Michael Bommes, Marianne Krüger-Potratz:  Migrationsreport 2008. Fakten - Analysen - Perspektiven. Frankfurt/M 2008. 320 S.

Der hier vorgelegte fünfte Migrationsreport hat den Schwerpunkt Integrationspolitik der Städte. Er umfasst analytische Beiträge und eine umfangreiche Dokumentation wichtiger Ereignisse und Debatten seit Mitte 2006 in chronologischer Ordnung.

Hartmut Häußermann und Andreas Kapphan fragen nach den integrationspolitischen Handlungsmöglichkeiten der Kommunen. Sie heben die Mehrdimensionalität von Integration hervor - dies sei kein linearer Prozess (17) -, erinnern an die demographische Entwicklung und skizzieren die Entwicklung städtischer Bemühungen seit Beginn der Arbeitsmigration. Eine "Politik der kulturellen Fürsorge auf unterster Ebene" mit unkoordinierten, befristeten Modellprojekten werde inzwischen in vielen Großstädten abgelöst von "programmatischen Ausrichtungen" (21f) und einer Gesamtstrategie, die einen ›Paradigmenwechsel‹ signalisieren. Sie formulieren Ansprüche an eine ›Anerkennungspolitik‹. Diese betrifft v.a. die Muslime und die Repräsentation des Islam im  öffentlichen Raum. Ebenso behandeln sie die politische Repräsentation von Migranten mit kritischen Anmerkungen zur Einbürgerungspraxis und die Bereiche Sprache, Bildung und Arbeitsmarkt. Die neuen Arbeitsgemeinschaften zwischen Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit (ARGEn), oft in Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), eröffnen nach ihrer Ansicht neue Handlungsmöglichkeiten. Im Schlussteil fordern sie mehr Engagement für Antidiskriminierung, geben Anregungen und setzen sich kritisch mit der Rede von ›Parallelgesellschaften‹ auseinander, indem sie über Mechanismen der Wohnsegregation aufklären.
Gari Pavkovic, Integrationsbeauftragter der Stadt Stuttgart, gibt einen Einblick in kommunale Integrationsarbeit und deren Schwierigkeiten. Problematisch seien v.a. die unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten auf Bundes- und Länderebene und die mangelhafte Abstimmung mit den kommunalen Integrationsstrategien. Nicht von ungefähr ist das favorisierte Handlungsfeld in Stuttgart der Bereich Sprache und Bildung, wo es immerhin gelungen ist, die Divergenz der Trägerinteressen zu überwinden, eine ›Bildungspartnerschaft‹ zu bilden (61), die Kooperation von Kitas und Grundschulen, von Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe zu initiieren. Insgesamt dämpft dieser Bericht aus der Praxis aber allzu euphorische Einschätzungen, indem er u.a. auf die Schwierigkeiten verweist, Ausbildungsbetriebe für Jugendliche mit Migrationshintergrund zu gewinnen (65). - Frank-Olaf Radtke und Patricia Stosic unterziehen im Beitrag "›Sozialraum‹ und ›Netzwerke‹ - Semantiken kommunaler Integrationspolitik" diese beiden programmatischen Konzepte einer Kritik, die auf deren Funktion für die politische Legitimationsbeschaffung abzielt und die Vernachlässigung struktureller Integrationsprobleme erhellt. Integration werde "auf Interaktionsprobleme zurückgeführt" (80). Der Nationale Integrationsplan begünstige die "Pädagogisierung des Migrationsproblems" (78). Der Semantik vom "Sozialraum" liege die "Verwechslung von Klassen- mit Raumeffekten" zugrunde (95). Einfach ausgedrückt, man hofft durch Identifikation der Bewohner mit ihrem Quartier lebenswerte Verhältnisse zu schaffen anstatt umgekehrt (98). Bemühungen um Koordination würden durch den Umbau des Sozialstaats gerade behindert, weil damit der Wettbewerb der Träger sozialer Arbeit gefördert und ein neues Koordinationsproblem geschaffen wurde. Das allerorten propagierte ›Netzwerk‹ erweise sich als politische ›Zauberformel‹, weil Netzwerke, anders als Organisationen, durch einen geringen Grad an Verbindlichkeit gekennzeichnet seien. Statt der "Ertüchtigung der Einzelnen und ihrer Stadtteile" sei die Ertüchtigung der relevanten Funktionssysteme, v.a. des Bildungssystems, geboten (107).
Christian Imdorf stützt sich im Beitrag "Migrantenjugendliche in der betrieblichen Ausbildungsplatzvergabe - auch ein Problem für Kommunen" auf eine Befragung von 81 Klein- und Mittelbetrieben in der Deutsch-Schweiz. Seine Ausgangsthese ist, dass die Zugangsbarrieren zur Berufsausbildung für Migrantenjugendliche nur unzureichend mit schulischen Defi ziten zu erklären seien. Ergebnis seiner Untersuchung ist, dass v.a. bei Klein- und Mittelbetrieben strukturell bedingte Schwierigkeiten der Auswahl (Zeitknappheit, vielfältige, teils widersprüchliche Anforderungen, mangelnde Professionalität) diskriminierende Effekte zeitigen. Die Dramatik sieht Verf. darin, dass sich für die Betroffenen "ein Teufelskreis" auftut, denn der Zwang zu vielen wiederholten Bewerbungen und fehlende Spezifi kation der Berufswahl verschafft ein ungünstiges Image, weckt z.B. den Verdacht auf Desinteresse (143ff). - Bommes fragt nach den Gründen für die ›Integrationseuphorie‹ und v.a. für die Verlagerung der Aufgaben auf die kommunale Ebene nach dem neuen Motto "Integration findet vor Ort statt". Dieser Trend lasse sich weder mit Aufklärungseffekten der Wissenschaft noch mit funktionalen Erfordernissen erklären, sondern sei v.a. durch "die veränderte Stellung der Migranten im aktivierenden Wohlfahrtsstaat" begründet (169). Dabei hält er - anders als Häußermann/Kapphan - den Maßnahmenkatalog nicht für neu, nur dass die Inpflichtnahme der Kommunen durch die Hartz Gesetze und den Nationalen Integrationsplan erzwungen werde. Neu seien nur die "Semantik" und das "institutionelle Design" (186). Er warnt daher vor Enttäuschungen und hat Zweifel an der Wirksamkeit der Programme, gleichwohl hält er sie für notwendig.


Franz Nuscheler kommentiert den Weltbevölkerungsbericht 2007 der UN skeptisch und kritisch. Dieser zeige, dass v.a. im subsaharischen Afrika die Urbanisierung rasend schnell voranschreitet, die Armut in die Städte verlagert wird und ein Drittel der weltweiten Stadtbevölkerung in Slums lebt. Die UN halte diese Entwicklung jedoch nicht nur für unaufhaltsam, sondern für das ›economic growth‹ sogar für förderlich. - Werner Schiffauer analysiert die sog. Islamkonferenz, bei der die deutsche Regierung - so der öffentliche Eindruck - den Dialog mit den Muslimen begonnen hat. Er geht dagegen von der These aus, dass es sich dabei um eine Strategie handelt, "mit der die bisherige Sicherheitspolitik komplementiert und ergänzt wird" (209). Das Ergebnispapier, das vom Innenministerium trotz Einspruchs der angeblichen Dialogpartner an die Öffentlichkeit gegeben wurde, enthalte u.a. textliche Übereinstimmungen mit Papieren des Verfassungsschutzes, die Muslime unter Generalverdacht stellen. Das Diktat von Tagesordnungen und Protokollen sei nicht nur dialogfeindlich und integrationspolitisch kontraproduktiv, sondern auch sicherheitspolitisch.


Die überwiegende Mehrheit der Beiträge einschließlich der abschließenden Dokumentation ist sehr informativ und für die eigene Urteilsbildung hilfreich.
Georg Auernheimer

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 678-679