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Kategorie: Rezensionen

Michael Latzer u. W. Stefan Schmitz: Die Ökonomie des eCommerce. Marburg 2002. 210 S.

Eigentlich kommt dieses Buch zu spät: Der New Economy-Boom ist vorbei und nach der desaströsen Dot-Com-Pleite beißen sich die Ex-Apologeten der schönen neuen Netzwelt eher auf die Zunge, als sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, warum ihre Behauptungen von einst falsch waren.

Eben hierbei hilft das vorliegende Buch, die überarbeitete Fassung eines Gutachtens für den Deutschen Bundestag. Zunächst wird die - prominent von Alan Greenspan vertretene - makroökonomische Grundthese relativiert, das hohe inflationsneutrale Wachstum der 1990er Jahre in den USA und die zugleich sinkende Arbeitslosigkeit seien auf dramatische Produktivitätsfortschritte und die Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien zurückzuführen. Auf Grund von "Verzerrungen der Datenbasis" (38) ziehen Verf. die Beschleunigung des Produktivitätswachstums in der zweiten Hälfte der 90er in Zweifel. Der gesamtwirtschaftliche Produktivitätsschub sei niedriger als häufig behauptet und in weit geringerem Maße für das Wachstum verantwortlich als etwa der Kapitalimport - allerdings argumentieren Verf. selbst von einem konservativen Standpunkt, der mit den statistischen Methoden des Fordismus eine Entwicklung der Produktivkräfte zu negieren versucht.
Anschließend geht es um die Neue Ökonomie in ausgewählten G-7-Ländern, im Euro-Raum und in Deutschland. Der gemessene, wenn auch fragliche Anstieg des Produktivitätswachstums in den USA findet in Frankreich, Großbritannien, Kanada und der Euro-Zone (abgesehen von kleineren Ländern) keine Entsprechung. Hier wird auch deutlich, warum der Bundestag die Studie in Auftrag gab: Niveau und Dynamik der Nachfrage nach I&K-Technologien seien in Deutschland unterdurchschnittlich. Auch auf der Angebotsseite zeige sich "ein internationaler Wettbewerbsnachteil" (64), Deutschland bewege sich auf dem Niveau von Irland, Korea, Polen und Portugal. Im Duktus der üblichen Standortdebatte wird an Hand umfangreichen Zahlenmaterials der übliche Befund produziert: Deutschland hat die Entwicklung verschlafen. Eine "industrieökonomische Analyse" widmet sich der "Digitalen Ökonomie" (66). Zu deren Verständnis bedürfe es keiner neuen Volkswirtschaftstheorie. Zentrale Charakteristika der Digitalen Ökonomie seien Netzeffekte, wachsende Skalenerträge und positive Rückkopplungseffekte, die mit veränderten Unternehmensstrategien einhergehen - intensivierte Kooperation auch mit Wettbewerbern ("Coopetition") sowie mit Produzenten komplementärer Güter, "Follow-the-free", "Multi-Channel" und "Lock-In"-Strategien und verstärkte Marktsegmentierung ("Versioning", 87). Dabei handelt es sich um modisch benannte Verwertungsmodelle von Unternehmen, die im elektronischen Handel involviert sind und sich mit Hilfe dieser Strategien an Besonderheiten der Warenzirkulation im und mittels Internet assimilieren - an die Nichtausschließbarkeit (Güter können der Allgemeinheit nur mit hohem Aufwand oder überhaupt nicht vorenthalten werden) und an die Nichtrivalität (der Gebrauch des Gutes durch eine Person reduziert nicht die Menge oder Qualität des Gutes für andere Personen) im Konsum der digitalen Güter: Daten sind nicht knapp und können ohne Qualitätsverlust beliebig oft kopiert und verbreitet werden, was ihre Verwertung erschwert.
Empirisch und analytisch zeigen Verf. die Unhaltbarkeit populärer Mythen des elektronischen Handels: er nähere sich dem idealen, friktionslosen Markt der theoretischen Mikroökonomie, daher sei die Intensität des Wettbewerbs in diesem Bereich hoch; auf Grund sinkender Transaktionskosten vollziehe sich eine weitgehende "Disintermediation" (z.B. Umgehung des Zwischenhandels); eCommerce führe zu Standortunabhängigheit und Deterritorialisierung; er bewirke einen Beschäftigungsschub. Sie räumen aus Sicht der dominierenden neoklassischen/neoliberalen Volks- und Betriebswirtschaftslehre mit einigen vulgärökonomischen Thesen auf, ohne selbst eine überzeugende Erklärung für Aufstieg und Fall der Neuen Ökonomie präsentieren zu können. Entsprechend identifizieren sie die zentrale wirtschaftspolitische Herausforderung durch eCommerce in bekannter Weise als Beseitigung neu entstandener Rechtsunsicherheiten in den Bereichen Kartellrecht, Arbeitsrecht, Datenschutz, v.a. beim Schutz geistigen Eigentums.
Autorin: Sabine Nuss

Quelle: Das Argument, 45. Jahrgang, 2003, S. 491-492