Andreas Keil, Burkhard Wetterau: Metropole Ruhr. Landeskundliche Betrachtung des neuen Ruhrgebiets. Essen 2013. 108 S. (2014 auch in englischer Sprache erschienen: Metropolis Ruhr – A regional study of the new Ruhr).
Nach wie vor gehört das „Ruhrgebiet“ zu jenen hochinteressanten Regionen, in denen die mannigfaltigen Herausforderungen politik-, wirtschafts-, sozial- und umweltstruktureller Art den Prozess der Selbstsuche und (strategischen) regionalen Entwicklungsplanung auf Dauer stellen. Den Strukturbrüchen von der Montanindustrie zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft war und ist in der Regel nur mit neuartigem und experimentierendem Instrumentarium zu begegnen. Wenn dessen Ergebnisse bislang nicht zu einem erfolgreichen „neuen Ruhrgebiet“ geführt haben – es ist nur, aber immerhin, punktuell und projektbezogen realisiert – liegen dem systematische Ursachen zugrunde: Sie sind dem Sachverhalt geschuldet, dass die Region in ihrer endogenen Pfadabhängigkeit in den enticklungspolitischen Untiefen einer „verspäteten Region“ navigiert. Durch diese „Erblast“ stehen den wachsenden Herausforderungen des beschleunigten Wandlungstempos der exogenen Rahmenbedingungen (z.B. der globalen Wettbewerbsfähigkeit) gegenüber konkurrierenden Standorten vergleichsweise schwächere Ressourcen zur Verfügung.
Zu den gravierenden Folgen gehören leere öffentliche Hände, aber auch der intensive demographische Wandel: Er eilt an der Ruhr dem Wandel in anderen Regionen voraus. Sind doch im Gegensatz zu Menschen mit Migrationshintergrund nicht selten die Eltern, deren Kinder heute fehlen, nicht geboren oder abgewandert. Abzuwarten bleibt, ob die jüngeren Zuwanderungen hinreichend qualifiziert und integrierbar sind. Zudem steht eine dem Klimawandel und den Bedarfen der „neuen Urbaniten“ (Hochqualifizierte, Kreative/Innovative) angemessene (Um-)Gestaltung der Stadtregion an.
Die von der Montanindustrie ererbten Flächen – nicht selten innenstadtnah – bieten dazu eine europaweit und wohl auch global einzigartige, noch zu selten genutzte Jahrhundertchance. Sie reicht von experimentierendem Städtebau und „postindustrieller Stadtnatur“ über urban agriculture bis zu stadtklimafreundlichen Potenzialen und erneuerbaren Energien. Die im Vergleich zu anderen Regionen chronisch übergroße Schere zwischen Handlungsdruck und Handlungspotenzial hat sich über die Jahrzehnte zu einer ganz besonderen „Wandlungskompetenz“ angereichert. Sie zeichnet sich durch (notgedrungene) Experimentierbereitschaft und Vorreiterfunktion aus. Sie ist weltweit gefragt, da vielerorts die Umgestaltung alt- bzw. montanindustrieller Regionen anstehen und die Erfahrungen des Ruhrgebiets in ihren Stärken und Schwächen einen beträchtlichen Nachfrageboom erfahren.
Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Bestandsaufnahme des jüngeren Strukturwandels,seiner stadt- und regionalpolitischen Strategien, Experimente und Erfolge ein hoch willkommenes und bedeutsames Unterfangen. Die Verfasser wählen dazu das Format der schwerpunktsetzenden klassischen Landeskunde, wobei sie sich (straff und auf nur gut 100 Seiten!) mit sachkundigen Akzenten auf die gegenwärtig relevanten Sachverhalte und Prozesse beschränken. Eine aktuelle, detailreich breite und tiefe Dokumentation ist das erfreuliche Ergebnis. Der in der Einleitung gegebene Hinweis auf den Vorgänger dieser Studie, der mehr Gewicht auf die Genese der Region legte, ist beherzigenswert, stellt er doch den Strukturwandel in seiner historischen Dimension in den Vordergrund und macht so die Dimension der „Pfadabhängigkeit“ nachvollziehbar (vgl. Bronny/Jansen/Wetterau 2004).
Nach einigen zum Verständnis der „Regionalbiographie“ notwendigen naturräumlichen und historischen Grundlagen des Ruhrgebiets (Kap.1 und 2) liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf der jüngeren Dynamik, also auf dem „neuen Ruhrgebiet“ in Wirtschaft (Kap. 3), (sozio-ökonomischen) Entwicklungsprozessen (Kap. 4) und zukünftigen Perspektiven (Kap. 5). Dabei bleibt offen, ob und inwieweit die Metropole Ruhr mehr als nur einen Markennamen und das neue Ruhrgebiet eher einen Prozess oder einen bereits erreichten Zustand bezeichnet. Die Schlussfolgerungen aus dem Angebot vielschichtiger und sensibel kritischer Argumente (z.B. zur Diskussion um die Empirie und Theorie der Metropole Ruhr) werden dem Leser übertragen – eine spannungsreiche und anspruchsvolle Option, die die Zielgruppe dieser Dokumentation, die vor allem in „Forschung und Lehre“ liegt, besonders ansprechen könnte und sollte. Ein gutes Beispiel für viele gibt die straffe Vorstellung der Pro und Contra-Argumente zur Zukunft des Bergbaus (Kap. 3, 36 f.), ein weiteres die Skizzen zu regionalstrategisch bedeutsamen Ansätzen etwa der Clustertheorie (40), der Metropolregion (100 f.) und der regionalen Zukunftsentwürfe (97 f.).
Hilfreich und dem Verständnis gerade der komplexen Zusammenhänge förderlich ist der durchgehende Stil thematischer Vertiefung anhand von Beispielen, so etwa Stadtumbau: Duisburg Innenhafen (57), Duisburger Problemviertel (66ff.), Technologie (u.a. Dortmund, 51ff.). Das Layout ist vorbildlich und setzt Maßstäbe: Die kompakte Argumentation wird in einem ausgezeichnet klaren Dreispaltendruck präsentiert. Lesbarkeit und Verständnis werden zudem wohltuend gefördert durch eine Fülle von Fotos, besonders Schrägluftbildern und (Karto-)Diagrammen von ausnahmslos höchster Qualität. Sie machen tatsächlich Lust zum (Nach-)Lesen, zumal die dargebotenen Inhalte sowohl Basiskenntnisse als auch anspruchsvolles Hintergrundwissen anbieten. Allerdings hätten die Verfasser gut daran getan, auch die Lust auf das vertiefende Weiterlesen zu bedienen. Entsprechende (z. B. thematisch gebündelte) Hinweise und Quellenangaben fehlen.
Überlegenswert erscheint, ob das Format dieser fokussierten und kompakten Landeskunde nicht in Zukunft modifiziert werden könnte: Die Bereitschaft, auch straffe und dichte Ausführungen zu einer Region im Sinne einer vollständigen Buchlesung dürfte abnehmen, die Nachfrage nach selektiver Informationssuche dagegen steigen: Ein Glossar könnte hier den Gebrauchswert heben. Ebenso wäre zu überlegen, ob nicht der hier angedeutete in Landeskunden eher unübliche bis abgelehnte Stil kritischer Stellungnahmen nicht ausgebaut werden sollte. Der kritische Diskurs würde belebt. Schließlich erscheint auch und gerade wegen der Bedeutung dieser Dokumentation eine Vergleichsperspektive von Strukturen, Politiken, Prozessen und Erfolgen ausgewählter nationaler und internationaler Konkurrenzregionen wenigstens in Grundzügen sinnvoll: Die zweifelsfrei gezeitigten Erfolge im Erneuerungsgang der Metropole Ruhr könnten so relativiert und die nach wie vor prekäre Zukunft der Standortqualität und Wettbewerbsfähigkeit offengelegt werden.
Dem Band sind Übersetzungen in andere Sprachen zu wünschen, denn die „altindustriellen“ Probleme und Herausforderungen weisen Strukturähnlichkeiten mit vielen Regionen unter anderem in China, Indien, Brasilien oder Vietnam auf. Die Entwicklung des „Ruhrgebiets“, seine Entwicklungs- und Umbaustrategien sowie Lösungen haben dort Vorbildcharakter und sind stark gefragt.
Bernhard Butzin, Bochum