Karin Fischer u. Susan Zimmermann (Hg.): Internationalismen. Transformation weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2008. 256 S.
Während der us-geführten NATO-Intervention in Afghanistan zeigte der Nachrichtensender CNN verschleierte und aus dem öffentlichen Leben ferngehaltene afghanische Frauen. Die Bilder suggerierten, es gehe in der Militäroperation nicht nur um einen ›Krieg gegen den Terror‹, sondern auch um einen Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen. Hg. stellen dieses Beispiel an den Anfang ihres Sammelbandes, um zu zeigen, dass Menschenrechtsinternationalismus nicht nur die Sache sozialer Bewegungen sein muss, sondern auch zur Herrschaftslegitimierung taugen kann.
Damit aber seien internationalistische Bewegungen tief in "Prozesse der Herausforderung, Transformation oder auch Vertiefung globaler Ungleichheit" (20) verstrickt. Um diese Dynamiken zu untersuchen, werden in dem Band als "Reform-Internationalismen" bezeichnete Wissens- und Normensysteme seit Mitte des 19. Jh. in den Blick genommen (7). Die Beiträge beschäftigen sich mit sozialen Bewegungen wie Anti-Slavery, mit Institutionen wie der Kirche, aber auch mit internationalen Organisationen wie der International Labour Organization (ILO). Angesichts dieses breiten Programms muss allerdings unklar bleiben, wie Hg. die unterschiedlich stark organisierten Internationalismen sozialtheoretisch bündeln und fundieren wollen - und dabei insbesondere, in welchem Verhältnis die Reformismen zum jeweils herrschenden Politik- und Normensystem stehen, auf das sie sich beziehen, dessen Teil sie sogar sein können (wie zum Beispiel die ILO) und von dem sie sich doch zugleich absetzen.
Ebenso schwammig verhält es sich mit dem grundlegenden Ungleichheitsbegriff. Ungleiche globale Machtbeziehungen bestünden in "wirtschaftlicher und militärischer Dominanz und der kulturell-diskursiv-geopolitischen Konstruktion von Differenz" (20). Das klingt nicht nur umständlich, sondern vor allem wenig differenziert. Ohne einen pointierten Begriff von globaler Ungleichheit lässt sich aber auch nicht deren "Transformation" identifizieren, wie es der Titel verspricht. Dementsprechend fehlt in den Beiträgen der Ungleichheitsbezug gleich ganz - etwa in Arthur Eyffingers Darstellung der Den Haager Völkerrechtstradition - oder er wirkt an einigen Stellen banal und pflichtschuldig. So resümiert David Mayer in seinem Beitrag über die Beziehungen zwischen der Moskauer Komintern-Zentrale und Lateinamerika, dass einerseits die Stalinisierung der Dritten Internationale natürlich Ungleichheit durch Gehorsamserwartung, Einschüchterung und Gewalt erzeugte und andererseits die revolutionäre Bekämpfung globaler Ungleichheit durch die Komintern lediglich rhetorisch aufrechterhalten wurde. Trotz des geschichtswissenschaftlich originellen Forschungsthemas von Mayer wird damit zugleich fraglich, inwieweit der ursprünglich revolutionäre Internationalismus der Arbeiterbewegung insbesondere in seiner totalitären Phase überhaupt unter die Rubrik Reform-Internationalismus fallen kann.
Überzeugender vermögen das spannungsreiche Verhältnis zwischen internationalem Reformismus und globalen Ungleichheits-Dimensionen die ›postkolonialen‹ Beiträge aufzuzeigen, von denen zwei besonders hervorzuheben sind. Arno Sonderegger zeigt, dass die Aktivisten der Anti-Sklaverei-Bewegung, die Abolitionisten, zwischen dem späten 18. und frühen 20. Jh. zwar mit ihrem Engagement zunächst gegen den Sklavenhandel und später für die eigentliche Sklaven-Emanzipation besonders in Großbritannien einen erstaunlichen öffentlichen Druck entfalten konnten. Jedoch blieb auch die weiße abolitionistische Bewegung letztlich dem Paternalismus ihrer Gegner verhaftet. Insgesamt sei es seit dem 18. Jh. zu einer Aushöhlung der "Universalität des Menschheitsbegriffs" (98) gekommen, die auch die Abolitionisten vorantrieben. So zitiert Sonderegger den Sklaverei-Gegner Captain John Adams, der 1823 urteilte, angesichts der klimatischen Verhältnisse sei es kein Wunder, dass Afrika nur von "Tyrannen und Sklaven" bewohnt werde (99f). Paradoxerweise - so lässt sich Sondereggers Beitrag verstehen - beruhte der abolitionistische Kampf gegen die Ungleichheit der Sklaverei zumindest in Teilen selbst auf der Konstruktion radikaler Differenz und damit der Ungleichheit der Schwarzen. - Die Rechtswissenschaftlerin Anne Orford stellt den direkten Bezug zur konflikthaften internationalistischen Gegenwart her. Noch in der ›humanitären Intervention‹, die militärischen Menschenrechtsschutz gerade gegen die Souveränität durchsetzen soll, erblickt Orford eine Konzeption, die sich aus Carl Schmitts Koppelung des Ausnahmezustandes an die souveräne Entscheidung herleitet. So argumentierten Befürworter menschenrechtlicher Interventionen, "dass im Falle der Gefahr des Zusammenbruchs der existierenden Ordnung ein Souverän gefunden werden müsse, der auch tatsächlich die Entscheidung über das Vorhandensein eines Ausnahmezustandes treffen kann" (247). Aus einer solchen Perspektive wird verständlich, wie sich die USA als Souverän in der ungleich strukturierten Weltpolitik zum Anwalt für die Gleichberechtigung der afghanischen Frauen stilisieren können. Insgesamt jedoch fehlt Hg. und Autoren das theoretische Rüstzeug, um wirklich zwingende Zusammenhänge und Widersprüche zwischen egalitären Reform-Internationalismen und den herrschenden Akteuren in der internationalen Gemeinschaft aufzudecken.
Claas Christophersen