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Kategorie: Rezensionen

Sarah Wagenknecht: Kapitalismus im Koma - Eine sozialistische Diagnose. Berlin 2003. 160 S.

Den Hauptteil des Buches bilden Wirtschaftskolumnen, die zwischen Dezember 2001 und Juli 2003 in der Tageszeitung Junge Welt erschienen sind und Themen wie Steuerreform und Rürup-Kommission behandeln. Gekleidet in kritisch-provozierende Fragen vertritt Verf. v.a. drei Punkte: Die aktuellen Reformen seien eine "Interessenpolitik" (66) der Umverteilung von unten nach oben, notwendig sei aber eine Politik der Nachfragesteigerung, und ohnehin sei der Kapitalismus am Ende. Dabei bleibt ihre Interessenanalyse dualistisch: das Kapital ist Gewinner, die Arbeiterklasse und der - aus parteitaktischen Gründen erwähnte - Mittelstand sind Opfer. Die "herrschende Politik" sieht sie allein vom "Klasseninteresse" gelenkt (88); die von der materialistischen Staatstheorie herausgearbeitete ›relative Autonomie des Staates‹, das Terrain, auf dem um soziale Kompromisse gerungen wird, bleibt ausgeblendet.

Weiter analysiert Verf. die "Drecksarbeit" der SPD/PDS-Koalition in Berlin - ebenfalls dualistisch: "Hauptleidtragende der Koalitionsvereinbarung sind [...] die Schwächsten; getroffen werden allerdings auch beträchtliche Teile der Mittelschichten. Alles dagegen, was die tatsächlich Reichen irgendwie behelligen könnte [...], bleibt sorgsam ausgespart." (51) Das ist wohl richtig, doch versperrt die rein ökonomietheoretische Analyse den Weg, nach der alltäglichen Reproduktion des Kapitalismus zu fragen. Menschen tauchen nur als Opfer von Kapitalinteressen auf, von Armut ist zwar die Rede, aber sie wird v.a. als Kostenfaktor und auf der Ebene fehlender Nachfrage behandelt. Dabei finden sich deutliche Anklänge an den Keynesianismus, der "sympathischer" sei "als das Abwürgen jeder konjunkturellen Regung durch dumpfbackene Austeritätspolitik"; "staatliches deficit spending" sei "die profitkonformste Antwort auf das kapitalistische Nachfrageproblem" (54). Folgerichtig plädiert Verf., um die Lage der arbeitenden Klasse zu verbessern, nur für Lohnerhöhungen. Den Schluss bildet ein Traktat für den Sozialismus und gegen die Barbarei. Darin verspricht sich Verf. eine menschenwürdigere Gesellschaft von der Sozialisierung der größten Wirtschaftskonzerne. Auch hier denkt sie die Verbesserung der Lebensbedingungen lediglich mit Keynes und nicht auf Überwindung der Ausbeutung hin; die Analyse der Triebkräfte revolutionärer Veränderung wird durch die Hoffnung ersetzt, der Kapitalismus zerstöre sich selbst: "Statt über kapitalistische Effizienz und kreatives Unternehmertum sinnieren stockkonservative Leitartikler über ein möglicherweise Jahrzehnte anhaltendes Siechtum der westlichen Ökonomien" (34) - selbst neoliberale Protagonisten sind also desillusioniert und können nur noch zusehen, wie der Kapitalismus dahinstirbt.
Der Versuch, die Hegemonie- und Kriegspolitik der USA mit der Zweiteilung der Welt in Arm und Reich, der deutschen Innenpolitik, der Suche nach Alternativen und einem neuen Europa zusammenzudenken, ist wenig systematisch und bleibt in politischer Rhetorik stecken. "Das Machtkartell der Giganten ist auflösbar, wenn Eigentum wieder zum Wohle der Allgemeinheit dienstbar gemacht wird", indem Mobilität, Kommunikation, Bildung, Alterssicherung "dem Zugriff privaten Kapitals und damit der Logik maximaler Renditen entzogen werden" (149). Die Behauptung, Europa werde von einem Machtclub aus 500 Wirtschafskonzernen beherrscht, ist in dieser Form eine Verschwörungstheorie. Würden die Konzerne "entflochten", meint Verf., "und ihre Betriebs- und Vertriebsstätten, ihre Anlagen und ihre Infrastruktur mehrheitlich ins Eigentum jener Länder übergeben, auf deren Territorium sie stehen, bekäme Europa nach innen und außen ein neues Gesicht. Denn dann endlich würden all die Veränderungen möglich, deren Umsetzung bis heute am Widerstand der Konzernlobby scheitert" (159). Sie selbst stellt die Frage, wer das umsetzen soll, und antwortet mit der Aufforderung, die Menschen müssten sich "querstellen" und ihr "Menschenrecht auf ein würdiges, sozial gesichertes Leben ohne Angst einfordern" (160). - Insgesamt argumentiert Verf. mit ökonomischem Sachverstand, aber ökonomistisch. Von marxistischen Theorien, die den Staat als ›Verdichtung von Kräfteverhältnissen‹ (Poulantzas) begreifen und das Verhältnis von Akkumulation und Regulation analysieren, scheint sie nichts zu wissen. Das führt zu Fehl- und Kurzschlüssen; sie reduziert den Sozialismus auf Sozialisierung und verkennt die Wirkungsmächtigkeit des Kapitalismus in der Alltäglichkeit des Lebens.
Autor: Ralf Brodesser

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 146-147