Béatrice Durand: La nouvelle idéologie française. Paris 2010. 240 S.

Die Präsenz des Islams in Frankreich als Folge von postkolonialer Einwanderung hat im Zusammenhang mit sozialen Krisen in den letzten Jahrzehnten die Debatte um nationale Zugehörigkeit und Identität wieder aufleben lassen. Béatrice Durand analysiert in ihrem essayistischen und lesenswerten Buch, dessen Titel auf die 1981 erschienene Streitschrift L’idéologie française von Bernhard-Henri Lévy anspielt, die mentalen Repräsentationen, in denen diese Auseinandersetzungen gelebt werden.

Während Lévy am öffentlichen Diskurs in Frankreich eine unhistorische Externalisierung von Ungleichheitsideologien wie Rassismus und Antisemitismus kritisierte, konstatiert Durand die Erfindung eines „Neorepublikanismus“, d.h. die Konstruktion einer Tradition, die mit dem historischen französischen Republikgedanken eher in losem Zusammenhang steht. Dabei würden bestimmte Vorstellungen von Rechtsstaat, Wohlfahrtsstaat, öffentlichem Dienst, Laizismus etc. kompiliert und zu einer nationalen Ideologie verkettet. Diese sei eine sehr inkohärente Konzeption, „eine Ideologie im schlechtesten Sinne des Wortes, ein diffuses Ensemble von Werten und Diskurselementen, Ablagerung von verbreiteten Evidenzen und Automatismen des Denkens, die unseren politischen gesunden Menschenverstand strukturieren“ (12f). Oftmals gehe es dabei um die Identifizierung eines Gegners. Als solcher gelten, daran lassen die von Durand skizzierten verschiedenen Konfliktfelder keinen Zweifel, im Wesentlichen muslimische MigrantInnen und ihre Nachkommen.

Für die Laizismus-Debatte arbeitet die Verfasserin die problematische Tendenz heraus, Öffentlichkeit und Privatheit nicht als abstrakte, sondern als klar trennbare Sphären zu begreifen. Daraus resultiere die absurde Forderung, nicht nur den Staat, sondern auch den öffentlichen Raum dem Gebot der Trennung von der Religion zu unterwerfen. Mit dem Gesetz von 1905, das in Frankreich den Laizismus kodifiziert, sei es, anders als mit dem auf das Kopftuch muslimischer Frauen zielende gesetzliche Verbot „ostentativer religiöser Zeichen“ in Schulen von 2004, nicht darum gegangen, individuelle Verhaltensvorschriften festzuschreiben. Vielmehr sei Anfang des 20. Jahrhunderts die Abwehr des Einflusses der Kirche auf den Staat, nicht aber auf die Gesellschaft ein Anliegen gewesen. Laizismus sei daher nicht gleichbedeutend mit der Neutralisierung des öffentlichen Raumes. Zudem sei, ganz davon abgesehen, dass der Islam heute ohnehin nicht die gleiche Position wie die katholische Kirche im 19. Jahrhundert habe und außerdem kein Kampf für die Emanzipation des Staates von der Religion mehr geführt würde, das Gesetz ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlich verbriefte Meinungsfreiheit, die öffentliche Manifestationen von Ansichten, Glauben etc. schütze. Der von VerteidigerInnen des Gesetzes vertretenen Argumentation mit Frauenrechten hält Durand entgegen, dass die Betroffenen besser geschützt wären, wenn in den Fällen, in denen ihnen das Kopftuch aufgezwungen wird, nicht sie (mit Ausschluss vom Unterricht), sondern die tatsächlich Verantwortlichen, d.h. Väter, Ehemänner, Brüder etc. bestraft würden. Durch die geltende Gesetzgebung habe sich der Eindruck verfestigt, dass eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe stigmatisiert werden solle: migrantische Frauen. Schließlich arbeitet die Verfasserin heraus, dass das Kopftuch ein uneindeutiges Zeichen sei, das nicht auf religiös legitimierte Frauenunterdrückung reduziert werden, sondern auch als schlichte öffentliche Glaubensmanifestation gelesen werden könne. Problematisch sei, dass sich in den neorepublikanischen Diskursen die Mehrheitsgesellschaft anschicke, die Bedeutung des Kopftuches einseitig festlegen zu wollen.

An die Ausführungen zur Laizismus-Debatte schließt sich eine Auseinandersetzung mit dem neorepublikanischen Integrationsverständnis an. Dieses trage deutlich assimilatorische Züge, wie sie historisch in der französischen Republik zunächst an der sprachlichen Homogenisierung und der Unterdrückung regionaler Unterschiede zu studieren seien und nun MigrantInnen träfen. Als besonders problematisch vermerkt die Autorin, dass der neorepublikanische Diskurs es zugleich unmöglich mache, diese Assimilation zu denken, weil er die Republik als pluralistisch, laizistisch und blind gegenüber Differenzen darstelle. In der vielleicht politischsten Wendung von La nouvelle idéologie française plädiert Durand vor diesem Hintergrund für eine postnationale politische Gemeinschaftsbildung. Anders lasse sich der Widerspruch, dass die Republik eine universelle politische Form sei, die sich in einer partikularen Form, dem französischen Nationalstaat, verwirklicht habe, nicht auflösen. In diesem Zusammenhang weist Durand luzide die idealtypische Gegenüberstellung einer politisch und einer ethnisch definierten Nation im neorepublikanischen Diskurs zurück. Beide Nationstypen seien untrennbar miteinander verbunden, und die Vergabe von Staatsbürgerschaft sei weltweit mit Filiation begründet. Es variiere lediglich der Grad, in dem zusätzlich ius soli praktiziert werde – wobei Frankreich diesbezüglich derzeit eher restriktiv agiere. Durch die Gegenüberstellung von ethnos und demos entstehe folgendes Paradox: „Die republikanische Ideologie bekämpft den Glauben an biologische Kollektive erbittert (und zwar völlig zu Recht!). Aber in Ermangelung einer adäquateren Konzeption der anderen Kultur hat sie den Glauben an ‘kulturelle Essenzen’, der tatsächlich üblen historischen Beigeschmack hat, nicht wirklich aufgegeben.“ (119) Allgemein sei die neorepublikanische Ideologie gänzlich hilflos, wenn es darum gehe, „die kulturelle (historisch­kollektive) Dimension sozialer und politischer Phänomene“ in Rechnung zu stellen. Mit der Prämisse einer statischen Anthropologie sei sie „unfähig, vernünftig auf die faktische kulturelle Vielfalt der Gesellschaft zu reagieren“ (126). Diese Verweigerung ziehe die Stigmatisierung nicht-mehrheitlicher Kulturen als „primitiv“ nach sich. Mit dieser Position ist die Autorin nahe an der von Hugues Lagrange für Frankreich 2010 kritisierten sozialwissenschaftlichen und politischen Verleugnung der Bedeutung von Kulturen bei Migrationsbevölkerungen (Le déni des cultures, rez. in PERIPHERIE, Nr. 124: 534ff). Durand weist aber sehr viel deutlicher den pauschal gegenüber MigrantInnen und ihren Nachfahren erhobenen Vorwurf des communautarisme, d.h. einer sich aus der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe angeblich zwangsläufig ergebenden politischen Forderung nach spezifischen Rechten, zurück. Sie sieht darin eine diskursive Strategie, um nicht über soziale Marginalisierung, die ihrerseits gemeinschaftskonstituierend wirke, sprechen zu müssen. Die Beanspruchung der Zugehörigkeit zu einer Minderheit könne auch Teil einer politischen Strategie gegen Diskriminierung sein. Sie trachte danach, die Republik zu vertiefen. Im neorepublikanischen Diskurs werde aber jede Identitätsbekundung von Minderheiten als Angriff auf die Republik aufgefasst. Solche Ansichten verkennten, dass etwa die verstärkte Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungsgremien, auf die das französische Gesetz zur parité von 2000 ziele, nicht dazu beitrage, dass lediglich „Fraueninteressen“ vertreten würden. Vielmehr stehe in diesen Gremien sehr wohl das Allgemeininteresse im Vordergrund, es werde aber anders als bisher definiert – demokratisch, pluralistisch und durch Auseinandersetzungen, nicht monolithisch und etatistisch wie im neo­republikanischen Diskurs. Ganz ähnliche Argumentationen und Forderungen hat in Frankreich öffentlichkeitswirksam in der letzten Zeit u.a. der Historiker Pap Ndiaye in seinem 2008 erschienen Buch La condition noire vertreten (rez. in PERIPHERIE, Nr. 114/115: 383ff).

In den zwei weiteren Kapiteln vergleicht die Autorin den Neorepublikanismus mit Diskursen außerhalb Frankreichs, genauer: sie geht dem Vorwurf auf den Grund, der communautarisme sei durch die politische Philosophie des Kommunitarismus aus den USA importiert worden, und diskutiert das Konzept einer deutschen Leitkultur gegenüber dem der französischen identité nationale, die zuletzt zu Beginn des Jahres 2010 in einer großangelegten Kampagne propagiert wurde. So kann sie aufzeigen, dass Philosophen wie Michael Walzer und Charles Taylor eine Reflexion der notwendigen kulturellen Bezüge politischer Gemeinschaften leisten, über die der (neo-)republikanische Diskurs mit den genannten Konsequenzen hinweggehe. Demgegenüber fällt ihr Vergleich der Debatten in Deutschland und Frankreich ein wenig naiv aus. So bleibt unklar, warum Leitkultur allein durch den Umstand, dass sie „die Bescheidenheit besitzt, Normen und Gebräuche einer spezifischen Gesellschaft darzustellen“ (193), d.h. allein durch ihren Verzicht auf einen Universalitätsanspruch, eine demokratischere Konzeption sein soll. Hier navigiert die sonst mit großer herrschaftskritischer Sensibilität argumentierende Verfasserin in tendenziell herrschaftsaffirmativem Gewässer. Ganz ähnlich deutet sie ein anderes Mal die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags per Referendum 2005 als Ausdruck der ihrer Ansicht nach in Frankreich weitverbreiteten Vorstellung, die Nation sei „das letzte und unüberwindliche Stadium der politischen Organisation“ (100) – ganz so, als wäre damals schlicht über eine Rekonstruktion der politischen Gemeinschaft auf europäischer Ebene abgestimmt worden und als hätte der EU-Verfassungsvertrag nicht die Privatisierung des öffentlichen Dienstes, die Militarisierung der Außenpolitik usw. festzuschreiben versucht. Um dagegen Einwände zu erheben, muss man indes nicht die zu Recht kritisierte Vorstellung der Deckungsgleichheit von Republik und Nation teilen.

Im abschließenden Kapitel erinnert Durand daran, dass die Forderungen nach Schulkantinenessen ohne Schweinefleisch und ausschließlich für Frauen geöffneten Schwimmbädern nicht zwingend auf eine Umstrukturierung des Staates oder eine Zurückdrängung von Frauen aus dem öffentlichen Leben zielen, sondern oftmals lediglich den Respekt spezifischer kultureller Praktiken im Blick haben. In der Schlussfolgerung spitzt sie zu: „Einer der Hauptfehler der republikanischen Renaissance ist es, dem nationalen Ego ein verschobenes Bewusstsein seiner selbst geliefert zu haben. Das Recycling der republikanischen Tradition hat der französischen Gesellschaft ein schmeichelhaftes Spiegelbild, eine ruhmreiche Vergangenheit und eine ideale Projektion ihrer selbst verschafft. Dieses diskursive Unternehmen befördert einen konservativen, im Wortsinne reaktionären Konsens: Reaktion auf all die zeitgenössischen Ängste, heraufbeschworen durch die Globalisierung, die Präsenz des Islam im Herzen der Gesellschaft und die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft.“ (227)

La nouvelle idéologie française liefert eine plausible Analyse und Kritik aktueller Zugehörigkeitsdiskurse und nationaler Identitätsbildungsprozesse in Frankreich. Leider versäumt die Autorin, Ross und Reiter beim Namen zu nennen. So bleibt völlig unklar, welche gesellschaftlichen Gruppen sich in den letzten Jahrzehnten an der Konstruktion einer neorepublikanischen Ideologie beteiligt haben und wie diese aufgenommen bzw. plausibilisiert wurde. Dem Rezensenten scheint, dass sich hier ein genauerer Blick auf die frühen 1980er Jahre und das Entstehen des Kollektivakteurs „ImmigrantInnen der zweiten Generation“ bzw. die Reaktion auf diese Prozesse angeboten hätte (vgl. „25 Jahre ‘Marche des Beurs’: Kämpfe der Migration im Frankreich der 1980er Jahren und heute“, in PERIPHERIE, Nr. 114/115, S. 304-324).
Kolja Lindner

PERIPHERIE Nr. 128, 32. Jg. 2012, S. 516-520

 

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