Ursula Apitzsch u. Marianne Schmidbaur (Hg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen. Opladen,Farmington Hills/MI 2010. 215 S.

Auf einer Tagung des "Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse" im April 2009 wurden Care-Debatten im Kontext wechselnder Wohlfahrtsstaatsregime mit Erträgen der feministischen Migrationsforschung zusammengeführt. Der Anspruch des Tagungsbands geht über eine Dokumentation hinaus. Hg. wollen Theoriebildung vorantreiben. Sie betonen, dass das weite Spektrum der Care-Arbeit "selbst außerordentlich zentrale gesellschaftliche Produktion ist, nämlich die Produktion der Form des gesellschaftlichen Lebens selbst, die immer Reproduktion ist [...].

Um diese bedeutende Erkenntnis festzuhalten, bleibt der Begriff der Reproduktion neben dem von Care unverzichtbar." (12f, Jeff Hearn zitierend) Sie beleuchten daher die "Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen ". Der einleitende Überblick mündet in der "Forderung nach einer gestaltenden Politik, die Care und Migration als wertvolle Ressourcen einbezieht" (21f).

Damit ist der Bogen bezeichnet, unter dem die vier Hauptteile stehen. Der erste Teil bringt neben Grundsätzlichem einen Beitrag von Arlie Hochschild, die anhand der gewerblichen Leihmutterschaft in Indien und der Migrationswaisen von global tätigen Care-Arbeiterinnen die zwei Seiten emotionaler Arbeit unter und für den Kapitalismus herausarbeitet. Der zweite fasst die Care-Debatten zusammen und diskutiert, wie sie konsistent und zusammenführend fortgesetzt werden können (Margrit Brückner, Karin Jurczyk, Maria S. Rerrich). Der dritte widmet sich in kritischer Anknüpfung an das Staatsbürgerschaftskonzept von Thomas S. Marshall der unzureichenden Verankerung sozialer und politischer Rechte derjenigen, die Care-Arbeit leisten (Rhacel Salazar-Parreñas). Eine entsprechende Erweiterung habe in der schrittweisen Etablierung von Frauenrechten in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften ihr historisches Vorbild (Ute Gerhard) und könnte zur Verbesserung ihrer Situation beitragen (Ursula Apitzsch). Der vierte geht auf die weltweit durch Migrantinnen geleistete "Haushaltsarbeit" ein, beginnend mit der Theorie globaler Arbeitsmarktdynamiken (Helma Lutz/Ewa Palenga-Möllenbeck), an die sich konkretere Erfahrungen dieser Arbeiterinnen anschließen (Juliane Karakayali, Agnieszka Satola) sowie Probleme einer angemessenen Interessenvertretung angesprochen werden (Helen Schwenken). Wer sich mit diesen Fragen bereits befasst hat, findet hier knappe, hilfreiche Erinnerungen an den Forschungsstand von einschlägigen Autorinnen. Manchmal wünscht man sich vertiefende Ausführungen, da einige Forschungsresultate mehr behauptet als begründet werden, etwa zum viel zitierten Intersektionalitätsansatz (Lutz/Palenga-Möllenbeck) oder zur ethischen Care-Diskussion (Brückner).

Die Aufsätze können hier nicht ausführlich gewürdigt werden. Stattdessen weise ich auf einige Querbezüge hin, die mit den Subjekten und dem noch nicht enthüllten "Geheimnis der Plusmacherei" in und durch "Care" zu tun haben. Verf. klären mit dem Blick in Haushalte und Familien objektive und subjektive Bedingungen auf, unter denen die Versorgungsökonomie ihren Anteil an der Mehrwerterzeugung erbringt. Während Hochschild auf die familienzerstörenden, aber auch lebenserhaltenden Folgen der globalen Hausarbeitsmigration bzw. Leihmutterschaft eingeht und mittels der Analyse der Ausbeutung der Gefühlsarbeit die "Hinterbühne des globalen Kapitalismus" ausleuchtet, stellt sich Jurczyk gleichsam ins Vorderhaus desselben - und lässt dabei (zwangsläufig?) im Dunkeln, was das Rad in Gang hält. Sie ist an der "besonderen Qualität von Familie" interessiert, die eine "nicht durch Marktlogiken dominierte Privatheit" voraussetze (60). Sie begreift Familie "praxeologisch" als "Herstellungsleistung" (63) ihrer Mitglieder ("doing family", 69; vgl. Siebter Familienbericht der Bundesregierung, 2007) und stellt am Beispiel der BRD fest, dass in der postfordistischen doppelten "Entgrenzung" von Erwerbsarbeit und Familienformen Versorgungslücken aufbrechen, für die es bislang keinen neuen "Reproduktionspakt " (59f) gebe. Unabhängig von den konkreten Strategien zur Schließung dieser Lücken seien Care-Tätigkeiten nur begrenzt kommodifizierbar, da sie immer auch "Zuneigung, Beziehung und Aufeinanderangewiesensein" umfassten (74). Karakayali und Satola lassen durch einige osteuropäische Haushaltsarbeiterinnen solche Schließerinnen von "Versorgungslücken" zu Wort kommen und schauen ins Dunkel der Haushalte hinein. Damit betreten sie Neuland. Rerrich beklagt entsprechend, dass Care zu wenig am Ort der erbrachten Care-Leistungen thematisiert werde, und möchte die unverbundenen Diskurse verknüpfen, um Care als "Gesamthandlungsfeld" thematisieren zu können (88). Zwar werden im Buch international bestehende Ausbeutungsverhältnisse kritisiert bzw. als Gegenmittel eine "radical re-definition of social rights and social citizenship" (Gerhard, 108) sowie ein die Individuen entlastender "welfare state as universal care giver" (ebd., Fraser zitierend) genannt. Aber die Perspektive der Care-Bedürftigen entfällt weitgehend.

Auch die angebotenen einschlägigen Definitionen von Care werfen Fragen auf: Sie kreisen um Leistungen (Rerrich), Tätigkeiten und Praxisformen (Brückner) oder ein geschlechterkritisches Konzept der Arbeitsteilung (Gerhard). Doch über dem vierten Teil steht plötzlich "Haushaltsarbeit". Beim Blick auf die Fotos der Umschlagseite und den Untertitel geht das Grübeln weiter: Ist ein Begriff für alles, was unter Care reflexionsfähig zusammengefasst werden soll, überhaupt sinnvoll? Wird so nicht ungewollt z.B. Menschen pflegen mit Müll wegbringen und aufwischen gleichgesetzt? Sicher gehen diese Fragen über den Band hinaus. Dennoch möchte ich festhalten: Care harrt noch immer einer überzeugenden Übersetzung und Handhabbarkeit. Fehlt außer einer von den Hg. intendierten Weiterführung der Reproduktionstheorie nicht auch eine Kategorie, die überzeugend "Haushaltsarbeit" im engen Sinn als integralen, nicht entwürdigenden Teil menschlicher Lebenspraxis verstehbar und die helfende "Arbeit am Menschen" zu einem unverzichtbaren Teil der Persönlichkeit machen kann? Und was ist eigentlich das Versprechen der "Ent-Sorgung"? Eine eschatologische Sorgenfreiheit durch die Befreiung von Unannehmlichkeiten, die zum Leben gehören, aber spezifisch delegiert sind? Die Verstaatlichung von Care, die in der von Großbritannien ausgehenden Theorie und in diesem lesenswerten Band als realutopische Forderung erhoben wird, kann nur Teil der gesuchten Lösung sein. Lohnenswert wäre daneben auch ein anders ansetzendes Nachdenken über Care als Praxis (vgl. meine Besprechungen von Berliner Journal/L'Homme/Senghaas-Knobloch und Mol u.a. in diesem Heft) und über eine alternative politische Vision, die Care eher als Begriff für die Fülle menschlicher Möglichkeiten versteht denn als Defizitanzeige.

Bei einer Fortschreibung des vorliegenden Bandes böte sich an, den Begriff der Reproduktion, wie einleitend angekündigt, stärker zu machen und von dort das Dunkel der Ausbeutungsverhältnisse zu erhellen. Der Terminus Care hingegen wäre aus seiner irgendwann nichts mehr erklärenden Allgemeinheit herauszuholen (vgl. z.B. der Rekurs auf Tronto bei Brückner, 49) und als Thema der politischen Ethik zu diskutieren. Politisch wäre über die von Verf. andiskutierten Rechts- und Interessenvertretungen zu verhandeln.
Sabine Plonz (Münster)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 454-456

 

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