Mohan Rao und Sarah Sexton (Hg.): Markets and Malthus. Population, Gender, and Health in Neo-liberal Times. Neu Delhi 2010. 350 S.

Sechzehn Jahre nach der Internationalen Konferenz zu Bevölkerung und Entwicklung 1994 in Kairo wagen Mohan Rao und Sarah Sexton mit ihrem Sammelband eine Rückschau auf die Prozesse, die sie in Gang gesetzt hat, und fragen, was sich seitdem im Bereich Bevölkerungspolitik und bezüglich des Versprechens getan hat, reproduktive Gesundheit und Rechte für alle zu gewährleisten. Das Anliegen einer Bestandsaufnahme ist begrüßenswert, ist es doch in herrschaftskritischen aktivistischen und akademischen Kreisen erstaunlich still um das Thema Bevölkerungspolitik geworden. Eine Kritik am Neo-Malthusianismus ist umso wichtiger, als in letzter Zeit – im Zeichen ökonomischer Krisen und des Anstiegs der Weltbevölkerung auf 7 Mrd. Menschen – wieder offener über explizit bevölkerungsregulierende Maßnahmen im globalen Süden diskutiert wird.

In dem Sammelband geht es vornehmlich um die Diskurse, die in „Kairo“ zusammenliefen, und um deren anschließende Verläufe, aber auch um quantitativ vorgehende Analysen bezüglich der Entwicklung von Gesundheitsindikatoren und -finanzierung. Unter die Lupe genommen werden internationale Aushandlungsprozesse und Diskursverschiebungen um „Kairo“, nationale Umsetzungsprogramme, die globale und lokale Arbeit von Frauenbewegungen sowie die NGOisierung der Bevölkerungspolitik. Das Buch bringt sowohl kontinentübergreifende als auch kontinentspezifische (Lateinamerika, Afrika) und länderspezifische Studien (Tansania, Uganda, Ägypten, Indien, China, USA). Europa bleibt gänzlich ausgespart, auch wenn nationale und EU-Debatten um Migration und Alterung der Gesellschaft sicherlich wichtige Erkenntnisse über das Zusammenspiel „qualitätsorientierter“ und „quantitätsorientierter“, anti- und pronatalistischer Bevölkerungspolitik hätte liefern können. Ein Großteil der versammelten Aufsätze erschien bereits in zwei Ausgaben des Indian Journal of Gender Studies (2006: Bd. 13, Nr. 2 und 2007: Bd. 14, Nr. 3), bei dem Herausgeber Rao als Beiratsmitglied fungiert. Darum sollen im Folgenden vor allem die noch nicht veröffentlichten Aufsätze im Mittelpunkt stehen.

In ihrem Beitrag „Redefining and Medicalizing Population Policies: NGOs and Their Innovative Contri­buations to the Post-Cairo Agenda“ macht sich Susanne Schultz daran zu ergründen, warum große Frauengesundheits-NGOs im Anschluss an „Kairo“ Menschenrechtsverletzungen bei Sterilisierungskampagnen in Peru nicht vehement kritisierten. Pragmatische Notwendigkeit oder Kooptierung durch das Bevölkerungs-Establishment seien dabei nicht erklärungsmächtig für ein Ende jeglicher Herrschaftskritik und die aktive Teilnahme an internationaler Bevölkerungspolitik seitens eines Großteils der Frauengesundheitsbewegung. Vielmehr sei diese Entwicklung als ein Ausdruck der Transformationen des hegemonialen internationalen Bevölkerungs-Projekts zu verstehen. In dieses konnten Frauengesundheits-NGOs ihre Konzepte wie reproduktive Rechte, reproduktive Gesundheit und Empowerment verankern, indem sie aktiv an der Schaffung einer neuen bevölkerungspolitischen Konstellation mitwirkten. Daraus resultierte ein Zusammenspiel von individuellen, (neo-)liberalen Körperpolitiken unter dem Credo von Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit mit Makro-Strategien der Bevölkerungsreduzierung. Um das biopolitische, antinatalistische Moment internationaler Post-Kairo-Bevölkerungspolitik zu verstehen, müssten unter anderem deren inhärenter Rassismus und die Ausblendung der Klassengegensätze analysiert werden. Denn sie bildeten die Grundlage, auf der überhaupt erst entschieden werde, welche Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen als überflüssig gelten. Theoretisch fundiert und empirisch gesättigt bestätigt Schultz’ Beitrag die Argumentationdes Überblicksartikels „A Decade and More after Cairo: Women’s Health in a Free Market Economy“ von Sarah Sexton und Sumati Nairs: Die Allianz zwischen konservativem Bevölkerungsestablishment und einem Großteil der Frauengesundheitsbewegung in Kairo habe im Kontext von Neoliberalisierung zu einer Verstetigung demographischer Zielsetzungen und der Aufweichung der ursprünglich radikalen feministischen Forderungen geführt. Schultz’ Beitrag zeigt beispielhaft, wie fruchtbar eine Verbindung von akteurszentrierten Analyseansätzen mit kritischer Staats- und Diskurstheorie ist, um die komplexen Transformationen internationaler Politik begreifbar und kritisierbar zu machen.

Die Umsetzung der in Kairo beschlossenen Grundsätze untersucht Lisa Ann Richey („Reproductive Health, Family Planning, and HIV/AIDS: Dangers of (Dis)Integration in Tanzania and Uganda“) anhand der jeweiligen Agenda zu reproduktiver Gesundheit und HIV/ Aids in Tansania* und Uganda. Stärker normativ, positivistisch und quantitativ argumentierend als Schultz kommt sie zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Politik zu reproduktiver Gesundheit, welche über Familienplanung hinausgeht und HIV/AIDS einbezieht, fundamental von der internationalen Agenda und von internationaler finanzieller Unterstützung abhängt. Deutlich stellt sie heraus, welche desaströsen Auswirkungen Strukturanpassungsmaßnahmen, ökonomische Krisen und die Schwerpunkte von so genannten Gebern in beiden Ländern hatten. Sie offenbart auch, wie es aufgrund von historischen Erfahrungen, distinkten Akteurskonstellationen und unterschiedlichen Agenden dazu kam, dass unterschiedliche Komponenten reproduktiver Gesundheit verschieden starke Aufmerksamkeit erhielten: In Tansania konzentrierte man sich vor allem auf eine Senkung der Fertilitätsraten, während in Uganda Kampagnen gegen die Verbreitung von HIV/AIDS die Agenda bestimmten. Es ist nicht nachvollziehbar bzw. bedauernswert, dass die Autorin die beiden Fälle abschließend nicht deutlich aufeinander bezieht und miteinander vergleicht, obwohl sie sie nach den gleichen Analysefragen untersucht. Zudem ist der Beitrag offenbar mit einigen Jahren Verzögerung erschienen, denn er ist nicht auf dem aktuellen Stand der Diskussion um die Integration von Programmen zu reproduktiver Gesundheit und HIV/AIDS.

Susan Greenhalgh analysiert in ihrem Beitrag „China’s Population Policies: Engendered Biopolitics, the One-child Norm, and Masculinization of Child Sex Ratios“ die produktiven, neue Orte der Auseinandersetzung und neue Subjekte hervorbringenden Seiten der Ein-Kind-Politik. In historischer Perspektive zeichnet sie die Transformationen von einer von Gewalt gekennzeichneten staatszentrierten zu einer zunehmend neoliberalen Biopolitik nach. Dabei zeigt sie die unterschiedliche Ausformung von Bevölkerungspolitik auf dem Land und in der Stadt auf: Während in den Dörfern Gewalt und Widerstand an der Tagesordnung waren und der Kinderwunsch sich erst durch langjährige Propaganda und wirtschaftliche Zwänge verringerte, war die Ein-Kind-Politik in den Städten seit den 1980er Jahren leichter durchzusetzen. Hier spielte vor allem die soziale Kontrolle eine größere Rolle. Die „Selbstführung“ der Subjekte setzte merklich früher ein. Mit der Stärkung einer auf „Qualität“ setzenden staatlichen Politik seit den 2000ern erblickten die „gute“, sich aufopfernde, rational handelnde Mutter sowie ihr diszipliniertes, konsumorientiertes „Qualitäts-Einzelkind“ das Licht der Welt. Diese bleiben aber „in einem Meer von bäuerlichem Leiden und weiblichem Opfer“ (326) eine städtische Ausnahmeerscheinung. Der Beitrag ist höchst informativ und anschaulich geschrieben. Es ist jedoch nicht ersichtlich, was er mit der Kairo-Konferenz zu tun hat, die er nur ein einziges Mal nebenbei erwähnt. Zudem lässt er einen Anti-Natalismus durchscheinen, der sich beispielsweise darin ausdrückt, dass er zwar die Durchführung von Bevölkerungspolitik in China kritisiert, aber die erreichte Verlangsamung des Bevölkerungswachstums positiv bewertet. Hier ist spürbar, dass die Autorin China-Spezialistin des Population Council war, der zu den Architekten des Kairo-Prozesses gehörte. Völlig unangemessen ist es, bei einem Land mit fast anderthalb Mrd. EinwohnerInnen fortwährend von einer homogenen Kultur zu sprechen.

Der Sammelband stellt eine reiche Fundgrube an Perspektiven auf bevölkerungspolitische Debatten und Interventionen vor, während und nach der Kairo-Konferenz dar. Dabei ist besonders erfreulich, dass dem der internationalen Bevölkerungspolitik inhärenten Ökonomismus große Aufmerksamkeit geschenkt wird. So wird hervorgehoben, dass (neo-)malthusianisches Denken und Handeln von Anbeginn der Verteidigung von Kapitalinteressen dienten. Insgesamt schafft es der Band, Auseinandersetzungen um Bevölkerung und Gesundheit zu repolitisieren und reproduktive Gesundheit von der Seite weltweiter Armut und globaler Ungleichheit her zu denken. Die meisten Beiträge stimmen darin überein, dass Kämpfe für reproduktive und sexuelle Gesundheit und Rechte letztlich immer an Grenzen stoßen, wenn sie innerhalb eines neo-malthusianischen Rahmens und neoliberaler Politikausrichtung verbleiben. Der Verlag SAGE kündigt das Buch als eine Aufsatzsammlung führender WissenschaftlerInnen aus der ganzen Welt an, welche zum ersten Mal an einem Ort zusammengeführt würden. Dies ist nur bedingt der Fall: Zum einen fehlen afrikanische und lateinamerikanische AutorInnen gänzlich, zum anderen war ein Großteil der Beiträge, wie bereits erwähnt, schon im Indian Journal for Gender Studies versammelt worden. Es wäre meines Erachtens redlich, dies, wenn schon nicht in der Ankündigung des Buches, so zumindest in der Einleitung zu erwähnen.
Daniel Bendix

Anmerkung
* Siehe zu Bevölkerungspolitik in Tansania auch Richeys Monographie, rezensiert in PERIPHERIE, Nr. 118/119, S. 371ff (2010).

PERIPHERIE Nr. 128, 32. Jg. 2012, S. 522-525