Sven Reichhardt u. Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968 – 1983. Göttingen 2010. 509 S.
Der gesellschaftliche Aufbruch nach 1968, getragen von einer pluralen und verästelten Alternativszene, die sich bis Anfang der 1980er Jahre zu einem bundes- und europaweiten Massenphänomen ausgebreitet hatte, entfaltet bis heute politische Sprengkraft. Das zeigt sich in einer regelmäßig – meist zu den Zehnjahresjubiläen der Studierendenrevolte – wieder kehrenden Debatte, in der nicht nur ihre gesellschaftliche Bedeutung, sondern immer auch die Legitimität und Vernünftigkeit der heutigen Verhältnisse verhandelt werden.
Der vorliegende Sammelband, entstanden aus einer Kopenhagener Konferenz im Jahr 2008, liefert durch die Anzahl und thematische Breite der Artikel und nicht zuletzt durch die Fülle der Literaturverweise eine Art Standortbestimmung der historischen Forschung, die es schon jetzt zum Standardwerk für die Geschichte der Alternativszene in der BRD macht. Gleichzeitig spiegelt das Buch den hegemonialen Umgang mit den damaligen Bewegungen, der sie einerseits als »Avantgarde der post-industriellen Gesellschaft« (10) und als »Triebkraft« (ebd.) für eine gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung in die heutigen Verhältnisse integriert, und demzufolge sie andererseits weder ihren eigenen politischen Ansprüchen genügte, noch »Effekte auf die grundsätzlichen politischen und ökonomischen Machtkonstellationen« (Dieter Rucht, 85) hatte.
Die Hg. nähern sich ihrem Gegenstand mit dem Begriff des Milieus, der gegenüber den »nach außen gerichteten kollektiven Handlungen« (67) sozialer Bewegungen den Blick auf »Sprache und Kommunikationsformen«, »soziale Beziehungsformen und Interaktionen« lenken soll, »durch die die Akteure sich als ›soziale Typen‹ untereinander erkannten und aufeinander bezogen« (10f). Vor dem Hintergrund eines in den 1960er Jahren durch Wohlstand und Bildungsausweitung geschaffenen »lebensgeschichtlichen Freiraums« (19) von Jugendlichen sowie der Wirtschafts- und Energiekrisen der 1970er Jahre (15) hat sich um Wohngemeinschaften, kollektive »Projekte« und politische Aktionen ein »alternativer Alltag« entwickelt, der sich durch den »Anspruch auf Selbstverwirklichung«, auf »Solidarität, Natürlichkeit, Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit« (9) sowie »Authentizität« (17) auszeichnete. Politisch stand »die Suche nach konkreten, außerstaatlichen und autonomen Existenzformen« (22) im Hier und Jetzt im Mittelpunkt, ausgehend von den eigenen Bedürfnissen und der subjektiven Betroffenheit (»Politik der ersten Person«, 23).
So fruchtbar es ist, die vielfältigen und teils widersprüchlichen Ziele und Aktionsformen der neuen sozialen Bewegungen in einem ebenso heterogenen, alltagskulturell geprägten alternativen Milieu zu verorten; die Konzentration auf einen alternativen »Lebensstil« und eine zwar kollektiv eingelassene, aber letztlich individuelle »Selbstveränderung«, veranlasst die Mehrzahl der Autor/innen, die gesellschaftlichen Bedingungen und das politische Handeln der Alternativbewegungen aus dem Blick zu verlieren. Bemerkenswert wenig thematisieren sie die Bedingungen einer fordistischen Industriegesellschaft und ihrer zentralstaatlich-autoritären Regulierung durch einen expandierenden Wohlfahrtsstaat. Noch knapper ordnen sie die Ausweitung der Alternativbewegung und die schleichende Integration ihrer Ziele in die Neoliberalisierung des politischen Diskurses und die Herausbildung einer postfordistischen Ökonomie ein.Stattdessen verlagern sie die Resultate dieses jahrzehntelangen hegemonialen Prozesses in die Ziele, Handlungs-und Lebensweisen der Alternativbewegungen selbst hinein: Als »unsichtbarer Zwang durch Selbstnormierung« (Ilse Lenz, 381) und »Freiheit zur ›eigenen‹ Verantwortung« (Pascal Eitler, 342), die dem Streben nach Selbstbestimmung und kollektiver Selbstorganisierung bereits enthalten war. So sehen Hg. den Anspruch auf kollektive Selbstbestimmung als »ein Subjektivitätskonzept, das dem sozialen Trend der Individualisierung paradoxerweise zugleich entsprach und gegen ihn gerichtet war« (18). Diese These einer bereits in der »alternativen« Politik und Lebensweise angelegten »Modernisierungs«-Tendenz wiederholen Alexander Seidlmaier für die »Verbesserung und Modernisierung etablierter Konsumregime« (205), Anja Schwanzhäuser für die Vorwegnahme der »spezifischen Kommunikationsformen des viel später entstehenden Internets« in den alternativen Medien (206), Dieter Rucht für die »›Modernisierung‹ des sozialen und politischen Systems« (86) und Anja Bertsch für die kommerzielle Ausweitung des »alternativen Reisestils« (129). Dass die Alternativbewegungen, die sich spätestens auf dem TUNIX-Kongress im Januar 1978 ausdrücklich aus der Mehrheitsgesellschaft verabschiedet hatten, unfreiwillig zur herrschaftlichen Veränderung der Gesellschaftsverhältnisse beigetragen haben, erscheint so als »paradox«; ein Begriff, der weder diese Veränderung noch die Rolle der Alternativbewegungen darin erklärt. Im Gegenteil: Auf diese Weise wird die richtige Erkenntnis, dass ihre aus unerfüllten Bedürfnissen und einer Haltung der Verweigerung formulierten Grundsätze heute den Einzelnen als Anforderungen der Eigenverantwortung, Selbstdarstellung und Kreativität entgegen schlagen, letztlich falsch. Denn dieser Umschlag ist aus der Betrachtung des Innenlebens der Alternativszene allein nicht zu verstehen, sondern erst Resultat einer Integration und Umformung ihrer Ziele und Handlungsweisen am Übergang zum Neoliberalismus.
Einige Beiträge entziehen sich jedoch dieser dominanten Sichtweise und zeigen Ansatzpunkte für eine differenziertere Betrachtung der Alternativbewegungen auf. Ilse Lenz beschreibt, wie die Zweite Frauenbewegung durch die ansatzweise Umsetzung ihrer Forderungen nach Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit im Alternativmilieu die Grundlage dafür gelegt hatte, ihren Einfluss auch »weit darüber hinaus in die ›Mehrheitsgesellschaft‹ aus[zu]dehnen« (395). Jens Ivo Engels analysiert, dass erst die Verbindung bereits bestehender Kritiken an Umweltverschmutzung und Naturzerstörung mit der »Suche nach gelebten Alternativen« einen »Ausweg« aus der staatlichen Befriedungspolitik und den entsprechend begrenzten Protesterfolgen bot (421). Und schließlich zeigt Sven Steinacker, dass die ›modernisierende‹ Integration der Alternativbewegungen sich nicht gleichsam naturwüchsig aus ihnen selbst ergab. Stattdessen haben beispielsweise die vielfachen Selbsthilfeprojekte im Sozialbereich »eine Bresche geschlagen, in der professionelle Sozialarbeiter/innen dann ganz eigene, nicht immer deckungsgleiche Vorstellungen realisieren konnten« (371). Das hier anklingende Verständnis alternativer Lebensweisen als politische Strategien und des Aufgreifens ihrer Prinzipien in einem hegemonialen Aushandlungsprozess hilft nicht nur, die Geschichte »antibürgerlicher« Gegenbewegungen zu verstehen, sondern auch, die Möglichkeiten für gelebte Alternativen heute zu erkunden.
Armin Kuhn (Berlin)
Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 618-620
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