Malte Steinbrink: Leben zwischen Stadt und Land. Migration, Translokalität und Verwundbarkeit in Südafrika. Wiesbaden 2009. 444 S.
Nicht-permanente Migrations- und multilokale Daseinsformen zwischen Stadt und Land haben in den letzten Jahren eine zunehmende Aufmerksamkeit in der geographischen Entwicklungs- und Migrationsforschung erfahren. Dies war lange nicht der Fall, ging man doch vor dem Hintergrund der Urbanisierungserfahrungen in Industrieländern davon aus, dass Migrationsströme in Afrika oder Asien einseitig und endgültig vom Land in die Stadt gerichtet sind, dass Land-Stadt Migranten spätestens in der zweiten Generation zu Städtern werden. Dieses dualistische Verständnis von Stadt und Land fand sich auch in der Entwicklungspolitik und -praxis wieder, Maßnahmen im ländlichen und im städtischen Raum liefen größtenteils unverbunden nebeneinander her.
Malte Steinbrink kritisiert das entwicklungstheoretische und -politische Denken, dass das Trennende zwischen Land und Stadt in den Vordergrund stellt. Eine integrierte bzw. translokale Betrachtungsweise sei vielmehr notwendig, um den sozialen Realitäten in vielen Entwicklungsländern gerecht zu werden, weil Land und Stadt im Hinblick auf soziale und wirtschaftliche Interaktionen der Menschen stark miteinander verflochten seien. Er zeigt dies anhand des gemeinsamen Wirtschaftens translokaler Haushalte (ikayas) und Stadt-Land übergreifender sozialer Netzwerke (abakaya-groups) zwischen einer ländlichen Gemeinde im ehemaligen Homeland Transkei (heute Ostkap-Provinz) und einer städtischen Siedlung nahe Kapstadt in Südafrika.
Das Buch ist ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil besteht aus einer kritischen Betrachtung der Land-Stadt-Dichotomie, die den einflussreichsten Entwicklungstheorien und -konzepten unterliegt. Das vor diesem Hintergrund entwickelte Plädoyer einer translokalen Sichtweise wendet der Autor dann auf die Livelihood- und Verwundbarkeitsforschung an, denn bei diesen Ansätzen steht das Akteureshandeln in einer von existenziellen Unsicherheiten und Risiken geprägten Lebenswelt im Zentrum der Betrachtung. Translokale Verwundbarkeit und (Über-)Lebensformen, so Steinbrink, manifestieren sich in drei Eckpfeilern des strategischen Handelns: Ökonomische Diversifizierung, Migration und soziale Netzwerkbildung.
Im zweiten Teil des Buchs werden die vorherigen theoretischen Abhandlungen anhand des südafrikanischen Fallbeispiels plastisch gemacht. Um die Land und Stadt überspannenden Verflechtungsbeziehungen in Südafrika untersuchen zu können, wurde die Feldforschung bilokal
verortet: Zwischen dem ländlichen Untersuchungsgebiet, dem Dorf Nomhala in der Ostkap- Provinz, und dem ca. 1.300 km davon entfernt liegenden städtischen Untersuchungsgebiet, der Siedlung Site 5 auf der südlichen Kaphalbinsel. Mithilfe eines quantitativen und qualitativen Methodenmixes kann Steinbrink die existentielle Relevanz zirkulärer Migration aus der Perspektive ländlicher Haushalte nachweisen: Im Kontext niedergehender Agrarwirtschaft und weniger außerlandwirtschaftlicher Einkünfte stellen Rücküberweisungen von in der (Kap-)Stadt ansässigen Angehörigen eine essenzielle Einkommensquelle dar.Weiter zeigt der Autor die ökonomische Rationalität, welche dem Aufbau und der Erhaltung von Migrantennetzwerken unterliegt, die Land und Stadt übergreifen und die das migrationsbezogene soziale Kapital ausmachen. Denn die Netzwerke vermitteln den Neuankömmlingen bei der mit hohen Risiken besetzten Ankunft in der Stadt entscheidende Hilfestellungen beispielsweise bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Steinbrink beschreibt eindringlich den sozialen Kitt, der die translokalen, haushaltsübergreifenden Migrantennetzwerke zusammenhält: Die Garantie und gleichzeitige Verpflichtung zur Reziprozität,
die durch eine geteilte „Kultur der Transmigration“ legitimiert wird. Die Ambivalenz der translokalen Existenzsicherung wird am Beispiel des sozialen Netzwerks der abakhayagroup, das „auffängt, aber auch gefangen hält“, exemplarisch vorgeführt. Dieses Netzwerk, zumindest nach den Ergebnissen der vorliegenden Studie, eröffnet Optionen, aber nur innerhalb eines begrenzten sozialen und räumlichen Rahmens. Erzwungene Solidarität und Umverteilung schränken individuelle Aufstiegschancen ein, im gesamtgesellschaftlichen Maßstab tragen sie laut Steinbrink darüber hinaus nicht unwesentlich zur Erhaltung bzw. Reproduktion der aus der Apartheidperiode überlieferten sozioökonomischen und auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen verorteten Ungleichheitsstrukturen bei.
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Malte Steinbrink: Migration, Translokalität, Verwundbarkeit
Wenn im Schlusskapitel des Buchs die Frage gestellt wird, ob die Translokalität der Existenzsicherung entwicklungspolitisch als Lösung oder Problem zu bezeichnen ist, erwartet man kaum ein „ja“. Steinbrinks Antwort, „Translokalität ist beides bzw. weder das eine
noch das andere“ (414), eröffnet dann aber doch wichtige Perspektiven: Entwicklungspolitische Maßnahmen müssten translokale Existenzsicherung in jedem Fall als entscheidende Kontextvariable berücksichtigen. Ansonsten liefen beispielsweise städtische Maßnahmen wie selbsthilfegestützter Wohnungsbau angesichts des translokalen Engagements der teilweise nur „auf der Durchreise“ befindlichen Wohnbevölkerung ins Leere. Mit der Analyse nicht-permanenter, zirkulärer Mobilität und Multilokalität von Haushalten in Südafrika leistet der Autor einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis von Stadt-Land-Beziehungen in Subsahara-Afrika. Die Studie zeigt die Relevanz einer integrierten, translokalen Sicht sowohl aus entwicklungstheoretischer als auch aus entwicklungspraktischer Sicht auf. Auf empirischer Ebene liefert der Band schließlich unter Verweis auf eine Fülle von Beispielen aus der translokalen Sozialwelt (u.a. sei hier auf den
Exkurs „Fußball und Translokalität“ hingewiesen!) eine außerordentlich dichte Analyse von Bedingungen und Wirkungen migrationsbezogenen Sozialkapitals im Kontext von Verwundbarkeit.
Eva Dick
Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 54 (2010) Heft 2, S. 143-144
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