Bernd Belina, Norbert Gestring, Wolfgang Müller und Detlev Sträter (Hrsg.): Urbane Differenzen. Disparitäten innerhalb und zwischen Städten. – Münster: Westfälisches Dampfboot 2011. – Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis 9. – 251S. – ISBN 9783896917973. – € 25,90
Aus der Perspektive kritischer Raumforschung geht der Sammelband von Belina, Gestring, Müller und Sträter den Ursachen und Folgen von Differenzen innerhalb und zwischen Städten auf den Grund. Dabei handelt es sich um ein zentrales und anhaltend relevantes Thema der Stadtforschung. Es wird eine große Bandbreite an Beiträgen aus Geographie, Soziologie, Planungsund Regionalwissenschaften zusammengebracht, die sehr verschiedene Formen von urbanen Differenzen – zumeist aus dem deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs – beleuchten. Als gemeinsamer Nenner der Beiträge lässt sich ein Verständnis urbaner Differenzen im Kontext von Machtverhältnissen und politischer Bedingtheit identifizieren.
Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert: Die Beiträge in Teil I widmen sich auf theoretischkonzeptionelle Weise den Gründen und Formen von Disparitäten innerhalb der Stadt. In Teil II stehen politische Aspekte von Disparitäten innerhalb der Stadt im Mittelpunkt. Hier untersuchen vier Beiträge exemplarisch zugrundeliegende Steuerungsmechanismen und dadurch verursachte räumliche Disparitäten. In Teil III konzentrieren sich die Beiträge schließlich darauf, die Gründe und Formen von Disparitäten zwischen Städten herauszuarbeiten. Den drei Teilen geht eine knappe Einleitung voraus, die Entwicklungslinien der Forschung über urbane Differenzen seit der Chicago School skizziert und die einzelnen Beiträge vorstellt. Da Disparitäten innerhalb und zwischen Städten immer im Kontext ihres Umlandes sowie der nationalen, supranationalen und globalen Ebene zu betrachten sind, erschwert es die gewählte Dreiteilung des Bandes ein wenig, die Anknüpfungspunkte zwischen den Einzelbeiträgen sichtbar zu machen.
In der Auseinandersetzung mit urbanen Differenzen bereichern sich die Beiträge an vielen Stellen gegenseitig. So bringen verschiedene Beiträge die vielschichtigen Verflechtungen der unterschiedlichen scales und ihre Konkurrenz und gegenseitigen Abhängigkeiten analytisch zum Ausdruck und schärfen den Gegenstand der urbanen Differenzen. So untersuchen Floeting/Henckel/Meier die Einbettung städtischer Arbeitsmärkte in den globalen Kontext und gehen der Frage nach, wie Städte auf den globalen Trend der Flexibilisierung von Arbeit reagieren. Müller/Sträter reflektieren, wie sich die Rolle und das Einflussvermögen der kommunalen Selbstverwaltung gerade in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt haben, wobei sie sowohl die relevanten räumlichen Ebenen als auch das Verhältnis zwischen Kommunalpolitik und verwaltung berücksichtigen. Vor dem Hintergrund regionaler Disparitäten untersucht Martens die Armutsberichterstattung in München und betont deren politische Instrumentalisierung. Als Triebkraft intraurbaner Differenzen stellt Brake die räumlich selektive Inwertsetzung wissensintensiver Ökonomien in den Vordergrund seines Beitrags, während sich Parnreiter mit der Position von Städten in globalen Warenketten befasst, durch die er Disparitäten zwischen Städten erklärt. Außerdem werden konzeptionelle Anregungen zur Erklärung urbaner Differenzen gegeben, wie es die Überwindung kulturalistischer (Bürkner) bzw. ethnisierender (Floeting/Henckel/Meier; Keller) Deutungsmuster zugunsten eines intersektionalen Ansatzes verspricht, dem Bürkner (explizit, S. 31ff.) und Keller (implizit, S.238) einen analytischen Mehrwert beimessen. Auch hegemoniale Diskurse und deren strategische Verwendung zur Durchsetzung von Politiken mit ungleichheitsfördernden Wirkungen bilden eine weiterführende Klammer für einige Beiträge. So diskutiert Belina – vor allem auf Deutschland Bezug nehmend – den Einsatz strafrechtlicher Maßnahmen zur Steuerung von sozialräumlichen Differenzen und betont die zugrundeliegenden Kräfteverhältnisse, von denen abhängt, welche Handlungen kriminalisiert werden. Im Rahmen einer Gegenüberstellung der kommunalen Möglichkeiten und Wirkungen der Wohnungspolitik in drei europäischen Städten hebt Holm hervor, wie die Vermarktwirtschaftlichung der Wohnungsversorgung steigende soziale Disparitäten in Kauf nimmt. Schließlich zeigt Rosol, dass Gemeinschaftsgärten in Berlin kein emanzipatorisches Gegenmodell zur sozialen Ungleichverteilung des räumlichen Zugangs zu Grünflächen darstellen, und kritisiert, dass eine partizipative Planungspolitik den staatlichen Rückzug aus der Freiraumplanung möglich macht.
Insgesamt versammelt der vorliegende Band durchaus lesenswerte Beiträge von KollegInnen der kritischen Stadtforschung. Darin liegt zweifellos die Stärke des Werks. Es wird jedoch weder eine gemeinsame Methodik zur Erforschung inter- und intraurbaner Disparitäten vorgeschlagen, noch eine gemeinsame Konzeptualisierung urbaner Differenzen vorgenommen.
Auch das Versprechen, „tragfähige Wege aufzuzeigen“ (S. 9), wird nicht von allen Beiträgen in gleicher Weise eingelöst. Es stellt sich zudem die Frage, an wen sich der vorliegende Band richtet, denn trotz des Verweises der Herausgeber auf soziale Bewegungen und eine wünschenswerte Kooperation mit denselben wird die potentielle Leserschaft nicht benannt. Da die Herausgeber auf ein zusammenfassendes Kapitel verzichtet haben und somit die Erkenntnisse der Einzelbeiträge nicht zusammengeführt werden, fällt der Gesamteindruck etwas weniger positiv aus, als man es sich von den einzelnen Beitragenden erhofft hätte.
Corinna Hölzl und Antonie Schmiz (Berlin)
Quelle: DIE ERDE, Vol. 145, 1-2/2014, S 111-112
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