Manfred Nutz: Stadtentwicklung in Umbruchsituationen. Wiederaufbau und Wiedervereinigung als Stressfaktoren der Entwicklung ostdeutscher Mittelstädte, ein Raum-Zeit-Vergleich mit Westdeutschland. Stuttgart 1998 (Erdkundliches Wissen 124). 242 S.

Zwei Extremsituationen prägen die Stadtentwicklung in Deutschland bzw. Ostdeutschland in diesem Jahrhundert im besonderen Maße: Zerstörung und anschließender Wiederaufbau unter veränderten politischen Rahmenbedingungen im bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg zum einen sowie zum anderen der politische Systemwechsel, der mit dem Anschluss der DDR an die alte Bundesrepublik 1989/90 in Ostdeutschland vollzogen wird.

Auf diese konkreten (zeit)geschichtlichen Bezüge sind die sowohl zeitlich (1945/1989) als auch räumlich (Ost/West) vergleichenden Untersuchungen ausgerichtet, die Manfred Nutz in verschiedenen Klein- und Mittelstädten durchgeführt hat und deren Ergebnisse er in seiner Habilitationsschrift vorstellt. Ziel dieser Analysen ist es, die Auswirkungen des jeweiligen Systemwechsels auf die Stadtentwicklung - insbesondere auf städtebauliche Leitbilder und deren Umsetzung - zu beurteilen. In übergeordneter Hinsicht wird dabei gefragt, welche konkrete Bedeutung die Übernahme des westlichen Systems für die Stadtentwicklung in Ostdeutschland hat: Können sich spezifische Potentiale der sozialistisch geprägten ostdeutschen Klein- und Mittelstädte im Rahmen eines eigenständigen Entwicklungsweges entfalten oder ist ein radikaler Bruch, eine "bedingungslose Umentwicklung" (S. 22) unabwendbar?

Archivstudien und Sekundäranalysen, Expertengespräche, längsschnittartig angelegte Nutzungskartierungen sowie standardisierte Interviews sind die Elemente des vielfältigen methodischen Instrumentariums, das zur Bearbeitung dieser Fragestellung eingesetzt wird.

Die Untersuchungen und Ergebnisse konzentrieren sich auf drei Schwerpunkte: Erstens werden die spezifische stadtplanerische Ausgangssituation in der SBZ und die verschiedenen Stadtentwicklungsphasen der DDR dargestellt; zweitens werden rechtliche und politische Rahmenbedingungen sowie nutzungsstrukturelle Veränderungen in einigen Untersuchungsstädten nach 1945 dokumentiert; und drittens werden die Umbrüche des Systemwechsels von 1989 sowie damit verbundene Veränderungen der einzelhandelsbezogenen Nutzungsstrukturen in einigen Harzvorland- Städten analysiert. Ein vorgeschaltetes Kapitel zu theoretischen und methodischen Überlegungen sowie ein nachgeschaltetes Kapitel, das Zusammenfassungen und einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten für die ostdeutsche Stadt enthält, runden den Aufbau der Arbeit ab.

Sehr ergiebig sind die Ausführungen zur Stadtentwicklung der ostdeutschen Städte bis zum Systemwechsel 1989/90 (erster Schwerpunkt). Thematisiert werden räumliche Schwerpunktmuster der Kriegsschäden, die Entwicklung von einer relativen Autonomie der Kommunen bis zur stärker erkennbaren Politisierung der Planungsprozesse in der unmittelbaren Nachkriegszeit und schließlich die Periodisierung städtebaulicher Trends in der DDR. Diese verläuft von einer nationalistisch- stalinistischen Frühphase (erste Hälfte der 50er Jahre) über eine "extensive" Phase der Automatisierung und Industrialisierung des Bauens mit Neubauten außerhalb der Kernstädte (ab Mitte der 50er Jahre) bis hin zur "intensiven" Phase einer stärkeren Ökonomisierung des Bauens mit schwerpunktmäßiger Bebauung in den Kernstädten (seit den 70er Jahren). In den beiden folgenden Abschnitten (zweiter Schwerpunkt) werden zunächst die Grundsätze des Städtebaus und deren baugesetzliche Umsetzung in der DDR bzw. die Charta von Athen und deren baugesetzliche Konsequenzen in der BRD erläutert. Besonders hervorzuheben sind die Ergebnisse des darauf folgenden Ost-West- Vergleichs in Bezug auf die städtisch-funktionalen Strukturwandlungen: Für die unmittelbare Nachkriegszeit zeigen sich deutliche Übereinstimmungen dieses Wandels, später dann, nach dem Wiederaufbau sind Unterschiede bei der gewerblichen Nutzung der Innenstädte vor allem in quantitativer Hinsicht erkennbar, nicht so sehr aber in Bezug auf die jeweiligen innerstädtischen Nutzungsanteile von Handel, allgemeinen Dienstleistungen und Handwerk/ Industrie.

Die erwähnenswerte Präzision bei der Ableitung allgemeiner Erkenntnisse aus verschiedenen Einzelbefunden und die dabei erzielte Anschaulichkeit, die im Rahmen dieser beiden ersten Schwerpunkte mit Hilfe einer großen und geschickt verknüpften Materialvielfalt erzielt werden, können beim dritten Schwerpunkt - vor allem im Bereich der einzelhandelsbezogenen Strukturwandlungen seit 1989 - nicht durchgehalten werden. Natürlich ist hier zu berücksichtigen, dass die noch junge Forschungslage häufig zum Verzicht auf vergleichbare Abstraktionen nötigt. Dennoch - und dies gilt auch für das letzte Kapitel, in dem die Zukunft ostdeutscher Städte diskutiert werden soll, in dem dann aber von der generellen Unvorhersagbarkeit dieser Zukunft die Rede ist: Hier vermisst der Leser den eindeutigen Rückbezug zur Fragestellung - trotz der vorhandenen vielfältigen Anregungen im Hinblick auf mögliche Entwicklungen, die zweifellos zu weiterführenden Forschungen Anlass geben werden.

So bleibt es das Verdienst der vorliegenden Arbeit, nicht nur die bisher spärlich vorhandenen Erkenntnisse über ostdeutsche Stadtentwicklung bis 1989 ganz erheblich erweitert, sondern auch für zukünftige Wege der vergleichenden Forschung in diesem Bereich einen gewichtigen Grundstein gelegt zu haben.

Autor: Hans-Jürgen Hofmann

 

Quelle: geographische revue, 1. Jahrgang, 1999, Heft 1, S. 96-97