Wolf-Dieter Narr: Wie kommt's zum Raum-Echo?
Ulrich Eisel: Landschaft und Gesellschaft. Räumliches Denken im Visier. Münster 2009.
Olaf Kühne: Distinktion - Macht - Landschaft. Zur sozialen Dimension von Landschaft. Wiesbaden 2008
Benno Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 2. Stuttgart 2007. 2., völlig neu bearbeitete Auflage.
Benno Werlen (Hg.): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 3: Ausgangspunkte und Befunde empirischer Forschung. Stuttgart 2007.
Annette Voigt: Die Konstruktion der Natur. Ökologische Theorien und politische Philosophien der Vergesellschaftung. Stuttgart 2009.
"Zu wissen, worin diese (Perspektive, WDN) tatsächlich besteht, setzt aber voraus, über die Logik und die Dynamik von ausgewählten Konzeptualisierungen etwas zu wissen, wenn und weil man sich politisch ihren Folgen stellen muß. Andernfalls posaunt man alle zehn Jahre eine neue Theorie aus und wundert sich in denselben Abständen, daß es nicht das Gelbe vom Ei war und zudem mit dem Ergebnis, daß mit großem Aufwand wieder abgerissen werden muß, was zuvor mit hohen Kosten an materieller und sozialer Realität gebaut wurde. (Die Geschichte der Stadt-, Regional- und Raumplanung ist ein Paradebeispiel dafür, die Bildungsplanung ein anderes.)" (Ulrich Eisel, S. 231).
Im Zuge des (ur-)deutschen Mottos, das mehr gegenwartskritisches Angedenken verdiente, "Volk ohne Raum" (heute seltsam verkehrt in 'Raum ohne Volk') (Hans Grimm, Thilo Sarrazin) und der davon mit induzierten nationalsozialistischen Großraumpolitik ('deutschen Lebensraum' im Osten zu kolonisieren, in "Mein Kampf" propagiert, im und rund um den 2. Weltkrieg mörderisch realisiert) wurden in deutschen Landen nach 1945 geopolitische Argumentationen seltener geäußert. Verhalten und eher verfremdet. Politische und soziale Wirklichkeiten wurden indes nach dem 2. Weltkrieg unvermindert von geopolitischen Interessen geschoben und beflügelt. Wissenschaftliche Kofferträger rationalisierten realpolitische Traktate. Zuerst, fast ein halbes Jahrhundert, traten diese Interessen im dichotomischen Freund-Feind-Weltenkampf des Kalten Krieges auf ganzer Sohle auf. Andere Politik wurde nahezu gleichgeschaltet. Schübe über Schübe militärischer Vor- und Nachrüstungen. Noch während seiner Dauer präparierte und profilierte sich, zum anderen, das heraus, was pauschal Globalisierung genannt wird. Wie immer man ihren je erreichten Zustand - "Globalität" - und ihre dynamische Ex- und vor allem Intensivierung - "Globalisierung" - in ihren hauptsächlichen Kriterien im einzelnen bezeichne, ein Umstand überragt im Kontext der weltweiten Expansion kapitalistischer Ökonomie, so gesehen also globaler Kapitalismus, alle anderen Erscheinungsformen und Definitionsfaktoren: Dass durch eine dominante Vergesellschaftungsform die äußeren Grenzen der Oikumene erreicht sind, der Bevölkerungen, die den Erdkreis bewohnen. Nun kann die kapitalistische Dynamik führender Länder und multi-, gar transnationaler Unternehmen nicht mehr in kapitalistisch 'urbar' machbare Länder imperial expandieren (im Sinne Albert O. Hirschmans "exit" betreiben, new frontiers überschreiten). Nun sind die agierten Kapitalakteure darauf angewiesen, im Rahmen weltweiter Konkurrenz ihre Spitzenposition zu halten. Sie sind dazu gehalten, in ihren und anderen Gesellschaften kapitalistisch unbefleckte oder nicht gänzlich durchdrungene gesellschaftliche Räume kapitalin- und extensiv aufzuheben oder innovativ zu schaffen. Die Katholizität einer Vergesellschaftungsform hat, nur oberflächlich paradox, durch die Globalisierung unterschiedliche 'Räume' des Menschen gleichgeschaltet, verengt und verknappt. Diese Beobachtung gilt schon quantitativ in mehrfachen Hinsichten. Die Zunahme sozialer und politischer "Schließungen" (M. Weber) ist nur ein ver- und durchstaatetes Zeichen dafür. Damit hängt zusammen, dass Displaced Persons, ihrerseits nicht nur staatsbürgerrechtlich zu fassen, global präsent sind. Der Sommer- und Winterschlussverkauf an unbehausten oder verdrängerisch behausbaren Räumen drückt sich zusätzlich in der zunehmenden Knappheit aller lebenswichtigen Ressourcen aus. Sie wird raubgebaut im Rahmen der ihrerseits dem Wachstumsimperativ unterworfenen, anscheinshaft exklusiv gewordenen Vergesellschaftungsformation.
Probleme, Motive, Herausforderungen, die Fülle physisch "natürlichen", sozial "kultürlichen", metaphorischen, technologisch virtuell geschaffenen Raum in der Vielzahl seiner Aspekte und Dimensionen ernster zu nehmen als je. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht einsehen, warum Geographie, auch Geologie zu einem wissenschaftlichen und politischen Interesse wurden, zu einem zentralen politischen (breit verstanden) und wissenschaftlichen Interesse wurden (oder dort, wo sie es nicht sind, wie teilweise in den Sozialwissenschaften, ein arger, ein deren Wissenschaftlichkeit lähmender Bedarf besteht). Angesichts dieses Problemebergs, metaphorisch schon nur räumlich zu fassen, versteht es sich, warum der sogenannte spatial turn weit über den Rahmen der Geographie hinaus angesagt war. Er ist im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit wachsender Anhängerschaft propagiert worden und ist nicht mehr zurückzudrehen. Er kann allenfalls in Forschung, Lehre, ja schon im schulischen Lernen verbessert werden.
Meiner Aufgabe gemäß beschränke ich mich darauf, mir wichtig erscheinende Aspekte der fünf, am Kopf dieses Artikels genannten Bücher herauszugreifen. Ich schaffe es nicht, schon weil sonst der Raum (!) des Artikels sich ungemäß dehnte, die fünf umfänglichen Bücher en détail - und den Intentionen ihrer Autorinnen und Autoren gerecht - zu präsentieren. Die Perspektive unter der ich die Bücher gelesen habe, Bücher, die mir altem und einfachem Politikwissenschaftler vorab unbekannt gewesen sind, ergeben sich aus dem oben angedeuteten Problemhorizont. Sie ließe sich in der zweigipfligen Schlüsselfrage zuspitzen: werden die hier angezeigten Raumpräsentationen, bewusst neutral formuliert, den Gefahren des doppelten und spannungsreich zusammenhängenden Raumverlusts jeweils thematisch spezifisch in den wissenschaftlichen Modi empirisch-analytisch gerecht? Dass der soziale Raum, in dem Menschen in aller Bewegtheit unterschiedlich wohnen, in globalen Abstraktionen und ihren Dynamiken aufgehoben wird (schwäbisch: beseitigt und bewahrt in einem); dass zugleich der soziale Raum und seine geographisch-geologisch seither für nötig erachteten Lebensbedingungen auszugehen droht (man denke allein an die unterschiedlich verteilte und sich beschleunigende Bodenerosion)? Teils versuche ich diese Doppelfrage für einzelne Bücher oder Aufsätze zu beantworten, teils bücher- und autorenübergreifend. Ohne Rangfolge und ohne systematischen Unterton, aber bis zur (Un-)Kenntlichkeit verkürzend apostrophiere ich arabisch.
1. Alle Autorinnen und Autoren drücken besagten spatial turn aus und/oder sind in ihren hier präsentierten Publikationen Ausdruck desselben. Dies in bundesdeutscher Version. Und diesseits der radikalen politischen Geographie (vgl. die einschlägige angelsächsische Zeitschrift). In einer Nussschalenformulierung. Nicht Raum macht Menschen, Menschen schaffen Raum. Die Einsicht ist nicht neu. Schon Georg Simmel hat in seinem anregungsvollen Aufsatz "Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft" am Beispiel "Grenze" festgestellt: "Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt."1 Neu ist aber die "sozialgeographische" Emphase dieser Angehörigen der Geographenzunft, die fast nur im Sinne eines kritischen Abschieds auf eine Geographie zurücksehen, die in diverser Weise "Raum" als physische Tatsache begriff (mehr als "Gewalt" webergemäß physisch wie soziologisch amorph). Deren begrenzende oder eröffnende Effekte auf gesellschaftliche Verhaltensformen wurden meist festen Parametern gleich weitgehend kartographisch und taxonomisch rubriziert. Nun aber werden geographische Verhalte nicht nur zu einem Teil sozialen Handelns, sie werden vielmehr einer von dessen Ausdrücken. "Geographie und Geographie-Machen" lautet Kapitel 1 im schier umfassenden Buch Benno Werlens. Allem objektivistischen Blubo entgegen (Nazikürzel für Nazibezugskategorie: "Blut und Boden") wird mit Hartke und vielen anderen betont, dass "Wirtschaftsführer und Politiker", dass "wir alle unsere eigene Geographie" machten. Mit anderen Worten: "Raum" als physischer Sachverhalt wird zur gesellschaftlichen und individuellen Knetmasse mit kaum noch erkanntem oder vorweg interessantem Eigensinn. Er wird zu einer Kategorie sozialen, ja individuellen Handelns.
2. Von einem der deutschen Väter des von ihm und anderen überaus geliebten Paradigma-Begriffs (Kuhn), also des stattfindenden oder nur stattgehabten Paradigmenwechsels, Ulrich Eisel, wird darum folgerichtig aus "Raum" "allgemeiner (räumlicher) Strukturmuster und allgemeiner (räumlicher) Bewegungsabläufe ein Gegenstand subjektiver Gestaltung" (vgl. S. 24 ff. "Natur als Metapher für Modi der Subjektivität: konkrete und abstrakte Individualität"). "Es entwickelte sich", stellt Eisel fest, freilich folgenlos der Ambivalenz bewusst, "eine Wahrnehmungs-, Verhaltens- bzw. Humanistische Geographie. Das war eine Richtung, die für Geographie den Raum zuletzt ganz abschaffte und Geographie nur noch durch menschliches Handeln begründete."(s. S. 26) "Landschaften stehen nicht auf der Erdoberfläche herum. Sie sind vielmehr Projektionsergebnisse von spezifischen Selbstvergewisserungsprozessen neuzeitlicher Menschen." (S. 28)
3. Der Subjektivierung und Entmaterialisierung dessen, was herkömmlich als "Raum" bezeichnet wurde, dessen Wirkungen nicht selten zu raummateriemechanisch unterstellt worden sind, lässt wahrhaft umfassende sozioräumliche und soziozeitliche Phänomene wie Globalisierung "subjektzentriert" betrachten (Werlen, S. 210 ff. in der Differenz zu David Harvey u. a.). "Was für globalisierte Bedingungen gilt, ist in noch radikalerer Form für die Globalisierungsprozesse zu beachten. Bedingungen und Prozesse der Globalisierung sind konstitutiv an die Konstruktion des modernen Subjekts als handlungsfähige 'Instanz' gebunden. Wer das ignoriert, läuft Gefahr, am Kern der Konsequenzen der Globalisierung in methodologischer wie lebenspraktischer Hinsicht vorbeizusehen." (S. 223) Eine der Konsequenzen aus solchen, hier nur hauchzart aufgedeckten Prämissen lautet: "Nicht die wissenschaftliche Kategorisierung der Welt als die Geographie der Dinge ist dann das Hauptanliegen. Vielmehr ist zu fragen, welche Geographien der Subjekte koexistieren. Deren Erforschung soll zum Ziel haben, die Konsequenzen von bestimmten Lebensformen innerhalb eines globalen Kontextes und globalisierender Handlungsweisen zu rekonstruieren, unter Umständen sinnvoll aufeinander abzustimmen und nach ökologischen Gesichtspunkten zu bestimmen." (S. 228) Der schon zuvor berührte und durchgehend kategorial bestimmende Hybridausdruck: "zweite" oder "reflexive" "Moderne" leitet nicht mehr geographisch im Sinne physischer Umwelt, sondern geistvollhohl den Kurs ("Subjekt", "subjektzentrierter Tatsachenblick" (S. 9), nach früherer Verankerung nun globale "Entankerung", Handeln und noch einmal Handeln). Ulrich Beck und Anthony Giddens als merkwürdig meta-physische Merkurgehilfen. "Diese (die unterschiedlichen Formen, WDN) sind aber allesamt weder als postmodern noch als euro-modern begreifbar. Es sind vielmehr unterschiedliche Ausgestaltungen des Projekts der Moderne im Kantschen Sinn, mit je spezifischen Kontextualisierungen der Kernidee: erkennende und handelnde Subjekte zum Zentrum der Weltbetrachtung zu begreifen." Also gilt u. a.: "Soziale Ungleichheit zeigt sich dementsprechend 'nicht mehr in lebensweltlich identifizierbaren Großlagen [...], sondern (lebens)zeitlich, räumlich und sozial zersplittert'. (Beck, 19932, S. 77; Werlen, 2007, S. 230)
4. Weil nichts räumlich - verort- und also greifbar - einen Anker hat oder findet und eine seltsame (Meta-)Physik des Schwebens der subjektiven Entwürfe schier schwerelos angenommen wird, versteht es sich mutmaßlich, dass alle hier anzuzeigenden Bücher durch einen nahezu anschauungsfreien theoretischen Überhang ausgezeichnet sind. Diese Beobachtung gilt nicht nur für die eher grundlegenden Bücher von Eisel (eine Sammlung früherer Aufsätze vor allem) und Werlen (einer umgearbeiteten Habilitationsschrift, die Schule zu bilden scheint. Die lange Buchreihe als Symptom). Diese Beobachtung trifft ebenso auf Annette Voigts Dissertation zur Konstruktion der Natur zu, in der gekonnt, aber fast ohne eigenen, darüber hinausschießenden Beitrag einige Theoreme referiert und mit politisch pauschalen Philosophien gekreuzt werden (eine Dissertation, die nicht gegen die Autorin spricht. Wohl aber tut dies die Vergabe eines solchen Themas an eine Novizin). Schließlich wiederholt sich die Beobachtung in dem von Werlen edierten Band mit dem Untertitel "Ausgangspunkte und Befunde empirischer Forschung". Das, was dort in Sachen Wohnen (André Odermatt, Joris Ernest Van Wezemael), Konsumverhalten (Tilo Felgenhauer), Entwicklungsforschung (Antje Schlottmann), Wohnumfeld von Kindern (Sylvia Monzel), soziale Räume Jugendlicher (Christian Reutlinger), Ausländerpolitik als staatliches Geographie-Machen (Beat Giger), politische Alltagsgeographien (Markus Schwyn), ungeplanter Regionalisierung (Michael Hermann, Henri Leuthold), zu sozialen Brennpunkten à la Drogenproblem (Guenther Arber), zur Heimatmetaphorik (Markus Richter) und zu territorialen Bezugseinheiten am Exempel "Mitteldeutschland" (Antje Schlottmann, Tilo Felgenhauer, Mandy Mihm, Stefanie Lenk und Mark Schmidt) gesagt wird, regt in jedem Beitrag an. Nur es wird vorweg theoretisch und das heißt dann positionsgedrungen positivistisch überlagert. Es ist, so überhaupt empirisch sparsam und ohne das, was sozialräumlich unabdingbar wäre: Teilnehmende Beobachtung. Die Themenwahl des Bandes wirkt beliebig. Ein räsonierendes Band am Ende taucht als Lücke auf. Unerörtert dominieren nur die wie gewiss präsentierten Prämissen. Etwa die von Antje Schlottmann nach einigen kritisch klugen Bemerkungen zum "herrschenden (westlichen) Entwicklungsdiskurs" wie ein Block herausgestellte "Grundauffassung": "dass die Rahmenbedingungen, seien sie physisch-materieller oder gesellschaftlicher Art, nicht als bestimmender Grund von Handlung betrachtet werden". Die diffuse "Alltagswelt im Sinne einer subjektspezifischen Interpretation" macht die Differenz. Nota bene: ohne die sozio-räumlichen und sozio-zeitlichen Bedingungen auch nur zu berühren, "Subjekt" zu werden und als solches handeln zu können. Die Voraussetzungslosigkeit dessen, was als "Lebenswelt" pauschal hingesetzt wird, kann punktuell, aber verallgemeinerbar eingesehen werden, wenn Sylvia Monzel im Abschnitt "Wohnumfeld als Sozialisationsraum" feststellt, was für meine Kinderzeit auf dem Dorf vor bald 70 Jahren zutraf: "Die Straße kann damit als 'privilegierter Lernort für gesellschaftlichen Anschauungsunterricht' bezeichnet werden, der konkrete Einblicke in viele Lebensbereiche bietet." Dass in der auf den ersten Blick richtigen, sogar antiautoritären "Kernthese", "Jugendliche schaffen sich ihre eigenen 'Bewältigungsstrukturen des Jugendalters'", bestenfalls die halbe Wahrheit steckt, weil sie abstrakt vom sozialen Raum postuliert, bleiben Christian Reutlinger ebenso verborgen, wie die 'materiefrei' untersuchten "Lebenswelten der Jugendlichen", wenn jene sozialbürokratisch vorausgesetzt werden. So fallen schmale Erträge bei aufgesetzter "Theorie" und zerstreuter, mager eingeheimster Empirie an. Sie werden verbunden, mit prätentiösen ("abgeleiteten"!) Einsprengseln von Handlungsvorschlägen, leichthändig aus der hohlen Hand.
5. Etwas außerhalb der Reihe ist Olaf Kühnes Arbeit anzusiedeln. Sie enthält sogar sechs Fallbeispiele und illustrative Bilder. Nur: die Fallbeispiele sind keine. Sie werden nicht als konkrete Totalitäten vorgestellt und dann verallgemeinernd analytisch ausgewickelt. Ansonsten aber überzeugt der Band als gesichtspunktereiche allgemeine Einführung, der mit den anderen Publikationen die Perspektive und die hauptsächlichen Kategorien teilt. Sie sind darauf angelegt, nicht nur die viel kritisierte Vorstellung eines 'Container-Raums' aufzugeben, der von außen her gesellschaftliche Wirkungen zeitige. "Raum" als Ausdruck materieller physischer, sozial angeeigneter und veränderter Bedingungen wird generell seiner materiellen Bedeutungen und Effekte enteignet. Für Kühnes wie die anderen Einlassungen gilt trotz ihrer ausführlichen Ausführungen, trotz ihres theoretischen Räsonnements, dass sie doppelt enthaltsam verfahren. Sie vollziehen ihren spatial turn, zum einen, ohne die Abschiede von der alten Geographie oder ihren Neuanfang zureichend in seinen Voraussetzungen und Folgen zu erörtern. Die Wendung zu einem neuen "räumlichen Denken", das nicht selten so erscheint, als wäre ihm 'der Raum' als eigenartige Verkörperung des Sozialen und seiner leibfülligen Mitglieder, den Menschen, abhanden gekommen, wird methodologisch nicht so übersetzt, dass daraus triftiges Beschreiben sozialer Sachverhalte und ihre 'neue' Analyse wissenschaftlich handwerklich gelernt werden könnten. Verkürzt gesagt: als kritische Lehrbücher sind sie nicht geeignet.
6. Ein Letztes sei ohne üppig zuhandene Belege notiert. Die angezeigten monographischen Studien irritieren nicht selten durch eine überpointierte szientifische Sprache. Passagenweise sträubt sie sich hermetisch dem Zugang. In dieser Hinsicht sind sie den auf "Exzellenz" getrimmten also szientifisch verhunzten Sozialwissenschaften ähnlich, die darum faktisch auf die andere Seite der Dialektik der Aufklärung gewechselt sind, in deren Gebiet sie zurecht drängen. Wenn dazu noch Ausdrücke kommen, wie "tiefenontologisch" - what ever that may imply (?) - und sprachdumme Superlative wie "fundamentalist", hört jedenfalls beim Rezensenten die allen neuen Ansätzen armoffene Toleranz auf. Da wissenschafts- und erkenntnistheoretisiert's dann nur noch als "Tiefe der Niederung" - mit einem Wort Nicolai Hartmanns gesprochen. Dem oft unausgepackt erwähnten demokratischen Elan widerspricht's.
Anders als bei Derek Gregory, David Harvey und andere alten Kämpen auf dem kontroversen Feld politisch radikaler und kapitalismuskritischer Geographie - oder geographisch zugespitzter Politik-(Staats-) und Kapital-Kritik -, die spärlich erwähnt werden, ist in dieser bundesdeutschen Variante die 'Wende zum Räumlichen' als "sozialer Konstruktion" im Unterschied zur internationalen kapitalismus- und staatskritischen Diskussion überdreht worden. Gregory, Harvey, Blomley, Storper, Soja und andere wussten immer, mit Doreen Massey gesprochen: "Space is a social construct - yes. But social relations are also constructed over space, and that makes the difference."3 Die oben apostrophierten Publikationen betreiben eine Entmaterialisierung des Raums und der Formen der Vergesellschaftung in einer Weise, dass sie just das am meisten verfehlen, was sie als Bezugsbegriffe ihrer 'neuen Wissenschaft' in den Mittelpunkt stellen: Menschen als Subjekte des Geschehens und Handelns. Globalisierung und Globalität bedeuten nicht zufällig schier unfassbare Raumgrößen und statische wie vor allem dynamische Raummetaphern in einem. In diesem Sinne realisieren sie täglich die Hegelsche Einsicht: das Abstrakte ist das Konkrete und das Konkrete ist das Abstrakte. Das heißt nicht nur, dass konkrete Phänomene nur erkannt werden können in der andauernden dialektischen Beziehung zu abgehobenen globalen Größen à la Weltmarkt, Konkurrenz transnationaler Unternehmen, Innovationen transnationaler Wissenschaften konform dazu u. ä. m. Sie stellen die orientierenden Definitionsfaktoren dar. Das heißt zugleich, dass Subjekte und ihr Handlungsraum in ihren und seinen Bestimmtheiten, seiner Enge, seinen Wahlmängeln und seinem 'Verhängtsein' nur verstanden werden können - bis hin zu verbleibenden Spielräumen möglichen Handelns -, wenn sie in den Stufen ihres Vermitteltseins mit schon in ihrer Größenordnung abstrakten Faktoren nachgegangen und darum begriffen werden. Da die ausschnittweise vorgestellten bundesdeutschen Autorinnen und Autoren des spatial turn mir unbekannter Motive halber Ulrich Eisels als Motto benutzte Mahnung nicht im geringsten beherzigt haben, allem modisch inflationären Reflexionsgerede zum Trotz, sind sie in die gleißende Sackgasse a-sozialer wie a-räumlicher pseudosubjektiver Konstruktivismen geraten. Täuschend als "zweite" oder selbstredend "reflexive" "Moderne" hochgeredet, sind sie als Sozialwissenschaftler wie etablierte Politiker den eigenen Euphemismen erlegen (vgl. Orwells wichtig bleibendes Sprachkapitel in "1984"). Wie dies anderwärts ebenfalls zu beobachten ist, ist in den präsentierten Büchern das geschehen, was man vor Jahrzehnten als Gefahr der Sozialwissenschaften diagnostiziert hat: "the oversocialized concept of human beings." In der sich täglich widerspruchsvoll weiter globalisierenden Welt in all ihren massiven Unterschieden erscheint der Abschied von materiellen Faktoren, die selbstredend immer verschlungen mit ihrer sozialen Aneignung und Enteignung zu analysieren sind, wie so etwas wie eine objektive Ironie. Globalisierung und Zunahme der Dissoziation sind zwei Seiten einer Medaille. Darum, wenn man es unvermittelt betrachtet, der Schein der Individualisierung und des Individuums als eines handlungsfähigen Subjekts eigener Bestimmung. Und diese Philosophie des Als-Ob handlungsfähiger Subjekte ereignet sich "wissenschaftlich" hybrid im Rahmen gigantomane Projekte fördernder Globalisierung. Diese wiederum machen nicht zuletzt in der Produktion und Verwohlfeilerung neuer Technologien zur (Schein-)Bewältigung sozial nicht mehr zuhandener Größenordnungen knappe geographische und geologische Ressourcen zum weltweiten Kampfgegenstand. Wie kann man nur, mit Robert Musil gesprochen, die schon kognitiv schwer erschließbare "Herrschaft der Sachzusammenhänge" in subjektiver Betulichkeit szientifisch verkapselt derart verfehlen.
Leider! Die aufgeführten Bücher und Aufsätze sind nicht in der Lage das helldunkle Echo aus der Tiefe des globalisierten Raums, seinen sich türmenden sozialen Ungleichheiten, seinen verschärften knappen Ressourcen, seinem bedrohlichen und allemal schon präsenten kollektiven Gewaltgerassel auch nur versuchsweise antwortend zu formulieren. Nicht ein Rückfall, ein neuer spatial turn ist vonnöten. Dieser sollte die Sozialwissenschaften als Wirklichkeitswissenschaften kapitalistisch entgrenzter und darin kategorisch begrenzter sozialer Räume stimulieren. Und dies in differenzierter, dialektisch interpretierter, immer auf das Schicksal und die Möglichkeiten von Personen zugespitzter Weise. Eine Schlüsselfrage der Zeit lautet: wie ist (freie) Gesellschaft inmitten globaler 'Ungeheuer', entsprechenden Beschleunigungen, Entgrenzungen und neuen Menschen scheidenden Grenzziehungen möglich? Oder: Grade und Grenzen der Antiquiertheit von selbst organisierungsfähiger, also politischer Gesellschaft.
1 Georg Simmel in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1958, 4. Aufl., S. 460-526, hier S. 467 (heute bei stw in Taschenbuchform. Lesenswert!)
2 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a.M.1993
3 Doreen Massey: New Directions in Space, in: Derek Gregory and John Urry (eds): Social Relations and Spatial Structures, St. Martin's Press New York 1985, S. 9 -19, hier S. 11. An späterer Stelle heißt es entsprechend: "These are not just social divisions of labor distributed over space; the form of the social division is itself influenced by the fact that it is distributed over space."
Wolf-Dieter Narr
Zitierweise:
Wolf-Dieter Narr 2010: Wie kommt's zum Raum-Echo? In: http://www.raumnachrichten.de/ressource/buecher/1187-raum
Arbeiten von Werlen werden auch von anderen Autoren auf raumnachrichten.de besprochen:
Helmut Klüter
Anton Escher
Peter Meusburger
Hans-Joachim Bürkner
Julia Lossau
Christina Issa
Eine der Hauptaufgaben von raumnachrichten.de sieht die Redaktion darin, die Diskussionskultur innerhalb der Geographie und mit anderen Fächern zu bereichern. Wir bedanken uns daher ganz herzlich bei Olaf Kühne, dass er als rezensierter Autor zu einer Stellungnahme zur Besprechung von Wolf-Dieter Narr bereit war.
Anmerkungen zur Wolf-Dieter Narrs Sammelrezension "Wie kommt's zum Raum-Echo?"
Eine Sammelrezension zu erwidern, die sich (was nun einmal in der ‚Natur' der Sache einer Sammelrezension liegt) bisweilen stark verallgemeinernd über durchaus sehr unterschiedliche Werke äußert, birgt die Herausforderung, sich einerseits nicht beckmesserisch in Einzelaussagen zum eigenen Buch zu ergehen, andererseits nicht dem Drang zu erliegen, eine Zweitrezension zu den behandelten Werken zu verfassen. Im Folgenden sollen vielmehr allgemeine Aussagen des Rezensenten vor dem Hintergrund der im eigenen Buch dargestellten Sichtweisen verdeutlicht werden und darüber hinaus der an die Bücher herangetragene Anspruch des Rezensenten kritisch (aus nicht-marxistischer Perspektive) hinterfragt werden.
Die rezensierten Bücher werden von Wolf-Dieter Narr dem spatial turn zugeordnet. Dies ist insofern bemerkenswert, da einerseits manche Autoren Geographen und andere Raumwissenschaftler sind, und da andererseits der spatial turn von einigen Ausnahmen (insbesondere um Edward Soja) abgesehen, eher an die Geographie herangetragen, denn von der Geographie exportiert wurde. Die Art der Entwicklung des spatial turns als Entdeckung und insbesondere als (Neu-)Erfinden von Räumen und Räumlichkeit ist auch der geringen Bezugnahme der Medienwissenschaften, der Soziologie, der Kulturwissenschaften etc. auf die Gedanken der (Sozial-)Geographie geschuldet. Die Geographie wiederum begegnet (mit wenigen Ausnahmen) den Raumavancen der (übrigen) Kultur- und Sozialwissenschaften mit einer gewissen Skepsis (wie u.a. Hard 2008, Werlen 2008), nicht zuletzt weil der Anspruch auf die zentrale Kompetenz der Geographie für das Räumliche in Frage gestellt scheint. Zu dem von mir verfassten, hier besprochenen Buch: Es war nicht mit der Intention geschrieben, einen turn zu beschleunigen, zu feiern oder zu kritisieren - der Begriff spatial turn findet sich nur an einer Stelle, an der ein wachsendes Interesse der Kultur- und Sozialwissenschaften am Thema Raum konstatiert wird. Intention war vielmehr den in der geographischen Disziplin in Verruf geratenen und aus der (sozial)Geographie externalisierten alten geographischen Begriff der Landschaft in den Merkmalen seiner Hybridität (Kühne 2009) zu differenzieren, inter- und transdisziplinär zu beleuchten und seine Anschlussfähigkeit (auch für den landschaftkritischen Diskurs innerhalb der Geographie) zu erweitern. Dass das Buch auch als ein Dokument des spatial turns gelesen werden kann, zeigt die Rezension.
Den rezensierten Autoren wird eine Blindheit gegenüber den physischen räumlichen Strukturen unterstellt. Eine Charakterisierung, die ich für das von mir verfasste Buch zurückweisen muss. Menschen machen Raum, aber Raum wirkt rekursiv auch auf Menschen, sowohl in Bezug auf den sozialen Raum, aber auch auf die symbolisch besetzten Objekte. Meine theoretische Auseinandersetzung mit Landschaft ist also nicht darauf gerichtet, die Existenz physischer Objekte zu negieren oder zu missachten (dies widerspräche auch meiner langjährigen praktischen Tätigkeit in der Raum- und Umweltplanung mit den entsprechenden Möglichkeiten zur von Wolf-Dieter Narr angemahnten teilnehmenden Beobachtung), sondern vielmehr jenseits des Essentialismus theoretisch verfügbar zu machen, ohne in "altgeographische" (Hard 2008) Melangen zu verfallen. Physische Objekte werden - gemäß der von mir formulierten theoretischen Annäherung an das Thema Landschaft - gemäß sozialer Deutungsschemata durch deutende Personen beobachtet und zu Landschaft synthetisiert. Landschaft ist also aus meiner Sicht nicht als Wahrnehmung eines physischen Objektes zu deuten, sondern vielmehr als sozial definierte Zusammenschau von physischen Objekten (bzw. deren medialen Repräsentanten), verbunden mit deren symbolischer Aufladung.
In einem Punkt muss aus meiner Sicht Wolf-Dieter Narr deutlich widersprochen werden: In seiner Sammelrezension verweist er auf einen mangelnden Anschluss an marxistische Theoriebildung, die - wie es scheint - aus seiner Sicht die Deutungshoheit über das habe, was unter ‚kritisch' zu verstehen sei. Dies impliziert die dichotome Teilung der Deutung der Welt in ‚marxistisch = kritisch (= gut?) und bürgerlich = neoliberal = affirmativ (= schlecht?)'. Jedoch macht eine Befassung mit der politischen Philosophie eines John Rawls und seinem Gerechtigkeitsbegriff deutlich, dass auch innerhalb der ‚bürgerlichen' Weltsicht eine Kritik an bestehenden Chancenungleichheiten (und auch deren räumlichen Ausprägungen) möglich ist. Der Anspruch, in einem Buch, dass sich in erster Linie mit sozialen Konstruktions- und Deutungsmechanismen von Landschaft befasst, Antworten auf "das helldunkle Echo aus der Tiefe des globalisierten Raums, seinen sich türmenden sozialen Ungleichheiten, seinen verschärften knappen Ressourcen, seinem bedrohlichen und allemal schon präsenten kollektiven Gewaltgerassel" finden zu können, erscheint mir durchaus überzogen. Es mag hierfür möglichweise Anstöße im Sinne der "Kleinen Erzählungen" geben, was auch vielmehr der Skepsis des Autors gegen die "großen Erzählungen" entspricht (Lyotard). Die Kritik des fehlenden globalen Anspruchs nehme ich also gerne auf mich.
Die von mir vorgestellte Konzeption von Landschaft lädt durchaus zu einer kritischen Sichtweise ein, wenn soziale Deutungshoheiten auf der Ebene der sozialen Konstruktion von Landschaft, implizite normative Ästhetiken, physische Entäußerungen von Machtansprüchen (insbesondere von Experten) und deren Rückwirkungen auf das Soziale reflektiert werden, wobei sich hier auch Anschlüsse an die marxistische Weltdeutung finden lassen. Aber ein kritisches Lehrbuch - da gebe ich Wolf-Dieter Narr gerne recht - ist mein Buch nicht. Das sollte es auch nie sein, es ging mir vielmehr darum, das Thema Landschaft, freilich nach Reflexion bestehender Ansätze, theoretisch so zu konstruieren, dass eine praktische Anschlussfähigkeit zumindest denkbar ist, wie ich in Kühne (2009) genauer ausgeführt habe.
Hard, G. (2008): Der Spatial Turn, von der Geographie her gedacht. In: Döring, J. / Thielemann, T. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld, 263-316.
Kühne, O. (2009): Grundzüge einer konstruktivistischen Landschaftstheorie und ihre Konsequenzen für die räumliche Planung. In: Raumforschung und Raumordnung, Jg. 67, H. 5/6, 395-404.
Werlen, B. (2008): Körper, Raum und mediale Repräsentation. In: Döring, J. / Thielemann, T. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld, 365-392.
Olaf Kühne
Zitierweise:
Olaf Kühne 2010: Anmerkungen zur Wolf-Dieter Narrs Sammelrezension "Wie kommt's zum Raum-Echo?" In: Wolf-Dieter Narr: Wie kommt's zum Raum-Echo? In: http://www.raumnachrichten.de/ressource/buecher/1187-raum