Georg Schön: Somos Viento (Wir sind der Wind). Globalisierte Bewegungswelten in Lateinamerika. Münster 2008.
Soziale Bewegungen sind ein umkämpfter Forschungsgegenstand: Verschiedene theoretische Ansätze konkurrieren um ihre angemessene Beschreibung, die mal mehr die Akteurinnen und Akteure und mal eher die Bedingungen im Blick haben, unter denen sie agieren. Als Gegenstand in actu reden aber auch die Bewegungen selbst bei ihrer Deskription mit und stellen zuweilen die akademischen Maßstäbe und deren Angemessenheit in Frage. Dominiert im deutschsprachigen universitären Raum eine Perspektive auf gelingende Institutionalisierung von Inhalten und Forderungen der Bewegungen, wird in - geographisch wie milieubezogen - anderen Gegenden die Autonomie als Zweck und Ziel sozialer Bewegungen zugleich hoch gehalten. "Das Bedürfnis nach Autonomie", schreibt Georg Schön in seiner empirisch-theoretischen Studie, "lässt sich als zentrales Bindeglied zwischen den neuen sozialen Bewegungen in Lateinamerika erkennen." (49)
Dass die Bewegungswelten sich in Lateinamerika in der letzten Dekade anders gestalten als in Westeuropa, ist offensichtlich. Die Behauptung eines gemeinsamen Nenners von der präsidential gestützten "Bolivarianischen Revolution" in Venezuela bis zum zapatistischen Aufstand im Süden Mexikos, der sich jenseits des politischen Parteiengefüges formiert, ist gewagt und verrät vor allem etwas über die Perspektive des Autors. Schön hat also ein parteiisches Buch geschrieben, das die libertären, basisdemokratischen und jenseits von staatlichen Institutionen sich verortenden Bewegungen auch in der wissenschaftlichen Herangehensweise bevorzugt. Dass Parteilichkeit aber nicht unbedingt mit eingeschränktem Blickwinkel, verengender Argumentation und dem willfährigen Umgang mit empirischem Material einhergehen muss, dafür ist Schöns Arbeit ein exzellentes Beispiel.
So wirkt sich der Fokus auf die autonomistischen Projekte beispielsweise merklich positiv auf den Umgang mit Theorie aus. Als einer der wenigen im deutschsprachigen Raum greift Schön hier nämlich das von Arturo Escobar und Sonia E. Alvarez entwickelte - und in Lateinamerika seit mehr als fünfzehn Jahren diskutierte - Konzept der cultural politics auf. Dieser, auf die Cultural Studies zurückgehende Ansatz hebt auf die Bedeutungen produzierende Dimension sozialer Kämpfe ab: Nicht nur knappe ökonomische und ökologische Ressourcen, Land und juristische wie politische Teilhabe sind die Dimensionen, um die sich die Auseinandersetzungen sozialer Bewegungen drehen, auch gesellschaftliche Definitionsmacht und der Kampf um Denk- und Wahrnehmungsschemata stehen auf der Agenda. Der Aspekt "kultureller Verteilungskämpfe" (52) steht dabei nicht etwa in Gegensatz zu handfesten materiellen Interessen und Lebensweisen. Schöns Studie zeigt, wie nicht selten gerade aus existenzieller Bedrohung - durch Patentierungspolitik transnationaler Konzerne oder staatlichparamilitärische Übergriffe beispielsweise - die kulturell-politischen Projekte sozialer Bewegungen entstehen.
Als Gemeinsamkeit dieser Bewegungen neuen Typs macht Schön auch noch etwas anderes aus: Sie seien zugleich "lokal verwurzelt und transnational vernetzt" (52). Dies macht Schön einerseits anhand von Bewegungsnetzwerken gegen Wasserprivatisierungen und gegen den Minenbau deutlich, deren ProtagonistInnen er ausführlich zitiert. Andererseits konstatiert er ein neues Ausmaß indigener Mobilisierungsprozesse. Diese hätten - durch die lokale Verwurzelung und die internationale Vernetzung - in den letzten drei Jahrzehnten "die Öffnung nationaler politischer Räume provoziert" (101) und zudem einige ihrer Forderungen im internationalen Rechtssystem verankern können. Hier beispielsweise widerspricht Schön implizit jenem Ansatz, mit dessen Hilfe umgekehrt die Implantierung bestimmter indigener Anliegen in internationalen Institutionen (wie beispielsweise der International Labour Association und dem Artikel 169 ihrer Konvention) als "politische Gelegenheitsstruktur" für das Aufkommen der Bewegungen beschrieben wurde.
Indigene Ethnizität ist für Schön dabei keine essenzialistische Kategorie. Ausdrücklich vertritt er eine sozialkonstruktivistische Herangehensweise, die Ethnizität nicht als quasi-natürliche soziale Zugehörigkeit fasst. Er beschreibt Ethnizität hingegen "als durch spezifisch historisch-politische Konstellationen geformte und nach Bedarf konstruierte soziale Ressource zur Organisation von Gruppenbeziehungen." (119) In diese Definition fällt auch noch die Selbstbeschreibung eines indigenen Aktivisten, dem es um die "Rückgewinnung unserer Werte" geht und der das gegen die Privatisierung zu verteidigende Wasser als "das Blut der Pachamama" (92) bezeichnet. Eine solche Haltung nannte die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak "strategischen Essenzialismus".
Nicht zuletzt dieser strategische Umgang mit Indigenität hatte in den 1990er Jahren auch das globalisierungskritische Echo des zapatistischen Aufstands ermöglicht. Der Bewegung im Süden Mexikos gilt das Hauptaugenmerk des zweiten Teils von Schöns Buch. Ausführlich schildert er den Bruch mit der institutionellen Linken in Mexiko und seine Folgen: Anstatt den Kandidaten der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution, Andrés Manuel Lopéz Obrador im Präsidentschaftswahlkampf 2006 zu unterstützen, hatten die Zapatistas an ihrer basisdemokratischen und antiparlamentarischen Ausrichtung festgehalten. Die Zapatistas gründeten die so genannte "Andere Kampagne" und mobilisierten Basisinitiativen jenseits des Parteienspektrums. Im Unterschied zu anderen politischen BeobachterInnen interpretiert Schön diesen Mobilisierungsprozess nicht als Abkehr von einer gesamtgesellschaftlichen Ausrichtung des zapatistischen Kampfes. Die Andere Kampagne transzendiere stattdessen sogar die Funktion des "Impulsgebers für sozialen Wandel", die sozialen Bewegungen gemeinhin zugeschrieben würde, und arbeite "an dessen Steuerung und Durchsetzung" (156). Während gerade diese Arbeit im Vergleich mit machtpolitisch orientierten Projekten wie der Bolivarianischen Revolution oder dem Movimiento al Socialismo (MAS) um Evo Morales in Bolivien als erfolglos eingeschätzt wird, fällt neben der Beschreibung auch die Wertung Schöns anders aus. Er sieht die Andere Kampagne vielmehr als Teil einer globalen Graswurzelrevolution. Diese präge Ideen und Normen in sozialen Kämpfen und trage letztlich zu einer "Veränderung der Normenstruktur der globalen Ordnungs- und Strukturpolitik" (175) bei.
Auch wenn sich über die optimistische Lesweise politischer Basisaktivitäten sicherlich streiten lässt, ihre Effekte zunächst analytisch in einen größeren als den politisch-institutionellen Rahmen zu stellen, ist das Verdienst von Schöns Buch. Diskussion und Anwendung aktueller Theorieansätze in Kombination mit der Fülle an empirischem Material weit über den mexikanischen Süden hinaus, machen es jedenfalls zu einer äußerst lohnenden Lektüre. Und die wertende Begeisterung des Autors lässt zudem ein deutliches Statement innerhalb der umkämpften Bewegungsforschung daraus werden.
Jens Kastner