Ulrich van der Heyden u. Joachim Zeller (Hg.): Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland. Erfurt 2007. 447 S.

Die Bewusstmachung und Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit ist zu einem wesentlichen Zweig lokaler Geschichtsinitiativen und einzelner Aktivistinnen und Aktivisten geworden. Der aufklärerische Nutzen, sich und anderen klar zu machen, dass koloniale Herrschaft nicht (nur) irgendwo Tausende von Kilometern entfernt stattgefunden hat, sondern verknüpft ist mit dem eigenen Wohnort und täglich begegnenden Merkzeichen wie Straßennamen, Häusern oder Denkmälern, ist fast unmittelbar einsehbar.

Mittlerweile hat in diesem Bereich auch eine beachtliche Publikationstätigkeit eingesetzt, in die sich das vorliegende Buch weitgehend einfügt. Die über 80 Einzelbeiträge tun dies freilich in unterschiedlichem Maße und auf höchst unterschiedlichem Niveau. Die Ausstattung mit reichen, freilich nicht immer klar motivierten Illustrationen, mittlerem Großformat, schwerem Papier und Hardcover nähert das Buch dem Prachtband bzw. der Kategorie des coffee table book an. Das kann das Blättern zum Vergnügen machen, ist aber auch nicht unproblematisch – zumal dann, wenn eine Reihe von Beiträgen wenig mehr bieten als die Aufzählung von (nicht immer korrekt wiedergegebenen) Fakten. In einem argumentativen Gesamtzusammenhang, wo andere sich an Details von Uniformknöpfen und kolonialen Feldzeichen erfreuen, kommen solch unrefl ektierte Faktensammlungen dieser Kolonialnostalgie – ganz unzweifelhaft ungewollt – dennoch allzu sehr entgegen. Dem ließe sich nur durch eine weit gründliche Kontextualisierung begegnen, die aber im Rahmen der kurzen Beiträge meist nicht zu leisten ist. Die Herausgeber haben sich auf ein knapp zweiseitiges Vorwort beschränkt, das zwar höchst anspruchsvoll Parallelen zu dem klassischen Werk von Pierre Nora über „Erinnerungsorte“ in Frankreich sowie dem von Etienne François und Hagen Schulze verfassten deutschen Gegenstück in Anspruch nimmt, sonst aber wenig auch nur zur Gliederung der Aufsatzsammlung verlauten lässt. Auch der Hinweis, dass hier „ deutscher“ Kolonialismus lange vor der Gründung des deutschen Nationalstaates angesetzt wird und die Unternehmungen der Welser in Venezuela ebenso einbegreift wie die brandenburgischen Kolonisationsversuche in Westafrika, wird nicht weiter begründet. Dass auch noch das Intermezzo der niederländischen Herrschaft an der Nordostküste Brasiliens berücksichtigt wird, könnte den deutschen Nationalisten des 19. Jahrhundert gefallen haben, die eh die „Völkchen“ an der Wasserkante eingemeinden wollten. Eigentlich hat ja die kritische Forschung zu Nation und Nationalismus längst herausgearbeitet, dass solche Rückprojektionen, die „Deutschland“ im Mittelalter oder in der Frühen Neuzeit entdecken wollen, eher der Ideologie des 19. Jahrhunderts aufsitzen als dass sie die Wirklichkeit zu träfen. Im Jahr des 2000. Jubiläums der Varusschlacht kann man das auch in besseren Feuilletons lesen. Wer freilich Wilhelm I. nicht von Wilhelm II. (234) unterscheidet und auch Karl Liebknecht nicht von seinem Vater Wilhelm (255), wer auch durchgehen lässt, dass „Wahehe“ als „Bantu-Völkerschaft“ (247f) bezeichnet werden, nimmt’s vielleicht einfach nicht so genau. Vieles liest man, wenn man sich denn einer Gesamtlektüre unterzieht, auch mehrmals, weil offensichtlich zu wenig unternommen wurde, die Einzelbeiträge aufeinander abzustimmen.


Diese reichen von der erwähnten faktenhuberischen Aufzählung über komprimierte Auszüge aus Dissertationen – oft trifft man auf Materialien, die auch anderswo schon zu lesen waren – bis hin zur gelungenen Vignette, so etwa Ulrike Lindners Skizze der Straßenbenennungen und -umbenennungen im „Kolonialviertel“ in München-Trudering oder Michael Zeuskes knappe Dekonstruktion des „Humboldt-Mythos“ anhand der zu Lebzeiten unveröffentlichten Tagebücher Alexander von Humboldts, die sich kritisch mit der in den Amerikas beobachteten  gesellschaftlichen Realität auseinandersetzten. Kathrin Roller berichtet spannend über die schwäbische Kleinstadt Gerlingen, die Heimat einer erstaunlichen Anzahl von Missionaren war und daher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Zielort von Reisen aus deren früheren Missionsgebieten wurde. Warum die schwarze Witwe des in Ghana berühmten Missionars Johannes Zimmermann „bei den Gerlingern keinen Kontakt gefunden“ habe, wie ein Quellentext formuliert, bleibt freilich unerörtert (232). Das Gleiche gilt für die Lebensumstände der Menschen, die in der von Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller im umfangreichsten Beitrag des Bandes präsentierten „Bildergalerie“ offenbar allein dem Nachweis dienen, dass zu verschiedenen Zeiten „Schwarze“ in „Deutschland“ gelebt haben, auch wenn es Anfang des 20. Jahrhunderts nur 500 von 60 Mio. waren (0,001 %). Was es bedeutet, dass ungeachtet des in Deutsch-Südwestafrika brutal durchgesetzten „Mischehen-Verbotes afrikanische Männer und deutsche Frauen offenbar unbehelligt zusammen leben konnten“ (403, 410), bleibt unerörtert, ebenso die Präsenz eines schwarzen Soldaten in einem deutschen Schützengraben im Ersten Weltkrieg (409), während doch gleichzeitig die deutsche Kriegspropaganda den Einsatz der Tiralleurs Sénégalaises geißelte. Vielleicht sollen beim Betrachten der Bilder solche Fragen ja auch gar nicht gestellt werden. Dannfreilich ist erst recht nach dem Sinn der Aufhäufung von Fakten zu fragen, die für sich genommen wenig aufklärerische Wirkung entfalten können.
Reinhart Kößler

 

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 116, S. 505-506