Tobias Ten Brink: Geopolitik: Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz. Münster 2008 (Theorie und Geschichte der Bürgerlichen Gesellschaft 23). 307 S.

Geographinnen und Geographen seien beruhigt: Nichts hat das hier zu besprechende Buch gemein mit dem, was unsereinem aus gutem Grund bei "Geopolitik" einfällt. Um Mittellage, Lebensraum oder sonstige geodeterministische "Metaphysik der Bedürfnisse des Imperialismus" (Wittfogel 1929, 500) geht es gerade nicht, sondern im Gegenteil um die kritische Bestimmung dessen, was kapitalistischen Imperialismus ausmacht. Unter "Imperialismus" versteht ten Brink die "Gewaltpraxis von kapitalistischen Einzelstaaten zur Verteidigung, Befestigung bzw. Steigerung ihrer Macht vor dem Hintergrund weltweiter ökonomischer Abhängigkeiten und politischer Fragmentierung" (16).

Den Begriff "Geopolitik" verwendet er, weil dieser stärker auch latente Gewaltverhältnisse beinhalte (die der Autor als "weicher Geopolitik" verhandelt) und - zumindest außerhalb der Geographie - kein politischer Kampfbegriff sei. Trotz dieser für GeographInnen vielleicht gewöhnungsbedürftigen Terminologie sollte dieses Buch auf das Interesse insbesondere Politischer GeographInnen stoßen, da der Autor als Politikwissenschaftler geographische und andere "Raum"-Autoren wie David Harvey, Neil Brenner, Neil Smith und Henri Lefebvre nicht nur oberflächlich rezipiert, sondern deren Beiträge auch an entscheidender Stelle in die Konzeption seines analytischen Rahmens einbaut.
Seinen Entwurf zum Verständnis von Geopolitik entwickelt ten Brink auf der Basis von Debatten aus materialistischer Staats- und Imperialismustheorie. Dabei ist er bestrebt, weder Ökonomie noch politische Macht als Determinante absolut zu setzen, sondern gerade das Verhältnis beider ins Zentrum zu rücken. Es gelte, die "Entstehung geopolitischer Phänomene mit grundlegenden Strukturmerkmalen einer breit gefassten Kapitalismusanalyse in Verbindung zu setzen" (17), wobei Imperialismus "immer in seiner historischen Spezifität analysiert werden [muss]" (17).
Deshalb folgt im zweiten (und Haupt-) Teil des Buches auf die Bestimmung allgemeiner Strukturmerkmale des Kapitalismus eine Diskussion des globalen Kapitalismus "in Raum und Zeit" sowie ein darauf aufbauender Vorschlag zur Periodisierung des Imperialismus. Zuvor diskutiert ten Brink im kürzeren ersten Teil Theorien des Imperialismus bzw. Internationaler Beziehungen und arbeitet Defizite und Desiderate heraus (vgl. ausführlicher ten Brink 2008). Im abschließenden, ebenfalls kürzeren dritten Teil werden auf der Basis des zuvor erarbeiteten Rahmens Schlaglichter auf die aktuelle geopolitische Situation geworfen.
Ten Brink führt vier Strukturmerkmale des Kapitalismus an: 1) Lohnarbeit und Klassenverhältnisse als "vertikale Achse" gesellschaftlicher Differenzierung und Konflikte, 2) Konkurrenzverhältnisse als "horizontale Achse", 3) Geldverhältnisse als politisch reguliertes Medium von Gesellschaft und 4) die Besonderung des Politischen und die Pluralität kapitalistischer Einzelstaaten. Während sich dieser Entwurf bezüglich der ersten drei Merkmale v.?a. durch Gewichtung und Herleitung von anderen Imperialismustheorien unterscheidet, stellt die Identifizierung der Existenz eines Staatensystems als wesentlich für den Kapitalismus, insbesondere im Vergleich zur angloamerikanischen Diskussion, ein gewisses Spezifikum dar. Dieses resultiert aus ten Brinks theoretischem Fokus auf die Untersuchung sozialer Formen des Kapitalismus und speziell der politischen Form, die in der Tradition der westdeutschen Staatsableitungsdebatte steht und international nur von wenigen TheoretikeInnen wie Bob Jessop oder John Holloway aufgenommen wurde. Aus der Bestimmung des Staates als "konstitutive[m] Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise" (58) folgt für den Autor die Notwendigkeit einer globalen Perspektive, die vom internationalen Staatensystem und nicht vom Einzelstaat ausgeht.
Kritisch ist bezüglich des dritten Strukturmerkmals anzumerken, dass Geld im Kapitalismus weit mehr ist als ein "Medium der Vergesellschaftung" (68) und "Vermittlungsglied beim Austausch von Waren" (68). Diese Formulierungen ähneln jenen der bürgerlichen Ökonomie oder Soziologie (etwa bei Anthony Giddens), in denen davon abgesehen wird, dass Geld die "notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren" (Marx 1971: 109) und damit selbst Wert ist, abstrakter Reichtum also, dessen Aneignung im Kapitalismus Macht bedeutet.
Bezüglich des "Kapitalismus in Raum und Zeit" argumentiert ten Brink, dass trotz der zu beobachtenden "Reartikulation verschiedener räumlicher Ebenen" (92f.), die er mit Bezug zur geographischen scale-Debatte diskutiert, Einzelstaaten eine "privilegierte Position" (93) behalten. Dieser Befund wird mit Bezug auf die bleibende Relevanz von staatlichen Gewaltapparaten, Rechtssystemen und Regulierungskapazitäten im globalen Kapitalismus theoretisch hergeleitet und empirisch belegt, weshalb auf ihn der in Anlehnung an Kosmopolitanismusidealismen à la Ulrich Beck häufig vorgebrachte Vorwurf des "methodologischen Nationalismus" nicht zutrifft. Es handelt sich nicht um eine StaatstheoretikerInnen häufig unterstellte Unfähigkeit, jenseits des Nationalstaats zu denken, sondern um die Begründung der Notwendigkeit, die Existenz und Funktionen von Einzelstaaten im globalen Kontext zu erklären. Schade ist dabei, dass der Autor trotzdem stets von "Gesellschaft" schreibt, wenn er nationalstaatliche Gesellschaft meint, so als wären etwa die von ihm ebenfalls diskutierten - und für überschätzt gehaltenen - transnationalen Klassenbildungsprozesse nicht ebenfalls "Gesellschaft".
Beim "Kapitalismus in Raum und Zeit" unterscheidet ten Brink zwischen geopolitischer/territorialer und ökonomischer/kapitalistischer Konkurrenz. Diese Unterscheidung ähnelt jener David Harveys in Der Neue Imperialismus (2005), wird aber darüber hinaus durch die Herleitung über die Besonderung des Politischen in der Form des Staates staatstheoretisch begründet. Da die beiden Arten der Konkurrenz sich an "verschiedenen Kriterien der Reproduktion orientieren - die der Einzelkapitalien und die der staatlichen Instanzen" (123), folgen hieraus unterschiedliche, sich potentiell widersprechende Strategien staatlicher und ökonomischer Akteure. Zugleich betont ten Brink die "wechselseitige strukturelle Abhängigkeit beider Dynamiken" (124), die ebenfalls dem durchgesetzten Verhältnis von "Ökonomie" und "Politik" im Kapitalismus geschuldet ist. Mit der Durchsetzung kapitalistischer sozialer Beziehungen sei eine "Subsumtion der Dynamik der [...] geopolitischen Expansion unter die Dynamik der wettbewerbsgetriebenen Akkumulation des Kapitals [vollzogen worden]" (121).
Auf der Basis der von ten Brink vorgelegten Überlegungen einschließlich ihrer "empirischen Füllung" im letzten Drittel des zweiten sowie im dritten Teil lassen sich geopolitische Phänomene und Prozesse gegenstandsnah, differenziert, nicht-deterministisch und nicht zuletzt kritisch bearbeiten. Angesichts einer Situation in der Politischen Geographie, in der eine ernsthafte Befassung mit Staatstheorie seit den Arbeiten von Peter Taylor oder Jürgen Oßenbrügge aus den 1980er Jahren weitgehend fehlt, ist ten Brinks Buch GeographInnen insbesondere wegen der kenntnisreichen Diskussion von und Bezugnahme auf unterschiedliche Theorien und Ansätzen zu Staat, Imperialismus und Internationalen Beziehungen zu empfehlen. LeserInnen ohne tiefere Vorkenntnisse werden dank der luziden Darstellung von der Lektüre ebenso profitieren wie jene, die sich im Feld bereits auskennen und die vor allem die zu Diskussion, Weiterentwicklung und auch Widerspruch anregende Art und Weise schätzen werden, in der gängige und weniger gängige Argumentationen kombiniert und aufeinander bezogen werden. Insgesamt sei das Buch allen ans Herz gelegt, die sich für die Realität globaler Staatenkonkurrenz jenseits von Metaphysik, Idealismus oder Politikberatung interessieren.

Literatur
Harvey, D. (2005): Der Neue Imperialismus. Hamburg [2003].
Marx, K. (1971): Das Kapital. Band 1. Berlin [1867].
Brink, T. ten (2008): Staatenkonflikte. Stuttgart.
Wittfogel, K. (1929): Geopolitik, Geographischer Materialismus und Marxismus. Teil II. In: Unter dem Banner des Marxismus 3, 485-522.

Bernd Belina

hier finden Sie eine weitere Besprechung des Buches

 


Quelle: Geographische Zeitschrift, 96. Jahrgang, 2008, Heft 4, Seite 250-251