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Kategorie: Rezensionen

Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003. 704 S.

Verf. hat sich einer Leerstelle der bisherigen NS-Forschung angenommen: des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS (RuSHA). Sie untersucht dessen mörderische Tätigkeit bis zur deutschen Niederlage, der Schwerpunkt liegt auf der Zeit der territorialen Expansion des Deutschen Reiches. Die Bedeutung des RuSHA wird v.a. anhand des Einflusses der von ihm vertretenen rassenpolitischen Neuordnungsvorstellungen auf die deutsche Bevölkerungspolitik in den besetzten Gebieten untersucht. Dieser Komplex ist für das Verständnis der nazistischen Verbrechen wichtig, da die Deportation und Ermordung von ›Fremdvölkischen‹ auf der einen und die Ansiedlung von ›Volksdeutschen‹ auf der anderen Seite "gewissermaßen zwei Seiten derselben Medaille" sind (30).

Nach Verf. müssen die Kriterien des RuSHA vor allem als ›rassische‹ verstanden werden, die im Verlauf des Krieges in allen besetzten Teilen Europas gegen konkurrierende Selektionsmodelle durchgesetzt wurden. Vor allem gegen den Widerstand einer eher um funktionale Selektionskriterien bemühten deutschen Zivilverwaltung, gelang es den ›Rasseexperten‹, eine Selektionspraxis durchzusetzen, nach der das "dominierende Kriterium bei der Klassifikation dieser Menschen [...] ihr ›Rassewert‹" wurde (301). So wie diese Personengruppe damit in das "Zentrum der europaweiten Ausleseverfahren und Umsiedlungsprozesse" (608) rückte, avancierte das RuSHA zur "Koordinationszentrale der SS-Siedlungs- und Rassenpolitik" (10). Verf. versucht dies mit regionalen Fallstudien zu belegen, die den gesamten von Deutschland besetzten Kontinent abdecken sollen. Beispielsweise hatte die Annektion der westpolnischen Gebiete das Problem aufgeworfen, wie die dort heimische Bevölkerung staatsrechtlich zu behandeln sei. Da die Bindung der Staatsangehörigkeit an Volkszugehörigkeit vorausgesetzt wurde, gingen alle vorgelegten Modelle von einer Selektion der Bevölkerung aus, die Menschen ausfindig machen sollte, die als ›Volksdeutsche‹ einen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft hätten. Die Übrigen sollten - in Anlehnung an die Kolonialgesetzgebung - in den Status von ›Schutzangehörigen des Deutschen Reiches‹ gedrückt und der Willkür der deutschen Lebensraumplanung ausgeliefert werden. Uneinigkeit bestand jedoch hinsichtlich der anzuwendenden Selektionskriterien.
Im ›Reichsgau Wartheland‹, einer der drei neu geschaffenen Ostprovinzen, wurde zu diesem Zweck bereits im Oktober 1939 die ›Deutsche Volksliste‹ (DVL) eingeführt, die einheimische Bevölkerung zunächst in Polen auf der einen und ›Volksdeutsche‹ auf der anderen Seite getrennt und letztere in vier abgestufte Gruppen selektiert. Das zentrale Kriterium, anhand dessen ein Antragsteller in eine der vier Gruppen aufgenommen wurde, richtete sich jedoch nicht - wie Verf. behauptet - danach, ob die betreffende Person "kraft Sprache und Abstammung klar als ›Deutscher‹ zu erkennen" (Gruppen I und II), oder ob die "deutsche Abstammung nicht ganz klar nachweisbar" (Gruppen III und IV) war (260), sondern in die DVL wurde eingetragen, wer - so der Erlass des Reichsstatthalters - entweder ein "Bekenntnis zum deutschen Volkstum in der Zeit der völkischen Fremdherrschaft" abgelegt hatte oder über mindestens zwei ›deutsche‹ Großeltern verfügte (Quelle: Richtlinien für die Erfassung der deutschen Volkszugehörigen in der Deutschen Volksliste v. Jan. 1940, APP 406/1106, APP = Staatliches Archiv Poznan). Im Zentrum steht also das politische Bekenntnis - biologische oder rassisch-physiologische Kriterien tauchen nur am Rande auf - und werden als eindeutiges Selektionskriterium abgelehnt: "Als sichere Beurteilungsgrundlage für die deutsche Volkszugehörigkeit können die Rassenmerkmale [...] nicht herangezogen werden", heißt es dazu in der Dienstanweisung für die DVL-Kommissionen (ebd.). Zeitgleich sind Versuche des RuSHA feststellbar, auf die Selektionen durch die DVL Einfluss zu nehmen, von denen es ausgeschlossen war. Das RuSHA drang darauf, die Eintragung in die DVL an die ›rassische Eignung‹ des Antragstellers zu koppeln - und scheiterte an dem Widerstand der zivilen Verwaltung. Die Situation änderte sich erst mit einem Erlass Himmlers vom 30.9.1941, der allerdings in seinem Regelungsanspruch hinter die Forderungen des RuSHA zurückfiel. Von einem Einbruch der ›Rasseexperten‹ in das DVL-Verfahren kann keine Rede sein, sondern vielmehr von einem Kompromiss zwischen dem SS-Komplex und der zivilen Verwaltung. Im Gegensatz zu Heinemanns Auffassung gelang es dem RuSHA keinesfalls, utilitaristisch geprägte Selektionskriterien, die auf einer ideologischen Anrufung des Rasse-Subjekts beruhten, durch unmittelbar physiologische Auslese zu ersetzen oder auch nur bei der DVL eine "exemplarische Verbindung von ›Rasse‹ und ›Deutschtum‹" durchzusetzen (281). Bis zuletzt scheinen v.a. politische Faktoren die Aufnahmekriterien bestimmt und sich gegen biologische Selektionskriterien gerade dann durchgesetzt zu haben, wenn diese die Besatzungsherrschaft zu erschweren drohten. Dabei sind beide - politisch-ideologische und biologisch-physiologische - konkurrierende und sich zum Teil ergänzende Dimensionen des nazistischen Rassebegriffs. Trotz dieser Einschränkungen kann das Agieren des RuSHA im ›Wartheland‹ im Vergleich zu den beiden andere Ostprovinzen Danzig-Westpreußen und Oberschlesien als erfolgreich bezeichnet werden: Nachdem sich die Praxis im ›Wartheland‹ eingespielt hatte, wurde das DVL-Verfahren durch einen Erlass des Reichsinnenministeriums auf alle Ostprovinzen ausgedehnt. Auch hier überschätzt Verf. den Einfluss Himmlers oder gar des RuSHA wenn sie behauptet, dass dieser Erlass des Reichsinneministeriums auf einen früheren Erlass Himmlers zurückging, diesen angeblich sogar "komplett übernahm" (264). Das Gegenteil war der Fall, Himmler kopierte zum Teil fast wörtlich die DVL-Bestimmungen des ›Warthelands‹.
Natürlich versuchte das RuSHA auch in den beiden anderen Ostprovinzen, rassische Selektionskriterien durchzusetzen. In Oberschlesien wurde es dabei mit einem Reichsstatthalter konfrontiert, der sich schlichtweg weigerte, Himmlers Erlass zur ›rassischen Musterung‹ der Abteilung III, die hier ca. 1 Mill. Menschen umfasste, umzusetzen. Nach langwierigen Auseinandersetzungen wurde ein Kompromiss zugestanden: Das RuSHA durfte die mit 50 000 Menschen wesentlich kleinere Gruppe IV überprüfen. Ob diese Musterungen jedoch angesichts der sich wendenden Kriegslage auch tatsächlich stattfanden, kann Verf. nicht angeben, generell lassen sich in der Forschung dazu keine Angaben finden. Angesichts der sich für das Deutsche Reich verschlechternden Kriegslage ist an der Umsetzung zu zweifeln. - Aus Sicht des RuSHA verheerender waren die Ereignisse in Danzig-Westpreußen. Der dortige Reichsstatthalter war zwar nicht grundsätzlich gegen eine ›rassische Musterung‹ von Zweifelsfällen, diese sollten aber nicht vom RuSHA, sondern vom Rassenpolitischen Amt durchgeführt werden, das der NSDAP und damit dem Reichsstatthalter als Gauleiter unterstand. Der Erlass Himmlers vom 30.9.1941, der die rassische Musterung der Gruppe III vorschrieb, änderte daran wenig: Dem RuSHA blieb die Musterung der in die DVL eingetragenen Personen untersagt. Der Reichsstatthalter ging noch weiter und forderte seine Beamten auf, ein RuSHA-Musterungsergebnis selbst dann zu ignorieren, wenn es in seltenen Fällen vorlag. Das Ergebnis der ›Rasseexperten‹ - so ein Erlass vom 3.2.1943 an alle DVL-Dienststellen - ist "für die Entscheidung der Zweigstellen und Bezirksstellen der Deutschen Volksliste nicht als bindend anzusehen" (Quelle: APB 9/380, Bl. 243; APB = Staatliches Archiv Bydgoszcz).
Das DVL-Verfahren avancierte bis Ende des Krieges zum mit Abstand größten Germanisierungsprojekt der deutschen Besatzer und erfasste schließlich ca. 2,8 bis 3 Mill. Menschen. In Danzig-Westpreußen und Oberschlesien waren ca. 60 % der gesamten einheimischen Bevölkerung erfasst. Davon waren "knapp zwei Millionen Menschen" von Himmler und dem RuSHA für eine "Rassenauslese" (260) vorgesehen. Gesicherte Erkenntnisse über die rassische Selektion liegen jedoch - dies muss auch Verf. konstatieren - lediglich über einem Bruchteil von ca. 100 000 v.a. im ›Wartheland‹ vor. Und auch wenn Verf. anführt, dass sicher nachweisbar sei (268), dass auch in den anderen Ostprovinzen mit Selektionen durch das RuSHA begonnen worden war, weisen alle verfügbaren Informationen auf eine breite Niederlage der Bemühungen des RuSHA hin. Obwohl Verf. über die empirische Grundlage verfügt, das Scheitern der ›Rasseexperten‹ zu erkennen, kommt sie zu dem Schluss, dass es dem RuSHA gelungen sei, den ›Rassewert‹ als "das dominierende Kriterium bei der Klassifikation dieser Menschen" durchzusetzen und damit den Selektionsprozess "maßgeblich mitzubestimmen" (301). Damit beraubt sie sich gleichzeitig der Chance, nach den Gründen zu fragen, die die zivile Verwaltung zu ihrem ›Widerstand‹ veranlasste. Die erhaltene Überlieferung lässt vielmehr den Schluss zu, dass es sich bei der DVL nicht um eine "Kopplung von ›Volkszugehörigkeit‹ an das Kriterium des ›Rassewerts‹" (260) oder um eine "exemplarische Verbindung von ›Rasse‹ und ›Deutschtum‹" (281) gehandelt hat. Dieses Begriffspaar (Volkstum und Rasse) bezeichnete vielmehr zwei konkurrierende Germanisierungskonzepte und steckte letztlich den Rahmen einer wichtigen Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Besatzungsbehörden ab, was unter ›nationalsozialistischer Germanisierungspolitik‹ zu verstehen sei. Während das RuSHA darin für ›Rasse‹ als zentrales Selektionskriterium plädierte (und verlor), setzte v.a. die zivile Verwaltung auf den Begriff ›Volkstum‹. Letzteres, gefasst als - im Vergleich - offeneres Modell, das v.a. politisches Wohlverhalten, kulturelle Assimilation oder zumindest Assimilationsbereitschaft, ökonomische und soziale Leistungsfähigkeit der Antragsteller in den Mittelpunkt rückte, schien aus Sicht einer Besatzungsverwaltung im Krieg wesentlich funktionaler.
Schwerwiegender jedoch als die Mängel mancher Einzelfallstudien erweist sich eine die ganze Studie durchziehende begriffsanalytische Unschärfe. So erwähnt Verf. kurz, welches Verständnis sie dem Begriff ›Rasse‹ zu Grunde legt: Der Definition der Täter folgend, wird er als der wissenschaftlich verbrämte und messbare Glaube an die "erscheinungsbildliche Differenz" (27) zwischen Menschengruppen verwendet. Er wird jedoch selbst nicht wieder analytisch in ein Verständnis von Rassismus eingebunden und expliziert. Die Konsequenzen ihrer begrifflichen Defizite werden an einem Beispiel aus Danzig-Westpreußen deutlich: Hier stand die SS unter großem Druck, 12 000 zum Teil bereits in Lagern lebende ›volksdeutsche‹ Familien auf eigenen Höfen unterzubringen, die jedoch in nicht ausreichender Zahl zur Verfügung standen, da nach den bis dahin erfolgten Selektionen ›lediglich‹ 3 000 polnische Familien vertrieben werden sollten. Zur Lösung einigten sich die beteiligten SS-Dienststellen, die Deportationsbestimmungen zu verschärfen, an den gestiegenen Landbedarf anzupassen und auch die ›deutsch-polnische Zwischenschicht‹ einer rassischen Musterung zu unterwerfen (249f). Dieser Vorgang wird von Verf. als Ausweis des RuSHA-Einflusses auf die Siedlungspolitik gedeutet, obwohl sich eine konträre Lesart geradezu aufdrängt. Die geplanten ›rassischen‹ Selektionen (ob sie tatsächlich stattfanden, erwähnt Verf. nicht) waren nämlich in doppelter Hinsicht beschränkt: zum einen in ihren Beweggründen, weil sie ursächlich nicht auf eine originär ›rassische‹ Siedlungsplanung zurückgingen - weitere Selektionen wurden erst dann in Erwägung gezogen, als eine Ausweitung der Vertreibungsaktionen erforderlich schien, die ihrerseits ihre Motive wiederum nicht in ›rassischen‹ Planspielen der Verantwortlichen fand, sondern in der Absicht, Unterkünfte für ›Volksdeutsche‹ zu schaffen; zum anderen aber in ihrer Reichweite, da mit diesen ›rassischen Musterungen‹ nicht etwa eine Offensive des RuSHA in Danzig-Westpreußen eingeleitet, sondern von diesem lediglich eine auf diese Problemstellung begrenzte ›Lösung‹ erwartet wurde, also die Freimachung von Unterkünften für in Lager lebende ›Volksdeutsche‹.
Eine Analyse, die die Frage ergründen wollte, welchen Einfluss das RuSHA und die von diesem vertretenen ›rassischen‹ Neuordnungsvorstellungen hatte, wird ohne einen analytischen Zugang nicht zu haben sein, der die Germanisierungspolitik als Form rassistischer Herrschaftspraxis begreift, als Dialektik von ideologischer Prämissensetzung und imperialistischer Kriegszielplanung. Dabei wird es nicht ausreichen, auf die Existenz und den Einfluss ›rassischer‹ Lebensraumphantasien hinzuweisen, diese müssen vielmehr mit den gleichzeitig formulierten v.a. ökonomischen und sicherheitspolitischen Zielen der deutschen Besatzungspolitik vermittelt werden. Und dabei wird es nicht darum gehen zu klären - wie Verf. das zu meinen scheint, wenn sie an einer Stelle den Einfluss politischer Elemente auf die Selektionskriterien konzedieren muss, diese Einsicht aber sofort mit der Bemerkung neutralisiert, dass dies jedoch "keinesfalls gleichbedeutend war mit einer Aufgabe der rassischen Hierarchisierung" (247) - was denn nun das entscheidende Moment gewesen sei, Ideologie oder Interesse, sondern um das Aufweisen deren gegenseitiger Durchdringung.
Autor: Gerhard Wolf

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 619-622