Immanuel Wallerstein: Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus. Berlin 2007. 112 S.
Im Jahr 1550 berief Karl V. in Valladolid einen Rat ein, der sich mit der Behandlung der indigenen Bevölkerung Südamerikas befassen sollte. Vor dem Gremium standen sich Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda gegenüber. Letzterer rechtfertigte den Krieg der Spanier gegen die amerikanischen Ureinwohner mit dem Hinweis auf deren Menschenopfer. Daraus ergebe sich die Pflicht, Unschuldige vor der Ermordung zu retten. Las Casas hielt seinem Widersacher vor, niemand könne für die Befolgung der eigenen religiösen Gesetze bestraft werden. Selbst wenn bei den Opferritualen Unschuldige umkämen, handele es sich hierbei um ein viel kleineres Übel, als wenn die unterworfenen Ureinwohner die Kolonisatoren dafür verhöhnten, dass diese ihrerseits Unschuldige töteten, um das "barbarische Treiben" zu unterbinden. Damit plädierte er für ein Handeln "gemäß dem Prinzip des geringsten Schadens" (18), das sich seiner Effekte stets gewahr bleibt.
Verf. vollzieht die historische Kontroverse nach, weil "der Debatte seit jener Zeit nichts wesentlich Neues hinzugefügt wurde" (20). Bis heute scheint der Feldzug des von Europa ausgegangenen Universalismus nicht vorüber zu sein - das zeigen die Kriege des "Westens" in (Ex-)Jugoslawien, Afghanistan und im Irak. Der historisch siegreichen Sepúlveda-Perspektive, aus der heraus die Politiker Europas und der USA idealtypisch ihre militärischen Interventionen begründen, stellt Verf. Las Casas' Argumente entgegen. Gemäß dem Prinzip des geringsten Schadens habe sich die persönliche Sicherheit und Lebenssituation der Menschen in den Zielländern nach den Kriegen bestenfalls nicht verschlimmert - wie im Kosovo (was für die Roma allerdings nicht zutrifft). Der Irak- Krieg 2003 habe sogar zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage beigetragen.
Als Konsequenz aus dieser Kritik am eurozentrischen Menschenrechtsuniversalismus fordert Verf. allerdings nicht, an die Stelle des westlichen einfach einen "peripheren" Universalismus zu setzen. Er beruft sich auf Edward Said, der Ende der 1970er Jahre die akademische Disziplin des Orientalismus als rein okzidentale Perspektive auf den von ihr selbst geschaffenen Forschungsgegenstand, den "Orient", dekonstruiert hat. Trotzdem könne die Antwort auf den Orientalismus nicht ein "Okzidentalismus" sein, der nichteuropäische Werte idealisiert und universalisiert (47), sondern "Nicht-Orientalist" zu sein bedeute, "eine ständige Spannung zu akzeptieren" (59) zwischen dem Wunsch, die eigenen Werte und Normen zu universalisieren, und dem Bedürfnis, diese gegen andere partikularistische Werte und Normen zu verteidigen, die sich selbst wiederum für universell halten. Damit umschifft Verf. jede Form von Kulturrelativismus und öffnet den Blickwinkel für die Bedingungen eines globalen demokratischen Diskurses über wirklich universale Werte.
Verf. will - einig mit Said - die "großen Erzählungen" gegen postmoderne Glasperlenspiele verteidigen (47). Entsprechend erklärt die Weltsystemtheorie den Kapitalismus von dessen Entstehung im "langen 16. Jh." an aus einer globalen Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie. Die Debatte über den "europäischen Universalismus" beurteilt Verf. im Kontext einer Krise des modernen Weltsystems. Das nach ständiger Akkumulation strebende Kapital könne auf einem durchurbanisierten Globus kaum noch ländliche Regionen für sich erschließen, um die Lohnkosten niedrig zu halten. Hinzu kämen gestiegene Materialkosten und höhere Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben auch in Entwicklungsländern. Damit gerate zugleich die wichtigste Legitimationsideologie der kapitalistischen Weltökonomie ins Wanken: der "wissenschaftliche Universalismus", dessen Teilung in nach "Wahrheit" suchende Natur- und nach dem Guten und Schönen suchende Geisteswissenschaft im akademischen Feld selbst zunehmend in Frage gestellt werde (77ff). Diese Krisendiagnose übersieht, dass es etwa in China und Indien noch weite agrarisch geprägte Teile gibt, aus denen sich billige Lohnarbeiter rekrutieren und sich auch in den Zentren die Kosten durch Restrukturierungsmaßnahmen senken lassen. Zum anderen bleibt Verf. hinsichtlich der Verklammerung von Wirtschafts- und Wissensstrukturen zumindest unklar, impliziert jedoch einen Primat der Ökonomie, wenn er schreibt, die Wissensstrukturen befänden sich "heute in Folge der strukturellen Krise des modernen Weltsystems im Aufruhr" (69 - Herv. v. Rez.). Das verkennt die relative Autonomie des zivilgesellschaftlichen "Überbaus" - und ist selbst "essenzieller Partikularismus". Gleichwohl hat Verf. richtig erkannt, dass es heute in der Weltgesellschaft darum gehen muss, einen egalitären Universalismus zu entwickeln, der die vielfältigen Ungleichheiten zwischen verschiedenen Weltregionen nicht verschleiert.
Claas Christophersen