zu wenig den Mut der Studierenden zum Nachdenken über die Zukunft und ihre Gestaltung sowie die Normen des eigenen Handelns: Es weckt zu wenig Neugier, weder auf die zukünftige räumliche Ordnung und Vernetzung der Welt und ihre Chancen und Gefährdungen noch auf neue Forschungsperspektiven, die ein anderes Licht darauf werfen könnten. So bleibt festzuhalten: Das Buch ist ein weiteres nützliches Werkzeug für wirtschaftsgeographische "Einsteiger", aber es sollte durch "sperrigere" Literatur ergänzt werden.
Autor: Eike W. Schamp

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 51 (2007) Heft 3/4, S. 253-254