Joachim Bischoff, Frank Deppe, Richard Detje u. Hans-Jürgen Urban: Europa im Schlepptau der Finanzmärkte. Hamburg 2011. 128 S.
In Europa hat sich ein autoritäres Austeritätsregime herausgebildet, das gravierende demokratische Legitimationsdefizite aufweist: »Das Ruder übernommen hat ein autoritäres Regiment von Vertretern der EU, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds, berechtigt, entscheidende demokratische Normen über Bord zu werfen.« (8) In seinem historischen Abriss skizziert Deppe den Prozess der europäischen Integration unter dem Schirm der US-Hegemonie. Von Beginn an war sie durch das Spannungsverhältnis von asymmetrischer politischer und ökonomischer Integration sowie dem Gegensatz von Kapital und Arbeit geprägt, der sich »als Widerspruch zwischen grenzüberschreitender Marktintegration und Sozialintegration« artikulierte (18).
Inzwischen ist das Projekt der europäischen Integration im Sog der Finanz-, Wirtschafts-, Staatsschulden- und Eurokrise in ihre historisch schwerste Krise geraten. In Anbetracht des bisherigen Krisenmanagements plädiert Verf. für einen neuen New Deal: es sei »an der Zeit, dass die Maßnahmen von Franklin D. Roosevelt zur Abwehr der ›Tyrannei‹ des Finanzkapitals und die Pläne von Keynes zur Stabilisierung der Weltwährungsordnung aktualisiert werden« (27). Angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse mag dies bereits radikal erscheinen, die Krise selbst erzwingt jedoch möglicherweise viel weitreichendere Schritte wie etwa die weitgehende Verstaatlichung des Bankensektors.
Urban knüpft an die Kritik des europäischen Krisenmanagements an. Er macht ein »Regime autoritärer Stabilität« (41) aus, das auf einer verstärkten wirtschaftspolitischen Koordinierung und haushaltspolitischen Überwachung basiert. Zentrale Bausteine des neuen Regimes sind das Europäische Semester, die Legislativvorschläge der Kommission, der Euro-Plus-Pakt und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Diese Ansätze vertiefen das Demokratiedefizit der EU und die wirtschaftliche Schlagseite des europäischen Integrationsprozesses, während Ansätze einer sozialen Integration ausbleiben. Verf. fürchtet in Anbetracht des autoritären Stabilitätsregimes, dass am Ende der Entwicklung ein Europa stehen könnte, »das an wirtschaftlichen Problemen und sozialen Spannungen reicher, an Demokratie und Legitimation jedoch ärmer geworden ist« (33). Deutschland zwingt anderen europäischen Staaten ein Stabilitätsmodell auf, das dem eigenen Modell gleicht, zugleich sieht Verf. die Bundesrepublik selbst als Getriebene der Finanzmärkte. Die Krisenlasten werden einseitig auf die ›Krisenländer‹ abgewälzt, die Schlüsselakteure auf den Finanzmärkten bleiben hingegen weitgehend verschont. Abschließend skizziert Verf. eine »pro-europäische Europa-Kritik« (51), deren Kern eine Demokratisierung der EU-Institutionen, die Ausweitung parlamentarischer Befugnisse und mehr Plebiszite im Rahmen einer kooperativen Stabilitätspolitik bilden. Hoffnungen setzt er auf die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft, die bisher jedoch erst in Ansätzen erkennbar ist.
Bischoff und Detje arbeiten anhand zahlreichen Datenmaterials (Inflationsrate, Wachstumsrate, Arbeitslosigkeit usw.) die Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone heraus, die sie als zentral für die Eurokrise ausmachen: »Der Kern der Krise der Währungsunion liegt in deren Konstruktion, in der die Abfolge von Wirtschafts- und Währungsintegration auf den Kopf gestellt ist.« (74) Verstärkt wird die Krise der Währungsunion durch die autoritäre Stabilitätspolitik. Die Konjunkturpakete bleiben weit hinter denen der USA, Chinas oder Japans zurück. Eine wirtschaftliche Erholung in der EU kann sich so nur mittels Exportwachstum einstellen.
Durch die Krisenbearbeitung im Rahmen des Regimes der autoritären Stabilität wird den Krisenländern die Möglichkeit genommen, sich zu sanieren. Die drastische Reduzierung des fiktiven Kapitals, Verbote von spekulativen Geschäften, »die keinerlei Beitrag zur gesellschaftlichen Reichtumsproduktion leisten, und die Konzentration der Geschäftspolitik der Banken auf das realwirtschaftlich erforderliche Kreditgeschäft stehen weiter aus« (109). Die Krisenbearbeitung läuft auf eine Krisenverschiebung von den Finanzmarktakteuren über die Staaten zu den Bürgerinnen und Bürgern hinaus, also auf einen »Transfermechanismus privater Verluste in öffentliche Verschuldung« (ebd.). Dem steht auch der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB und die Aussetzung der No-bailout-Regel, derzufolge insolvenzbedrohte nicht von anderen Staaten unterstützt werden dürfen, nicht entgegen.
Infolge der Krise erstarken Verf. zufolge rechte Kräfte, deren Markenzeichen Islamfeindlichkeit und »Euroskeptizismus« sind. Dem setzen sie die Vision eines zukunftsfähigen Europa entgegen, dessen Kern eine Schrumpfung der Finanzmärkte, ein großes Konjunkturprogramm (2 % des EU-BIP), Umverteilung von oben nach unten und die Verankerung wirtschaftsdemokratischer Prinzipien durch verbindliche Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte bilden. In ihrem Überblick über die europäischen Krisenbearbeitungsstrategien berücksichtigen Verf. allerdings kaum den multiplen Charakter der Krise. Ob in Zeiten von Klimawandel und Energiekrise eine Konzentration auf keynesianische Konjunkturpolitik, wie sie Verf. vorschwebt, das Maß aller Dinge ist, darf bezweifelt werden. Bewegungen, Gewerkschaften und linke Parteien, die eine Neuorientierung europäischer Politik erkämpfen müssten, bleiben nahezu unberücksichtigt.
Tobias Haas (Tübingen)