Alexandra Budke: Lehrerbildung in einer diffusen Disziplin

Gerhard Hard 1982: Lehrerbildung in einer diffusen Disziplin. Karlsruher Manuskripte zur Mathematischen und Theoretischen Wirtschafts- und Sozialgeographie. H. 55. Karlsruhe.

1982, also vor mehr als 30 Jahren, hat Gerhard Hard seine Schrift: „Lehrerbildung in einer diffusen Disziplin“ vorgelegt. Es handelt sich um eine brillante, wissenschaftstheoretische Analyse der Geographie mit dem Ziel, didaktische Konsequenzen für die Lehrerbildung abzuleiten. Es soll die zentrale Frage beantwortet werden, was unter „Wissenschaftlichkeit“ in einem auf wenige Semester kondensierten Lehramtsstudium der Geographie zu verstehen ist. Historischer Hintergrund der Arbeit ist die Abwendung der westdeutschen Geographie von ihrem Theoriekern der klassischen Länderkunde Ende der 60er Jahre und die Herausbildung neuer Ansätze in den verschiedenen Teilgebieten der Geographie.

 

Da es Hard nicht sinnvoll erscheint, alle möglichen Spezialgebiete und diversen Einzeltheorien der Geographie in den wenigen zur Verfügung stehenden Lehrveranstaltungen vorzustellen, ist es folgerichtig, sich auf den Kern und das Wesen des Faches zu konzentrieren. Dazu muss dieser Kern aber zunächst definiert werden, was nach Hard in „kompakten“ Wissenschaften sehr viel leichter falle als in der „diffusen“ Geographie, die zudem stark volkswissenschaftliche Züge aufweise.

Heute hat die Spezialisierung der geographischen Unterdisziplinen im Vergleich zu 1982 weiter zugenommen, was zu vielen, wissenschaftlich sehr anspruchsvollen Forschungsprogrammen geführt hat. Auch im Zuge des aktuell sehr starken Drucks Drittmittel einzuwerben, hat sich die Tendenz, mit den jeweiligen Nachbardisziplinen gemein-sam Projekte anzugehen – z. B. die Geomorphologie mit der Geologie, die Fachdidaktik mit der Psychologie, die Stadtgeographie mit der Soziologie etc. –, weiter verstärkt. Damit bewahrheitet sich auch die Aussage von Hard, dass sich jedes anspruchsvolle geographische Forschungsprogramm unweigerlich außerhalb der Fachgrenzen begibt (Hard 1982, 27). Allerdings scheint dies vermehrt auch für die anderen, von Hard als „kompakt“ identifizierten Wissenschaften zu gelten, was man unter anderem mit dem Kooperationsdruck aus der Richtung der Drittmittelgeber wie BMBF oder EU sowie mit den komplexen Fragestellungen der Projekte begründen kann, die eben von einem einzelnen Fach heute nicht mehr zufriedenstellend bearbeitet werden können. Insgesamt kann also konstatiert werden, dass die Ausgangsfrage von Hards Analyse, welches die geographietypische Perspektive oder der typische geographische Ansatz ist, der als „roter Faden“ die Veranstaltungen aller Teildisziplinen der Geographie durchzieht und dazu führt, dass die zukünftigen LehrerInnen eine kohärente Vorstellung von dem Fach entwickeln können, das sie zukünftig unterrichten werden, heute so aktuell ist wie damals.

Im ersten Teil seiner Arbeit stellt sich Hard der Herausforderung, die Grundzüge der Geographie und die daraus abzuleitenden Probleme bei der Konzeption von anspruchsvollen, auf einander aufbauenden und untereinander in Beziehung stehenden Veranstaltungen für Lehramtsstudenten aufzuzeigen.

Nach Hard (ebda. 9) sieht sich die Geographie außeruniversitären Erwartungen eines Laienpublikums ausgesetzt, welches das Fach für alltagsbedeutsam und für lebensweltlich verwertbar hält. Die in der Gesellschaft verbreiteten Utopien der Geographie würden sich auch bei Studierenden finden, die mit diesen ihr Studium beginnen würden. Die wesent-lichen Erwartungen an die „richtige Erdkunde“ seien die „naturkundlich-ethnographische Heimat- und Weltkunde“ oder die „aktivistische Gesellschaftswissenschaft“. Geographie sei demnach ein Fach für den „gebildeten Spaziergänger, Wanderer und Urlauber, für den Bildungs-, Erlebnis- und Abenteuerreisenden“ sowie für den „Aktivisten der kommunal-politischen Basis“ (ebda. 12). Der Ursprung dieser gesellschaftlichen und studentischen Erwartungen liege in der Geschichte des Faches: „Wenn man es in einer einzigen Formel resümieren muss, darf man wohl sagen, dass diese moderne Universitätsgeographie (zumindest in Deutschland) kulturpolitisch und politpädagogisch von Anfang an durchaus als eine ,diffuse‘, ,laien-enzyklopädische folk science‘ im Sinne unserer Begriffe projektiert worden ist (vor allem als ein politpädagogisch fruchtbares Volksbildungs- und Lehrerausbildungsfach)“ (ebda. 13).

Es folgt die Charakterisierung der Geographie als „diffuse“ Disziplin. Im Gegensatz zu „kompakten“ Disziplinen habe sie keinen disziplineigenen Gegenstand und keinen nur den Experten zugänglichen Typ der „Produktion wissenschaftlichen Wissens“ (ebda. 14). Da es keine eigentheoretischen Leitlinien gäbe, um „disziplineigene Tatsachen (empirischer wie theoretischer Art) von alltagsweltlichen-außerwissenschaftlichen Tatsachen anderer Disziplinen zu trennen“ (ebda. 15), sei das Aufgreifen von Themen in der Geographie in großem Maße willkürlich und von „Moden, Interessen und Zielvorgaben sei es aus der Alltagswelt, aus fremden Disziplinen, aus dem ,Bildungssystem‘ oder aus der politischen Administration“ (ebda. 15) stark beeinflusst. Damit einher geht auch die Gefahr der ideologischen Instrumentalisierung der Geographie, was Hard in seinem Aufsatz „Die Disziplin der Weißwäscher“ (1979) offengelegt hat.

Da die Zugänge und Themen der Geographie so divers sind, könne auch von keinem „Wissenschaftsfortschritt“ für das gesamte Fach gesprochen werden. Ebenso diffus wie die Erkenntnisinteressen und Zugänge seien auch die „anerkannten disziplineigenen Maßstäbe“ (ebda. 16) zur Beurteilung der Güte der vorgelegten Forschung.

Heute erscheint die Landkarte der geographischen Forschung nicht weniger divers und bunt als in den 70/80er Jahren. Fachübergreifende theoretische Ansätze gib es auch heute nur wenige, und die Teildisziplinen der Physischen- und die der Humangeographie scheinen sich noch weiter voneinander wegbewegt zu haben. So gibt es vermutlich weniger Forschungskooperationen zwischen der Human- und der Physischen Geographie als zwischen der Humangeographie und ihren sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen und der Physischen Geographie und den Naturwissenschaften.

Natürlich wird die „Einheit des Faches“ auch heute noch betont, was sich aus der Situation der Geographie als kleines Fach, das zwischen den Stühlen der Sozial- und Naturwissenschaften sitzt, sich für Zugänge und Themen rechtfertigen muss, sich ständig in Frage gestellt fühlt und sich von Stellenkürzungen an der Universität und von Stundenreduktionen an der Schule bedroht sieht, erklären lässt. Diese Angst der Geographie vor der Marginalisierung ist viele Jahrzehnte alt und führt auch heute häufig dazu, dass Probleme aus disziplinpolitischen Erwägungen nicht angesprochen werden. Sie werden allerdings nicht dadurch gelöst, indem man sie ignoriert oder rhetorisch löst, z. B. durch die Titulierung der Geographie z. B. als „Brückenfach“, ohne diesen Anspruch dann theoretisch zu füllen.

Vielfach wird heute die Einheit des Fachs über den „Raumbegriff“ hergestellt, der wie wir wissen, allerdings die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Bedeutungen haben kann. „Raum“ kann in geographischen Kontexten z. B. Raumkonstrukt in der Kommunikation verschiedener sozialer Gruppen meinen, die diskursanalytisch ausgewertet werden, oder in anderen Kontexten den konkreten, physisch messbaren Ausschnitt der Erdoberfläche bezeichnen, an dem geomorphologische Untersuchungen durchgeführt werden. Während die einzelnen Raumbegriffe wichtige Werkzeuge zur Analyse in den Teildisziplinen darstellen und hier genauer ausdifferenziert wurden, erscheint immer noch recht unklar, wie die diversen geographischen „Räume“ zusammenwirken oder in einer übergeordneten Theorie eingebettet werden könnten, was nach Hard vielleicht auch schlicht unmöglich ist. Zudem ist selbst bei diesem Kernbegriff der Geographie eine Überschneidung mit anderen Disziplinen wie z. B. der Soziologie, der Geschichte oder der Kunst zu verzeichnen.

Daher ist es ein besonderer Verdienst von Hard, disziplinintern einen kritischen Diskurs über den besonderen Charakter der Geographie und dessen didaktische Konsequenzen anzustoßen. Auch heute gehört die geographische Hochschuldidaktik nicht zu den Bereichen, in denen intensiv geforscht, publiziert und diskutiert wird, was sich unter anderem daraus erklären lässt, dass sich hier kaum Drittmittel generieren lassen und diese Aktivitäten womöglich wenig prestigeträchtig erscheinen. Zudem müsste ein kritischer Dialog aller an der geographischen Lehre Beteiligten stattfinden, was aufgrund der schon skizzierten innerfachlichen Grenzen häufig nicht möglich ist. An vielen Standorten müssen zudem ständig umfangreiche externe strukturelle Vorgaben umgesetzt werden (zuletzt die Konzipierung der Bachelor- und Masterstudiengänge), was kaum Zeit für inhaltliche Diskussionen lässt.

Aus den Charakteristika der Geographie ergeben sich für Hard vielfältige Probleme in der Lehre. Aufgrund des ausufernden, diffusen und nicht „paradigmatischen“ Charakters der Geographie sei es schwer oder praktisch unmöglich, die Studieninhalte gemäß ihrer Schwierigkeit anzuordnen. Wenn kein standardisierter Unterrichtsstoff und kein „Grund-stock von soliden disziplineigenen Fakten“ (ebda. 25) vorhanden sind, stellt dies die Dozenten vor große Herausforderungen in der Auswahl der Inhalte und in der Leistungsüberprüfung. Die Normallösung sei bekannt: „Im Interesse der akademischen Respektabilität und der Bedürfnisse der weniger begabten Studenten wird man schlichten Lehrstoff vortragen und erwarten, dass die Studenten diesen Stoff beherrschen müssen, ehe sie ihre Meinung zu offenen Fragen äußern“ (ebda. 26). Teilweise würden einfach Theorie- und Inhaltselemente aus anderen Disziplinen importiert und die Erweiterung der studentischen Konzepte durch eine „disziplineigne Welt- und Gegenstandskonstruktion“ (ebda. 27) würde gar nicht erfolgen. Diesen Anspruch zu verwirklichen, sei auch von daher besonders schwer, da die Gegenstände der Geographie sehr alltagsnah seien und die Studierenden mit recht stabilen Konzepten und Erwartungen an das Studium starten, die sie dann bewahrheitet sehen wollten.

Aus verschiedenen Studien wissen wir heute, dass die Konzepte von „richtiger“ Geographie und die Vorstellungen von „richtigem Geographieunterricht“ sehr langlebig sind. Sie wurden durch die bisherige Sozialisation und Biographie der Studierenden, die ja alle vor ihrem Studium schon Geographieunterricht erfahren haben, erworben und überdauern zum Teil ungebrochen die universitäre Ausbildung. Dazu gehören bestimmte Routinen wie z. B. die Vorstellung, man müsse Geographieunterricht mit der Lagebestimmung an der Wandkarte beginnen, oder die Meinung, es gehe im Geographieunterricht hauptsächlich darum, ein „richtiges“ und „vorurteilsfreies“ Bild anderer Länder und Kulturen zu vermitteln etc. Das von Hard diskutierte Problem, wie man es erreichen kann, dass die Ausgangskonzepte der Studierenden durch das Studium nachhaltig erweitert, in Frage gestellt, reflektiert und modifiziert werden können, ist demnach immer noch zentral.

Im Anschluss an die wissenschaftstheoretische Analyse wird von Gerhard Hard eine von ihm durchgeführte Lehrveranstaltung skizziert, die einerseits die angesprochenen Probleme illustriert und andererseits erste didaktische Lösungsansätze aufzeigt. Es handelt sich um eine Einführungsveranstaltung zur „Stadtgeographie“. Um vordergründig den Erwartungen der Studierenden, dass Geographie alltagsbedeutsam und politisch relevant sei, zu entsprechen, wird das Thema „Probleme der Stadt“ gewählt, was am Beispiel des Studienstandorts Osnabrück erarbeitet werden soll. Zum Einstieg werden die mental maps der Studierenden erhoben und die zugrunde liegenden Kriterien offengelegt. Auf der Grundlage der „vermuteten Wohnungs-, Wohnumfeld- und Infrastrukturqualität“ (ebda. 31) werden vor allem die Arbeiterwohnquartiere von den Studierenden als problematisch angesehen. Nachdem ihnen die Hypothesen hinter ihren eigenen Problemwahrnehmungen klar gemacht wurden, werden Artikel der Lokalzeitung dahingehend ausgewertet, welche Probleme in welchem Stadtteil vorgestellt werden. Das Ergebnis steht im Widerspruch zu den studentischen Ausgangsvorstellungen, da vor allem die „attraktiven bürgerlichen Quartiere“ (ebda. 33) als problembelastet erscheinen. Der Widerspruch zwischen eigener Wahrnehmung und dem Ergebnis der Textanalysen verunsichert die Studierenden in ihrer Alltagsvorstellung und sie erkennen, dass man von objektiven Raumgegebenheiten keine „Probleme“ ableiten kann. „Man muss und kann dergestalt Anfängerstudenten der Geographie mit traditionell geographischen Mitteln die (traditionelle) Geographie austreiben, um sie so zu brauchbaren Geographen zu machen“ (ebda. 35). Ausgehend von dem traditionellen geographischen Blick auf den physischen Raum, in diesem Fall auf die Physiognomie der Stadt, wird ein Bruch mit dem „primären Realismus“ (ebda. 37) erreicht und der Weg für das wissenschaftliche Denken frei gemacht. Die Studenten können nun Fragen nach den Gründen für die erhobenen Darstellungen entwickeln. Sie erkennen, dass es sich bei Problemen nicht um „Dinge der Stadt“ handelt, sondern um „Gegenstände der Rede“ oder „Inhalte von Sätzen“ (ebda. 38). Nachdem ihnen die „De-Realisation“ plausibel gemacht wurde, werden gemeinsam die „Verluste bzw. dieses Unbehagen an der rupture épistémologique“ (ebda. 41) besprochen. Die „theoretische Horizonterweiterung“ (ebda. 46) kann noch weiter vorangetrieben werden, indem Auszüge der breiten interdisziplinären Forschungsliteratur behandelt und die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf das Thema deutlich gemacht werden. Durch das geschilderte didaktische Arran-gement sollen die Studierenden die Vorteile der wissenschaftlichen Ansätze erkennen. „Sie sind (1) weniger ad hoc gesonnen; sie sind (2.) weniger partikulär (d. h. sie beziehen sich auf ein ungleich größeres Faktenfeld); sie liefern (3.) einen breiten Interpretationshorizont, haben sozusagen eine größere Tiefenschärfe in Bezug auf die soziale und politische Umgebung der stadtgeographisch-kommunalpolitischen Gegenstände, um die es hier geht, und schließlich machen sie (4.) nachdrücklich bewusst, dass man die Interpretationsrahmen für räumliche Phänomene (und ,raumwirksame Aktivitäten‘) außerhalb der räumlichen Phänomene und nicht nur in der geographischen Literatur suchen darf“ (ebda. 47).

Hard sieht demnach als zentrale Aufgabe des Lehramtsstudiums nicht die Vermittlung von Faktenwissen in den diversen Teildisziplinen der Geographie, sondern eine Einführung in das wissenschaftliche, geographische Denken. Es handelt sich um ein didaktisches Beispiel, das meisterhaft zeigt, wie es im geographischen Kontext gelingen kann, die Studierenden bei ihren Alltagsvorstellungen „abzuholen“, ihre Kompetenzen in der Selbstreflexion zu schulen, bei ihnen durch kognitive Widersprüche eine fragende Haltung zu den ehemals klaren „räumlichen“ Tatsachen zu erzeugen und sie in den wissenschaftlichen Suchprozess nach theoretischen und empirisch belastbaren Antworten einzubeziehen. Dabei kommen im Konzept von Hard alle heute relevanten Raumkonzepte vor (Wardenga, 2006), die auch Grundlage der Bildungsstandards im Fach Geographie sind (DGfG, 2007). Die Lehrveranstaltung geht vom Containerraum Osnabrück und Raum als System von Lagebeziehungen aus, bezieht dann den Wahrnehmungsraum der Studierenden mit ein und letztendlich lernen die Studierenden wie Raum als soziales Konstrukt in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft hergestellt wird. Dabei können zentrale Fragen der Sozialgeographie und der Politischen Geographie am Beispiel mit den Studierenden entwickelt werden: Wer spricht, aus welchem Grund, wie über einen Raum und welche Folgen hat dies?

Das vorgeschlagene Programm ist nach Hard in allen Teilbereichen der Geographie, also auch in der Physischen Geographie, einsetzbar und nutzt den Ansatz der traditionellen Geographie als Ausgangspunkt der Überlegungen und als Kontrastfolie gegenüber aktuellen wissenschaftlichen Ansätzen. „Sofern man der Geographie überhaupt ein ureigenes Paradigma und Wesen zuschreiben kann, dann bestand dieses Kernstück eben darin, Mensch und Natur in ihrer konkreten Ökologie zu betrachten, Natur und Gesellschaft in und von ihrer alltagsweltlichen-physiognomischen Konkretisierungsebene her zu verstehen“ (ebda. 51). Eine „Einführung in die Gesteinskunde“ könnte demnach bei den „Ethno-Petrographien“, den „wahrgenommenen Tausch- und Gebrauchswerten für unterschiedliche Verwendungssituationen (vom Grab- und Fassaden- bis zum Edelstein)“ (ebda. 61) beginnen und dann Perspektiven derjenigen einbeziehen, die professionell mit Steinen arbeiten, wie etwa Steinmetze und Denkmalpfleger. Auch die Wahrnehmungen von Personen, die sich mit Steinen als Hobby beschäftigen, oder auch die historischen Petrographien könnten einbezogen werden. Diesen außerwissenschaftlichen Wahrnehmungen, deren Relevanz für bestimmte Handlungspraxen deutlich gemacht wird, sollen dann die wissenschaftlichen Sichtweisen gegenüber gestellt werden. Damit wird ähnlich wie im Beispiel zur Stadtgeographie der Bruch zu den Alltagsvorstellungen inszeniert.

Es stellt sich nun die Frage, welche Relevanz die von Hard vorgeschlagene wissenschaftstheoretische Einführung in geographisches Denken für Lehramtsstudierende hat, die ja LehrerInnen und keine WissenschaftlerInnen werden wollen. Neben den von Hard genannten Argumenten, könnte man noch anführen, dass es für guten Geographieunterricht im Sinne der „Problemorientierung“ unerlässlich ist, dass Studierende im Studium lernen, interessante Fragen zu stellen. Diese Kompetenz brauchen sie als GeographielehrerInnen, da Fragen in der Regel der Ausgangspunkt und roter Faden für den Geographieunterricht sind. Der bei Hard verwirklichte Ansatz des „forschenden Lernens“ ist auch für den Schulunterricht relevant, da SchülerInnen selbst aktiv werden können und ihren eigenen Erkenntnisprozess beeinflussen können. Wenn Studierende den idealtypischen Ablauf dieses Ansatzes im Studium mit seinen Vorteilen erlebt haben, besteht die Möglichkeit, dass sie ihn später selbst als Lehrkraft nutzen.

Zudem haben GeographielehrerInnen gerade im Zuge der aktuellen Kompetenzorientierung einen großen Spielraum bei der Gestaltung des Unterrichts, ähnlich wie die HochschullehrerInnen, müssen auch sie eine Vorstellung von geographischem Denken und geographischer Perspektive entwickelt haben, um entsprechende didaktische Schwerpunktsetzungen vornehmen zu können. Dafür kann eine klare Vorstellung von den typischen Perspektiven und Fragen des Faches nur hilfreich sein.

Der im Beitrag von Hard angedeutete Beitrag der Geographie zur politischen Bildung ist besonders für angehende GeographielehrerInnen relevant, die auf diese Weise Fähigkeiten zur kritischen Analyse von raumbezogenen Diskursen und zur Reflexion erwerben können. Damit sie später kritische Analysen von Geomedien und „räumlichen“ Argumentationsmustern mit den SchülerInnen durchführen können, die ja zu „mündigen Bürgern“ erzogen werden sollen, die gesellschaftliche Prozesse verstehen und an ihren teilhaben können, müssen die Studierenden diese Kompetenzen erst selbst im Laufe des Studiums erwerben.

Die Überlegungen von Hard begrenzen sich jedoch nicht auf die Hochschuldidaktik, sondern er zieht auch wesentliche Schlüsse für den Geographieunterricht. Auch hier gehe es darum, die Alltagsvorstellungen der SchülerInnen offenzulegen. Statt sie dann jedoch durch die wissenschaftlich „richtige“ Sicht zu ersetzen, sollte der Geographieunterricht besser aufzeigen, worin der situationsspezifische Gebrauchswert der unterschiedlichen Wissenstypen liegt und worin sie sich strukturell unterscheiden. „Ich selbst würde deshalb darauf bestehen, dass das Programm der ,durchgearbeiteten und reflektierten Verwissenschaftlichung von Alltagswissen‘ primär an ,wirklichem‘, gegenwärtigem Alltagshandeln, Alltagswissen und Alltagsfragen ansetzen sollte (…)“ (ebda. 72).

Am Ende der Ausführungen scheint demnach die Alltagsnähe der Geographie besonderes didaktisches Potential zu haben, da die StudentInnen und auch die SchülerInnen praktisch zu jedem geographischen Thema schon eine Meinung haben und über Theorien verfügen, die sie aus verschiedenen alltäglichen Kontexten kennen. Wenn diese in der Lehre und im Unterricht offengelegt werden, kann dies ein guter Ausgangspunkt für die Kontrastierung mit anderen Perspektiven aus Gesellschaft und Wissenschaft sein. Der geographische Unterricht wäre dann idealerweise sowohl Selbst- als auch Welterkenntnis. Auch der zunächst als Makel erscheinende „diffuse“ Charakter der Geographie wird so positiv gewendet, da er auch bedeutet, dass genügend Ressourcen im Sinne von theoretischen, empirischen, praktischen, medialen und didaktischen Ansätzen zur Verfügung stehen, um die von Hard geforderte Multiperspektivität auf „räumliche“ Phänomene und deren tiefe Reflexion in der Lehre zu erreichen. Positiv gesehen, impliziert der „diffuse“ Charakter der Geographie auch eine große Offenheit für sinnvolle und interessante Ansätze aus den Nachbardisziplinen, was man am Beispiel von Hards Analyse idealtypisch nachverfolgen kann. Er bezieht nicht nur sein profundes Wissen über die Themen, Ansätze und historischen Entwicklungen der unterschiedlichen Teilgebieten der Geographie, der Wissenschaftsgeschichte und -theorie, der Humangeographie und der Physischen Geographie mit ein, sondern auch Ergebnisse aus Nachbardisziplinen wie Geschichte, Soziologie, Physikdidaktik etc. Hard zeigt sich als ein Wissenschaftler, der sich in keiner Weise durch die Grenzen von Fächern und Unterdisziplinen in seinem Denken begrenzen lässt – und damit eigentlich dem Idealbild des Geographen als „Universalgelehrten“ erstaunlich gut entspricht. Der große Verdienst der Arbeit von Hard und seine noch heute gültige Innovationskraft liegen darin, dass der Charakter des Faches offen und ohne disziplinpolitische Scheuklappen diskutiert wird, geographische Reflexionsfähigkeit idealtypisch vorgeführt wird und stringent didaktische Konsequenzen erarbeitet werden.

Literatur
DGfG 2007. Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss – mit Aufgabenbeispielen. Berlin.

Hard, Gerhard 1982: Lehrerbildung in einer diffusen Disziplin. Karlsruher Manuskripte zur Mathematischen und Theoretischen Wirtschafts- und Sozialgeographie. H. 55. Karlsruhe.

Hard, Gerhard 1979: Die Disziplin der Weißwäscher. Über Genese und Funktion des Op-portunismus in der Geographie. In: Peter Sedlacek (Hg.): Zur Situation der deutschen Geographie zehn Jahre nach Kiel. Osnabrück (Osnabrücker Studien zur Geographie, Bd. 2), S. 11-44.

Wardenga, Ute 2006: Raum- und Kulturbegriffe in der Geographie. In: Dickel, Mirka / Kanwischer, Detlef (Hg.): TatOrte. Neue Raumkonzepte didaktisch inszeniert. Münster. S. 21-47.


Quelle: geographische revue, 16. Jahrgang, 2014, Heft 1, S. 71-78

 

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