Bernd Belina: Raum. Zu den Grundlagen eines historisch-geographischen Materialismus. Münster: Westfälisches Dampfboot (Einstiege 20) 2013. 172 S.
Bernd Belina widmet sich dem „Raum“ als einem Grundbegriff der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie innerhalb der Reihe „Einstiege“ des Verlages Westfälisches Dampfboot. Die Reihe – so die Beschreibung des Verlages – richtet sich an ein breites Publikum und will die Lesenden befähigen, eigene Wege zwischen den Felsen der Disziplinen zu finden und zu bestreiten. Das schmale Buch ist konsequent innerhalb einer Perspektive des historisch-geographischen Materialismus (HGM) verfasst, daher stellt es lediglich einen Ausschnitt der aktuellen geographischen Debatten über Raum dar. Die angeführten Debatten und Vorschläge innerhalb des HGM werden umfassend dargelegt, kritisch diskutiert und an zahlreichen Beispielen aus der polit-ökonomischen Praxis anschaulich verdeutlicht. Dem Charakter einer Einführung entsprechend steht die ordnende und am Überblick orientierte Darstellung und Kritik disperser Beiträge im Mittelpunkt, nicht jedoch die Vorstellung einer eigenständigen Raumtheorie innerhalb des HGM.
Grundgedanke der Arbeit ist, Raum konsequent als Ergebnis und als Mittel sozialer Praktiken zu konzipieren. Für Belina ist dies deshalb bedeutsam, weil er ein in Teilen des Alltags wie der wissenschaftlichen Kommunikation wirksames „‚Mysterium‘ des Begriffes ‚Raum‘“ (12) erkennt. Dieses Mysterium besteht im konsequenten Abblenden und Absehen sozialer Praktiken, die Raum herstellen, so dass dieser im Ergebnis als unumstößliches naturalisiertes Faktum behandelt wird. Nur mit striktem Fokus auf soziale Praktiken und Prozesse könne die notwendige Entmystifizierung geleistet werden (156). Eine zentrale Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Abstraktion zu, der die Dialektik des „Fokussieren auf“ und „Absehen von“ im Hinblick auf beobachtbare soziale Sachverhalte einfängt. Eine Abstraktion ist nicht nur geistiger Akt; sie wird sozial relevant, wenn das Resultat des „Absehen von“ in machtvolle gesellschaftliche Praktiken eingespeist und ggf. zum institutionalisierten gesellschaftlichen Vergessen wird (ein Beispiel hierfür wäre die oft zitierte Kulturraumdebatte mit ihrer Territorialisierung von Kultur).
Das Buch folgt einer Gliederung, die ausgehend von theoretisch-methodologischen Begriffen und abstrakten Überlegungen zu Raum Schritt für Schritt zur Analyse konkreter gesellschaftlicher Praktiken, in denen Raum erzeugt und somit gesellschaftlich relevant wird, überleitet. Belina geht das Unterfangen an, indem er zunächst das Verhältnis von Raum und sozialer Praxis dahingehend präzisiert, dass Raum in jede soziale Praxis eingeschrieben ist. Analog zur Vielfältigkeit sozialer Praktiken können dann unterschiedliche Räume emergieren. Danach geht er die Frage an, wie Raum in sozialen Praktiken bedeutsam wird. Das entsprechende Kapitel bietet eine Auseinandersetzung mit vulgärmaterialistischen und idealistischen Raumauffassungen.
Diese Diskussion wird mit einem Vorschlag zur Fassung von Raum aus Perspektive des avancierten HGM beschlossen. Ausführlich werden die Raumbegriffe von Henri Lefebvre und David Harvey diskutiert, gewürzt mit dem einen oder anderen anspruchsvollen Exkurs in marxistische Terminologien. Der Verfasser zieht in seinem Projekt weiter und diskutiert vier aus seiner Sicht zentrale Raumformen: Territorium, place, scale und Netzwerk. Raumformen können als aktuell dominierende Typen von Raumproduktionen identifiziert werden und sind als in gesellschaftliche Praktiken, Strategien oder Handlungen eingebettet zu verstehen. Erzeugt werden sie durch die empirisch beobachtbaren Prozesse der Territorialisierung, des Scaling, des Place-Making und des Networking. Das starke Kapitel stellt drei Ergebnisse heraus: Erstens wird betont, dass es keine verlässliche Vorhersehbarkeit von Raumformen in konkreten sozialen Praktiken gibt, der Gebrauch (als Einheit der Differenz Produktion/Aneignung) von Raumformen hängt „schlicht“ von den Zielen gesellschaftlicher Akteure und Institutionen ab, so dass eine situierte Forschung notwendig wird. Zweitens wird herausgearbeitet, dass mehrere Raumformen innerhalb bestimmter Praktiken aktiviert werden können und somit in wissenschaftlicher Hinsicht größere Aufmerksamkeit auf die Verbindungen zwischen den Raumformen zu legen ist (133). Drittens kann mit Hilfe des Begriffs der Realabstraktion („praktisch wahr gemachte Abstraktionen“) und unter Rückgriff auf empirische Beispiele gezeigt werden, welche spürbaren Konsequenzen diese Raumformen haben können; Konsequenzen, die, und hier kommt eine normative Orientierung ins Spiel, durch die Gesellschaft bestätigt oder kritisiert werden können – womit die Überleitung in politische Praxis markiert wäre.
Das siebte Kapitel erörtert, wie diese Raumformen innerhalb einzelner ausgewählter sozialer Verhältnisse (Kapital, Staat und Identität) strategisch aktiviert werden. Das Buch schließt mit einem kurzen, eher anekdotisch wirkenden Blick auf die Macht von Karten und auf das Kreativitäts- und Steuerungspotenzial ihrer Macher und Medien.
Bernd Belina hat eine gut organisierte, gehaltvolle und durch offene und klare Argumentationen überzeugende Einführung in jüngere, seit den 1970er Jahren erschienene Beiträge zum HGM erstellt. Das Buch lässt sich mit Gewinn lesen. Für mit den theoretischen Debatten um Raum und dem Grundvokabular des HGM vertraute Lesende erschließen sich neue Aspekte, die insgesamt die Raumdebatte stimulieren dürften. Für Studierende ist die Einführung sicher keine leichte Lektüre. Dennoch kann, aufgrund des gelungenen Aufbaus, die Argumentation des Buches studienbegleitend auch Schritt für Schritt angeeignet werden. Das Buch wird dem Ziel eines Einstiegs in aktuelle Diskussionen über Raum unter der Perspektive des HGM weitgehend, wenngleich nicht durchgängig, gerecht. In Zeiten austeritätspolitischer Rationalität sei überdies vermerkt, dass Preis sowie Preis-Leistungs-Verhältnis des Buches keineswegs zu falsch verstandener Sparsamkeit ermuntern.
Bei allen Stärken, die die Arbeit aufweist (sorgsame Argumentation und Darlegung des HGM, hohe Praxisorientierung, gelungene Verknüpfung abstrakter Theoriedebatten mit aktuellen politisch-ökonomischen Beispielen) sind auch einige Schwächen auszumachen: So ausgiebig und detailliert Belina die Argumente des HGM darlegt, so schnell und nicht selten oberflächlich wischt er Argumente anderer Positionen zum Raum beiseite. Man lese nur die Einlassungen zum in der Geographie ja mittlerweile wohlfeilem „Abwatschen“ der Beiträge des Soziologen Rudolf Stichweh zum Thema Raum. Und: Die prinzipiell wichtige, wenngleich nicht unbedingt neue Erkenntnis zur Wirksamkeit sog. Raumfallen als falsche Abstraktion wird gegen Ende des Buches unnötig gehäuft wiederholt, so dass die ansonsten gehaltvolle Argumentation leicht verflacht und an Relevanz verliert.
Insgesamt jedoch liegt mit Belinas Buch eine Einführung zum Thema Raum vor, die mit intellektuellem Genuss gelesen werden kann. Sie bindet zahlreiche und oft dispers vorkommende Argumentationsstränge gehaltvoll zusammen. Das Buch lädt schlicht zum Weiterdenken ein und kann als „Raumwanderführer“ zum Navigieren zwischen den Felsen der Disziplinen genutzt werden. Es wäre zu wünschen, dass ähnliche Reflexionen über Raum seitens der Humangeographie unter Inanspruchnahme anderer theoretischer Perspektiven in dieser Qualität entstünden.
Marc Redepenning, Bamberg, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Quelle: Geographische Zeitschrift, 102. Jg. 2014 · Heft 2 · Seite 190-191
vgl. hierzu die Buchbesprechung von Helmut Klüter
zurück zu Rezensionen
zurück zu raumnachrichten.de