Stephan Lessenich u. Frank Nullmeier (Hg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/M-New York 2006. 374 S.
Stefan Hradil: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich. Wiesbaden 2006. 304 S.
Helmut Bremer u. Andrea Lange-Vester (Hg.): Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen. Wiesbaden 2006. 419 S.

Der Traum von ›konfliktenthobenen Mittelschichtsgesellschaften‹, in der alle die Mitte bilden und die Ränder schmal sind, ist ausgeträumt. Es gilt nicht mehr, dass »Arbeitsplätze und auskömmliches Einkommen für ›alle‹ vorhanden« sind, »Wohlstandssteigerung und beruflicher Aufstieg für breite Bevölkerungsschichten die zentrale Orientierung« bilden und »ungeachtet verbliebener Vermögens- und Einkommensunterschiede« ein »hohes Maß an sozialer Kohäsion greift« (Lessenich/Nullmeier, 10). In aktuellen Beiträgen zur  Sozialstrukturanalyse wird eine Verfestigung sozialer Unterschiede konstatiert und die Kluft zwischen Arm und Reich und die Ausgrenzung wachsender sozialer Gruppen beschrieben.

Trotz der bes. in Ostdeutschland folgenreichen neoliberalen Zurichtung von Wirtschaft und Gesellschaft, trotz des mit der »Agenda 2010« verbundenen Sozialabbaus blieben harte politische, ökonomische und soziale Konfl ikte allerdings bislang aus und es gelang, das bestehende System als alternativlos darzustellen. Ob die aktuelle Wirtschaftskrise – noch nicht Gegenstand der vorliegenden Bücher – mit ihren absehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen soziale Unruhe auslösen wird, ist offen. – Lessenich/Nullmeier postulieren, dass »die politisch und gesellschaftlich – aber eben nicht zuletzt auch sozialwissenschaftlich – reproduzierte Idee einer Einheit ›der‹ deutschen Gesellschaft in Frage zu stellen« sei (8). Das »mosaikartige Bild von Deutschland als einer Gesellschaft, die ›Einheit‹ allenfalls in der Vielzahl ihrer  politischen und kulturellen, materiellen und symbolischen Spaltungen und Abspaltungen findet«, stimme wenig optimistisch (ebd.). Aber man wisse ja aus den »guten, in jedem Fall besseren ›alten Zeiten‹ [...], wie eine ›gute Gesellschaft‹ aussehen kann: zwar kapitalistisch, aber doch sozial, zwar nicht von materieller Gleichheit geprägt, aber doch mittelschichtszentriert, zwar nicht wirklich partizipatorisch, aber doch und immerhin solide demokratisch. Die heutige bundesdeutsche Gesellschaft hat ein konkretes Ideal, das jedoch als – unwiederbringlich – verloren gilt« (10). Erfahrung und Fiktion aus Zeiten von »Sozialpartnerschaft« und  Blockkonfrontation können durchaus eine Utopie abgeben – allerdings nicht, wie Verf. glauben, die eines sozialen  Kapitalismus, sondern die eines sozialistischen Weges. Aber die Menschen müssten sich auf die Infragestellung ihrer eigenen Erfahrungen und Illusionen einlassen und ihren Antikommunismus beerdigen, wenn sie wieder so gut leben wollten wie im rheinischen Kapitalismus des fordistischen Klassenkompromisses. Zudem müssten sie härter urteilen: »Soziale Ungleichheiten vermitteln Vor- bzw. Nachteile«, so Hradil, der zwar auf »soziale Unterschiede« abhebt (196), aber in seinem Ungleichheitsbegriff sowohl extreme Armut als illegitim wie die Abstufung der Tarifl öhne als legitime Ungleichheiten fasst. Die von ihm genannten Fakten widersprechen allerdings solch zahmen Formulierungen. So hat 1973 das einkommensstärkste Bevölkerungszehntel 2,88-mal soviel verdient wie das einkommensschwächste; 1998 war es 3,29-mal soviel (205). Noch deutlicher wird dies mit Blick auf die Vermögensverteilung: 1998 besaß das vermögensstärkste Fünftel 63,8 Prozent, während das vermögensschwächste mit Schulden von -0,32% ausgewiesen wird (218).
Die Befunde von Lessenich/Nullmeier sind eindeutig: »Es lassen sich über die Gegensätze von Arm und Reich, Ost und West, Gebildet und Ungebildet usw. hinweg drei Sozialfi guren der gesellschaftlichen Abspaltung unterscheiden: die ›Überfl üssigen‹, die ›Abweichenden‹ und die ›Unsichtbaren‹.« (12) Wer sich durch die Analysen verschiedenster gesellschaftlicher Spaltungen (u.a. auch sicher/prekär, Elite/Masse oder beweglich/unbeweglich) hindurchgearbeitet hat, wird dieses Urteil bestätigt fi nden. Und doch: »Eine ›Wiederkehr‹ der Klassengesellschaft als Gesellschaft sich gegenüberstehender Großgruppen vollzieht sich vor unseren Augen sicherlich nicht.« (15) Hier zeigt sich die Gefahr solcher Analysen der Desintegration und des latenten Konfl ikts: es sind aneinandergereihte Ungleichheiten, deren Verbindung aufzuzeigen, Verf. verweigern. Deren tiefere Wurzeln sind aber in der Spaltung von Kapital und Arbeit zu fi nden – egal, ob auf der Arbeitsseite Proletarier stehen oder prekäre und abhängige ›Selbständige‹. Diese Einsicht formuliert in ihrem Sammelband allein Heiner Ganßmann. Seine ›Spaltungsanalyse‹ ergibt: »der Anteil der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung am verfügbaren Einkommen betrug in den 1950er und 1960er Jahren über 55 Prozent, 1990 in der alten Bundesrepublik noch 50 Prozent und ist 2004 auf unter 42 Prozent gesunken. [...] Der als Residual angegebene Anteil der Kapitaleinkommen ist parallel von 25 Prozent (1950er/1960er Jahre) über 28 Prozent (1990) auf 32 Prozent (2004) gewachsen« (109; vgl. auch Hradil, 205ff). Allerdings schwächt er ab, dass der Kapital-Arbeit-Gegensatz eher das »Ergebnis – nicht des Klassenkampfes, wie im Kommunistischen Manifest avisiert –, sondern der funktionalen Differenzierung in der ›Arbeitsgesellschaft‹« (112) sei. Kapital wird zum »Synonym für Einkommen ohne Gegenleistung« (ebd.) – eine Form  spekulativer Geschäftstätigkeit und nicht länger Teil eines gesellschaftlichen Verhältnisses, dass die private Aneignung von Mehrwert voraussetzt. Aus dieser Perspektive hat Ausbeutung, direkt oder indirekt, nur wenig mit Ungleichheiten oder gar Kapitalismus und seinen gesellschaftszerstörenden Momenten zu tun.
Wichtig, zumal in Zeiten der Globalisierung, ist die Bezugsebene sozialer Veränderungen und der sich daraus ableitenden politischen Konsequenzen. »Die einen«, so Lessenich/Nullmeier, »man mag sie ›globale Klasse‹ (Dahrendorf) nennen oder als Gesamtheit der auf internationalen Märkten agierenden Unternehmer, Selbständigen, Kapitalanleger und hoch qualifi zierten Arbeitnehmer verstehen, orientieren sich nicht mehr am Handlungs-, Sozial- und Integrationsraum Deutschlands. Die Vorstellung einer gesellschaftlichen Gemeinschaft namens ›Deutschland‹ müssen andere  Hochhalten – diejenigen nämlich, die sich von ihr jenes Solidaritäts- und Sicherungsnetz erwarten, das ihnen der Markt nicht bietet. Wenn aber gerade die Leistungsstarken aus dieser Einheit gedanklich und/oder physisch auswandern – und ökonomischer Rationalität folgend auswandern müssen –, dann wird die Beschwörung gesellschaftlicher Einheitsvorstellungen und patriotisch-solidarischer Gesinnungen zunehmend illusionär.« (11) Sachzwänge und die Anonymität der Globalisierung suggerieren, der nationale Kontext sei als Kampfplatz überflüssig. So vedreht, wird Antinationalismus und der Glaube an einen besseren Globalismus und ein besseres Europa zur Mine gegen den Widerstand vor Ort, der Teil wie Voraussetzung eines internationalen Kampfs sein muss. Hradils Anspruch, das »erste deutschsprachige Lehrbuch« vorzulegen, das »die Entwicklung der Sozialstruktur Deutschlands durchgehend mit« derjenigen »in anderen Ländern vergleicht« (9), bestätigt den Eindruck einer internationalen Zerklüftung. Er berücksichtigt »die fortschreitende Vernetzung der Welt«: »Ein Buch, das ausschließlich die Sozialstruktur Deutschlands berücksichtigt, macht keinen Sinn mehr« (10). Seinem Vorhaben legt er den »Vergleichsmaßstab der Modernisierung zu Grunde« (10f). Er sei sich bewusst, dass dies »ein Maßstab in Gestalt der viel kritisierten, ›den Westen‹ zum Vorbild erklärenden  Modernisierungstheorien« ist, meint aber, dass er »keinesfalls [...] voraussetzt oder wünscht, alle Länder würden diesen Modernisierungsweg tatsächlich einschlagen« (12). Offen bleibt, ob er Alternativen sieht und akzeptiert. Der ursprüngliche Ansatz, auf die letzten 500 Jahre zu schauen (18ff), reduziert sich meist auf die letzten 30 bis 50 Jahre.


Auf kleiner Flamme kochen auch Lessenich/Nullmeier. Die zusammengetragenen Daten bekundeten »sowohl Kontinuitäten der Sozialstruktur Deutschlands, die dramatisierende Deutungen nicht stützen, als auch sozialstrukturelle Brüche und Tendenzen, die skeptisch stimmen gegenüber entwarnenden Diagnosen einer bloßen Vielfalt unverbundener und hierarchiefreier Spaltungen« (16). Auch hier also die ›beruhigende‹ Distanz des Analytikers. Korrigierend formulieren sie immerhin: »Deutschland ist auf dem Weg zu einer Konkurrenzgesellschaft« – »einer Gesellschaft, die noch den Sicherungsformen der berufsständischen Privilegierungen und korporatistischen Schließungen nachtrauert, sich ansonsten aber auf den Marktkampf in all seinen Varianten einzustellen begonnen hat« (19). – Noch kritischer sind die Bekenntnisse von Bremer/Lange-Vester zur »pluralisierten Klassengesellschaft« (11ff), in der »Modernisierungen und steigende Lebensvielfalt mit dem Fortbestand sozialer Klassen verbunden« sind (19). Das Bestreben, die wieder schärfer auftretenden sozialen Ungleichheiten und Widersprüche aufzudecken, geht einher mit fehlender Fähigkeit und Bereitschaft, Klassenwidersprüche und sich daraus ableitende Konfl ikte beim Namen zu nennen. Die immer differenziertere Analyse, wie sie etwa die Milieutheorie bietet, entspricht den Schwierigkeiten der Betroffenen, ihre Lage zu erkennen, blockiert aber auch den aufklärerischen Anspruch von Sozialwissenschaft, genau diesen Erkenntnisprozess anzuschieben. Rainer Geißler und Sonja Weber-Menges demonstrieren plastisch diese Kluft zwischen Alltagserkennen und wissenschaftlicher Analyse (102ff). Mit Recht polemisieren Hg. gegen verkürzte Vorstellungen von sozialer Polarisierung wie sie auch »die Gegenposition, wonach die Menschen bestimmter Zumutungen als ›Anreize‹ bedürfen, um sich gewissermaßen für das postmoderne, globalisierte Zeitalter fi t zu machen«, problematisieren (12). »Beide Sichtweisen verkennen, dass die Akteure über Potenziale verfügen und Strategien mobilisieren können, um Veränderungen zu bewältigen.« (Ebd.) Allein Peter von Oertzen sucht die politischen Dimensionen dieser  soziologischen Fingerübungen herauszuarbeiten. Er weiß um die Gefahr, »entweder die Stabilität des Bestehenden und Überlieferten zu überschätzen und zu übersehen, dass die Entwicklung es bereits überholt hat, oder aber – zutiefst unsicher geworden durch den Fortfall altgewohnter Beurteilungskategorien – nur noch ›Unübersichtlichkeit‹ oder ›Anomie‹ zu erblicken« (41). Letztlich sind es die Menschen, die handeln, aber unter bestimmten Bedingungen, als »kollektive Akteure« und »historische Subjekte« (40). Aus der Perspektive eines undogmatischen historischen Materialismus sieht er die Schwierigkeiten konkreter Klassen und ihres  Klassenbewusstseins, gibt sich jedoch mit der Differenzierung von sozialen Lagen und Milieus nicht zufrieden. Politisches Handeln erfordert für ihn mehr: für die Klassenkonstituierung sind nicht zuletzt Parteien und Organisationen notwendig. Die drei Bände können die Kluft zwischen feldspezifi schen Ungleichheitsanalysen und Milieustudien einerseits und dem Fortwirken sozialer Klassen andererseits nicht produktiv machen. Politisch handeln kann nur, wer unterschiedliche Milieus über Interessen und Bewusstseinsbildung zu vereinen vermag, nicht, wer die Differenz vervielfältigt und eine zerrissene Gegenklasse zum (ebenfalls inhomogenen) Kapital konserviert. Hier liegt der  Unterschied zwischen Analyse und politischer Aufgabe – ihn müsste die gegenwärtige Soziologie stärker ausleuchten. Es fehlen Untersuchungen zur Einheit von materiellen Möglichkeiten und Korrumpierung breiter Gesellschaftsschichten, zu Entfremdung und Manipulation; es fehlen politische Initiative und Gegenaufklärung, so dass  sozialwissenschaftliche Analysen in Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Gestaltung fruchtbar gemacht werden können.
Stefan Bollinger

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 833-836