Herr HMarkus Hesseesse, woran arbeiten Sie gerade?

Im Rahmen der Arbeitsgruppe für Geographie und Raumplanung der Universität Luxemburg, Teil der Fakultät für Humanwissenschaften, arbeiten wir zu theoriegeleiteten und empirischen Fragestellungen im Kontext von Stadt- und Regionalentwicklung, ökonomischen Netzwerken und ‚flows' sowie metropolitaner Governance. Dabei spielen zwei Untersuchungsrichtungen eine wichtige Rolle: zum einen die empirische Bearbeitung von Grundsatzfragen, die in Geographie und Raumplanung von allgemeiner Relevanz sind (wie z. B. Suburbanisierung oder Renaissance der Innenstädte, logistische Wertschöpfungsketten im Raum, stadtpolitische Strategien, Metropolregionen) sowie ihre theoriegeleitete Interpretation und Hinterfragung.

Zum anderen ist auch das regionale Setting in Luxemburg ein Anknüpfungspunkt unserer Forschung. Das Land weist eine Reihe von Spezifika bzw. recht ungewöhnlichen Merkmalen auf, vor allem unter Berücksichtigung der eher geringen Größe von Staat bzw. Hauptstadt: eine sehr dynamische Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft in den letzten zwei bis drei Dekaden, einen hohen Grad an Internationalisierung, wenn nicht Metropolisierung von Ökonomie und Arbeitsmarkt sowie einen damit einhergehend großen Problemdruck auf den Gebieten Wohnungsmarkt, Mobilität und raumbezogener Steuerung.

Auf lokaler und regionaler Ebene spielen daher die Interaktion und der Wissenstransfer zwischen Forschung und Praxis eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich auch daran, dass der Lehrstuhl für Stadtforschung über eine Dauer von fünf Jahren durch die Stadt Luxemburg gestiftet wurde - in der Absicht, auf diese Weise zur Generierung von Wissen im Bereich von Stadtentwicklung und Stadtforschung beizutragen. Dies geschieht praktisch auf verschiedenen Wegen: So wurde an der Universität eine Kontaktstelle zur Information über Fragen der europäischen Städtepolitik eingerichtet ("Cellule nationale d'information pour la politique urbaine/CIPU"), deren Personal- und Sachmittel neben der Universität von drei kommunalen Partnern (Gemeinden Esch und Luxemburg, Kommunalverbund Nordstad) sowie drei Ministerien (Nachhaltige Entwicklung, Wirtschaft, Wohnungswesen) finanziert werden, darunter ein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Im Rahmen von CIPU informieren wir über aktuelle Themen und Entwicklungen auf europäischer Ebene, über Förderprogramme und Arbeitsgruppen der Mitgliedstaaten, die für die städtische Politik und Planung von Bedeutung sind.

Ein weiteres Aktionsfeld betrifft die für 2014 erwartete Verlegung des Universitätscampus in den Süden des Landes. Auf dem Gebiet der Gemeinden Esch und Sanem entsteht auf einem ehemaligen Stahlwerksstandort "Belval-Ouest" ein neues Stadtviertel, das als eines der größten und ambitioniertesten städtebaulichen Entwicklungsvorhaben in Europa gilt. Seit Ende der 1990er Jahre wird hier eine Baufläche von ca. 120 ha für neue Nutzungen entwickelt. Auf der Basis eines Masterplans von Jo Coenen Architects, Maastricht, realisieren der Developer Agora sowie der öffentliche Fonds Belval diesen neuen Standort, auf dem bereits Büro- und Handelsflächen (etwa die Dexia-Bank oder die Belval Plaza-Shopping Mall) sowie Eigentumswohnungen errichtet wurden. Seit dem letzten Jahr befindet sich auch die ca. 25 ha große "Stadt der Wissenschaften" (Cité des Sciences) im Bau, die neben dem künftigen Campus der UL auch zwei außeruniversitäre Forschungsinstitute aufnehmen wird. Im Endausbau werden in Belval ca. 7.000 Studierende sowie 3.000 Lehrkräfte und Forscher arbeiten.

 

Abbildung 1: Der Standort Belval im Süden Luxemburgs im Juni 2010, mit dem Dexia-Bürogebäude (links) und Belval Plaza (rechts) im Vordergrund, dem noch in Betrieb befindlichen Stahlwerk von ArcelorMittal im Bildmittelpunkt sowie dem Stadtgebiet von Esch-sur-Alzette im Hintergrund. Die Bahnlinie entlang des rechten (südlichen) Bildrands verläuft direkt parallel zur luxemburgisch-französischen Staatsgrenze (Quelle: mit freundlicher Genehmigung durch Le Fonds Belval/Rol Schleich)

Am 16. Oktober 2009 hat die Stadt Esch-sur-Alzette im Dexia-Auditorium in Belval ein internationales Colloquium veranstaltet, das dem Zusammenhang von Universität und Stadtentwicklung gewidmet war. Anlass hierfür waren der Baubeginn für die ersten Gebäude der "Cité des Sciences": das "Maison du Savoire" sowie das "Maison des Sciences Humaines". Vertreter von Agora und vom Fonds Belval, von der Universität Luxemburg sowie der Partnerstädte von Esch (etwa Coimbra/Portugal, Köln/Deutschland, Rotterdam/Niederlande, Lille-Nord Pas de Calais/Frankreich sowie Lüttich/Belgien) haben ihre Erfahrungen mit Blick auf die Rolle der Wissenschaft für die Stadtentwicklung ausgetauscht und mögliche Erwartungen für Luxemburg diskutiert. Anlässlich dieser Tagung hat unsere Arbeitsgruppe den Vorschlag gemacht, ein "Observatoire Belval" einzurichten. Dieses Observatoire stellen wir uns zunächst als eine Informationsplattform für relevante öffentliche und private Akteure vor, die die weitere Entwicklung am Standort Belval hinsichtlich ihrer Bedeutung für Stadt und Region verfolgen und dokumentieren soll. In weiteren Schritten könnte daraus ein Netzwerk entstehen, das sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Zusammenhang zwischen Universität bzw. Forschung und Wissen einerseits und der Stadt- und Regionalentwicklung andererseits befasst.

Inhaltlich soll dieses Netzwerk zwei Dinge leisten: Erstens sollen die mittel- und längerfristigen Wirkungen des Standorts in den Blick genommen werden. Wie wird aus Belval ein gelebter "Teil der Stadt", wie wird es "angenommen", welche Effekte strahlt es in der Region aus? Unter welchen Bedingungen könnte aus Belval eine Art "science city" werden, wie könnte ein solcher Status durch frühzeitiges Agieren der Beteiligten gefördert werden ...? Zweitens ist uns die Generierung von Wissen in umgekehrter Richtung wichtig - nämlich das Lernen von vergleichbaren Fällen und der Transfer anderer, auch internationaler Erfahrungen in unsere Region. Diese Arbeit könnte sich auf unterschiedliche Ebenen beziehen. Ein Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass Forschung, Technologie und Wissen in den vergangenen Jahren einen herausragenden Stellenwert in der Regional- und Stadtforschung erhalten haben. Vielerorts wurden "science cities" untersucht, Technologie- und Forschungsparks, moderne industrielle Distrikte u. ä., aber auch räumlich nicht gebundene Wissensnetzwerke. Unser wissenschaftliches Ziel ist es, der Rolle von Wissen und Forschung für die Stadtentwicklung nachzugehen (s. u.). Zugleich soll sich diese Initiative mit der konkreten Entwicklung am Standort Belval auseinandersetzen und praktische Fragen der Standortentwicklung verfolgen. Diese Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis könnte auch dazu beitragen, Pfade der Integration des Standortes Belval in sein städtisches und regionales Umfeld aufzuzeigen.

Diese Integration ist auch deshalb keine leichte Aufgabe, weil das Vorhaben Belval gemessen an Bauvolumen, Laufzeiten und Kosten (Investitionssumme: ca. 1 Mrd. Euro) zweifellos ein typisches Großvorhaben der Stadtentwicklungspolitik darstellt. Die Realisierung solcher Planungsvorhaben ist bei allen Beteiligten zwangsläufig mit besonderen Herausforderungen, Risiken und Irritationen verbunden, nicht selten werden die ursprünglichen Planzahlen real weit überschritten (was auch in Belval der Fall ist). Diese Problematik erscheint aufgrund der Maßstäblichkeit der Großprojekte praktisch immanent; viele, wenn auch nicht alle Konflikte sind kaum vorhersehbar und insofern unvermeidbar. So richtet sich eine aktuelle Frage aus Sicht der künftigen Nutzerinnen und Nutzer der Cité des Sciences auf die Umwelt- und Aufenthaltsqualität des Standorts. Die vom Masterplan angestrebte hohe architektonische und gebäudeklimatische Qualität der ersten Universitätsgebäude wird mit Blick auf die Atmosphäre der Cité des Sciences kritisch diskutiert. Der Campus wurde bewusst nicht als geschlossener, weitläufiger Campus nach angelsächsischem Vorbild angelegt, sondern besteht im wesentlichen aus wenigen, hochverdichteten Bauformen. Die Luxemburger Erfahrungen mit einem relativ stark verdichteten, zugleich monofunktionalen Bürostandort - dem Banken- und Europaviertel Kirchberg - stehen hier offenbar als Mahnung im Raum. Fraglich ist auch die Einbindung des neuen Quartiers in die bestehenden Strukturen der Stadt Esch, da sich zwischen dem Stadtgebiet und dem Campus Belval noch das zweite, weiterhin betriebene Stahlwerk von ArcelorMittal befindet, das durchaus eine Art städtebauliche Barriere bildet.

Abbildung 2: Städtebaulicher Masterplan der Cité des Sciences in Belval, mit den denkmalgeschützten Resten der ehemaligen Hochofenterrasse sowie oberhalb davon den für die Universität vorgesehenen Gebäuden (Quelle: mit freundlicher Genehmigung durch Le Fonds Belval).

Der Universität bieten sich in dieser Situation mehrere Aufgaben: sie kann als Schnittstelle von Forschung und Praxis dienen, da sie hier sowohl empirische Fragestellungen für die eigene Arbeit in großem Umfang vorfindet als auch eine komplexe Akteurskonstellation, die gelegentliche Einsätze eines nicht in den Planungsprozess involvierten Trägers sinnvoll erscheinen lässt, etwa zum Wissenstransfer, manchmal auch als Moderator. Die enge Zusammenarbeit mit den beteiligten kommunalen Akteuren bzw. dem Staat eröffnet neben der Möglichkeit, beratenden Input aus der Perspektive von außen zu geben, auch immer wieder delikate Einblicke in laufende Governanceprozesse, die ihrerseits einen attraktiven Forschungsgegenstand abgeben.

Die konkrete, durchaus anwendungsnahe Auseinandersetzung mit den Potenzialen des neuen Standortes Belval zur Förderung einer wissensbasierten Raumentwicklung knüpft an übergreifenden Theoriekonzepte an, die sich mit spätmodernen ökonomisch-kulturellen Voraussetzungen der Raumentwicklung befassen. Entsprechende Forschungsansätze, die u. a. der Generierung, Vermarktung und Zirkulation von Wissen zentrale Bedeutung für die wirtschaftliche und wirtschaftsräumliche Entwicklung zuweisen, haben in der vergangenen Dekade in der Ökonomie, in den Sozialwissenschaften und auch in der Wirtschaftsgeographie erhebliche Beachtung gefunden. In diesen Kontexten stellt sich in theoretischer und empirischer Hinsicht die Frage immer wieder neu, inwieweit räumliche Artefakte und Assoziationen (etwa räumliche "Nähe", die Konstitution von Großstädten als "Metropolen") hierzu besondere Beiträge leisten können. Mit der Ausweisung von Wissensclustern oder Wissensregionen (Wissenschaftsstädten ...) werden solche Zusammenhänge mitunter auch recht pauschal bzw. unmittelbar hergestellt. Uns interessiert im Fall Belval, welche Bedeutung Wissensgenerierung in einem Raum haben kann, der sich a) nicht auf pfadabhängige Traditionen berufen kann, sondern Gegenstand einer umfassenden Transformation ist und der b) ein stadträumlich hybrides, alles andere als metropolitanes oder großstädtisches Setting darstellt.

Weitere Theorieansätze, die zur Inspiration konzeptioneller oder empirischer Arbeit genutzt werden, richten sich auf nicht-essentialistische Raumverständnisse sowie Konzepte relationaler Geographie (etwa mit Blick auf Städte im Kontext von Netzwerken und Strömen/'flows'), oder auf konstruktivistische Ansätze, mit denen Artefakte wie eine urbane Renaissance als Gegenstand diskursiver Setzungen betrachtet werden. Dynamische Modelle zu Inwertsetzung, Wachstum oder Alterung von städtischen Standorten werden zur Analyse und Erklärung von Entwicklungstrajekten entlang je spezifischer Lebenszyklen diskutiert. Stadt- und raumplanerische Strategien untersuchen wir mithilfe metropolitaner Governance-Ansätze, was insbesondere im Policy-Kontext von Mehrebenensystemen und veränderten Akteurskonstellationen sinnvoll erscheint.


Kurzer Lebenslauf:
Jahrgang 1960, Dipl.-Geograph (Universität Münster, 1985), Dr. rer. pol. (Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung, 1997), Habilitation und Lehrbefugnis in Humangeographie (Freie Universität Berlin 2004). Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) gGmbH, Berlin (1988-1998) sowie am IRS/Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner (1998-2000/2003). Habilitationsstipendium der DFG (2000-2003). Privatdozent und Oberassistent am Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität Berlin (2004-2008). Seit Juli 2008 Professor für Stadtforschung an der Universität Luxemburg, Arbeitsgruppe für Geographie und Raumplanung.



Weitere Informationen:
www.geo.ipse.uni.lu - Unter dieser Adresse sind alle wesentlichen Informationen über die Arbeitsgruppe Geographie und Raumplanung der Universität Luxemburg zusammengestellt (Neuigkeiten, Mitarbeitende, Forschung, Lehre, Links).
www.spatial.uni.lu - Im Mittelpunkt des Lehrprogramms der Arbeitsgruppe steht der international ausgerichtete "Master Academique Spatial Development and Analysis", über den man sich auf dieser Website informieren kann (Zulassungsbedingungen, Modulstruktur, Lehrinhalte).
www.cipu.lu - Diese Website infomiert über die Arbeit der Kontaktstelle zur Information über Fragen der europäischen Städtepolitik ("Cellule nationale d'information pour la politique urbaine"/CIPU) in Luxemburg, die von der AG Geographie und Raumplanung organisiert wird.



Kontakt:
Prof. Dr. Markus Hesse
Universität Luxemburg, Fakultät für Humanwissenschaften
Forschungseinheit IPSE (Identité, Politique, Societé, Espace)
Arbeitsgruppe für Geographie und Raumplanung
Route de Diekirch/B.P. 2, L-7201 Walferdange
Tel. +352/466644-9627
Fax +352/466644-6348
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