Heinz Peter Brogiato: "Wissen ist Macht - Geographisches Wissen ist Weltmacht". Die schulgeographischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum (1880-1945) unter besonderer Berücksichtigung des Geographischen Anzeigers. Teil 1: Textband: 656 S., Teil 2: Registerband: 474 S. Trier 1998 (Materialien zur Didaktik der Geographie, Heft 18).
Die vorliegende, bereits 1996 in Trier abgeschlossene Dissertation fügt sich in den Rahmen jener disziplinhistorischen Untersuchungen, die seit etwa 20 Jahren maßgebend zu einer historisch-kritischen Aufarbeitung der Geographiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beigetragen haben. Indem BROGIATO vornehmlich die auf die Schulerdkunde ausgerichteten Fachzeitschriften des Zeitraumes 1880 bis 1945 einer quantitativen Themen- und qualitativen Inhaltsanalyse unterwirft, verbindet er seine Ergebnisse mit den bereits vorliegenden Studien über die Geographie des Kaiserreiches und der NS-Zeit.
Hierzu trägt nicht zuletzt auch der in der gesamten Analyse konsequent beachtete institutionengeschichtliche Ansatz bei. In Verbindung mit ideengeschichtlichen und systemkritischen Argumentationssträngen ermöglicht dieser erstmalig eine sehr exakte Historiographie des "Verbandes deutscher Schulgeographen". Mit vornehmlich propädeutischer Funktion tritt daneben der personen- bzw. biographiegeschichtliche Ansatz, um Informationen über die Herausgeber und Mitarbeiter der Zeitschriften präsentieren zu können. Diese tragen wesentlich zum Verständnis konzeptioneller und inhaltlicher Veränderungen bei und lassen die jeweils agierenden Netzwerke transparenter erscheinen. Die von BROGIATO in die Gesamtargumentation eingebundenen und über das hervorragend angelegte Register auch einzeln fassbaren Kurzbiographien sind schon für sich genommen eine Fundgrube, die einschlägige Lexika weit übertrifft.
Der Zeitschriftenanalyse ist ein einführender Abriss über die "Entwicklung des Zeitschriftenwesens" vorangestellt, der durch kurze Überblicke über die Geschichte der relevanten Verlage abgerundet und mit der Frage nach dem "Beitrag des Verlagswesens" zur Entwicklung der geographischen Wissenschaft verknüpft wird. Zu den einleitend dargelegten institutionengeschichtlichen Rahmenbedingungen zählen auch die zusammenfassende Darstellung über die "Entwicklung der geographischen Wissenschaft an Hochschulen" und die Ausführungen über die "Geographischen Gesellschaften im Spiegel von Disziplingeschichte und Zeitgeist". In diesem Zusammenhang macht BROGIATO auf die in der disziplinhistorischen Forschung bislang unbeachtete Tatsache aufmerksam, dass die Institutionalisierung des Faches Geographie nach der Reichsgründung zunächst an den Hochschulstandorten erfolgte, an denen bereits durch private Vereine geographische Organisationsstrukturen geschaffen waren, die eine akademische Repräsentanz geradezu forderten. D. h. die Einrichtung geographischer Lehrstühle entsprach zwischen 1871 und 1874 dem Wunsch von Hochschulen und Fakultäten und erfolgte nicht aufgrund eines "politischen Octroi". Ein solcher kann in Preußen erst für die Zeit nach 1874 geltend gemacht werden. Es ist daher kein Zufall, dass in den Städten Bonn, Kiel, Marburg, Göttingen und Breslau Geographische Gesellschaften erst auf Betreiben der dorthin berufenen Ordinarien entstanden sind. Der "politische Octroi" zielte auf die vaterländische Erziehung der Jugend und sollte nicht einer Fundierung der expandierenden Außen- und Wirtschaftspolitik dienlich sein. Damit relativiert BROGIATO auch die These einer kausalen Beziehung zwischen der Akademisierung der Geographie und dem deutschen Kolonialismus. Folgt man seiner Argumentation, dann dürfte die 1880 einsetzende imperiale Kolonialbewegung allenfalls die planmäßige Einrichtung geographischer Lehrstühle in den süddeutschen Staaten sowie in Preußen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begünstigt haben. Abschließend lässt sich diese Frage nur nach gründlicher Sichtung entsprechender Archivquellen klären.
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen jedoch die Zeitschriften und deren Inhalte, insbesondere der Geographische Anzeiger. Die übersichtlich strukturierten und sehr sorgfältig durchgeführten Analysen waren nur möglich, weil der Verfasser die z. T. sehr umfangreichen Verlagsarchive sichtete und weitere archivalische Bestände ertmals erschließen konnte. Zweifelsohne ist das Archiv der Gothaer Verlagsanstalt Justus Perthes eines der bedeutendsten geographischen Spezialarchive Deutschlands. Ganz unbeschadet hat aber auch dieses Archiv "Säuberungen" der Jahre nach 1933 und 1945 nicht überstanden. So fehlen beispielsweise wichtige Gegenakten zur Korrespondenz mit C. Troll oder S. Hedin aus den Jahren 1938 bis 1945. Auch wird der Einfluss der Zensur auf "Petermanns Mitteilungen" unterschätzt, wenn BROGIATO konstatiert: "In erstaunlichem Maße konnten Creutzburg und Hannemann der Zeitschrift Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit bis zu deren letzter Nummer im März 1945 bewahren. Nicht unwichtig dürfte dabei gewesen sein, dass ,Petermanns Mitteilungen' als Aushängeschild der deutschen Geographie ein großes Ansehen im Ausland genossen und den Zensoren in der Reichsschrifttumskammer nichts an einer Qualitätsminderung gelegen sein konnte" (S. 101). Es gibt durchaus Belege für massive Eingriffe des Propagandaministeriums bis in den fertigen Satz, die u. a. in Heften der Jahrgänge 1943 bis 1945 noch heute an den überklebten Textpassagen leicht erkennbar sind. Darüber hinaus geht aus Briefen des Verlegers an C. Troll hervor, dass der Verlag im Hinblick auf die Sicherung seiner Existenz großen Wert auf eine Druck- und Auslieferungsgenehmigung seitens der Zensurbehörden legte, die ihrerseits z. T. sehr restriktive Themenvorgaben gemacht hatten. Für die inhalts-analytische Untersuchung wurden insgesamt 6075 Titel folgender Zeitschriften aufbereitet und im 2. Band der Arbeit bibliographisch dokumentiert: Zeitschrift für Schul-Geographie, Geographischer Anzeiger, Vierteljahrshefte für den geographischen Unterricht, Kartographische und schulgeographische Zeitschrift, Geographische Wochenschrift, Zeitschrift für Erdkunde. BROGIATOs Analyse hat im Vergleich zu anderen Arbeiten den Vorteil, dass die kategoriale Zuordnung der Titel (vgl. S. 113-118) eindeutig und anhand des Registerbandes jederzeit überprüfbar ist. Positiv hebt sich die vorliegende Untersuchung auch noch durch die detaillierte Erfassung der Berufsfelder von Autoren und Herausgebern von vergleichbaren älteren Arbeiten ab.
Der Geographische Anzeiger, 1899 als ein durch kurze Textbeiträge erweitertes Anzeigenblatt des Perthes-Verlags erstmals erschienen, ließ in den ersten Jahrgängen weder eine unterrichtsbezogene Zielsetzung noch eine thematische Strukturierung erkennen. Politische Ereignisse standen jedoch schon seit Beginn stärker im Vordergrund als in anderen geographischen Zeitschriften. Nach der Jahrhundertwende entwickelte sich die Zeitschrift mehr und mehr zu einem Forum der Lehrplandiskussion und Auseinandersetzung um die methodische Ausgestaltung des Geographieunterrichtes, die sich für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg mit den Begriffen ,Heimatkunde' und ,nationale Erdkunde' beschreiben lässt. Nach dieser thematischen Zentrierung war es konsequent, dass Haack seinen Aufruf zur Gründung des Verbandes deutscher Schulgeographen 1911 im Geographischen Anzeiger mit den Worten "Wissen ist Macht - geographisches Wissen ist Weltmacht!" einleitete. Die Eindringlichkeit, mit der die Geographie hier als ,nationales Bildungsfach' hervorgehoben wurde, bestimmte die verbands- und schulpolitische Argumentation in der ab 1912 als Verbandsorgan geführten Zeitschrift bis zur Diskussion um den Oberstufenunterricht in den 20er Jahren. BROGIATO zeigt, dass nach dem Ersten Weltkrieg keine Umorientierung geographischer Lehrinhalte erforderlich wurde und sich die ,Kriegsgeographie' zwanglos in die ,Staatsbürgerkunde' integrieren ließ. Schließlich entsprach auch "die Einbindung des Erdkundeunterrichts in das nationale und deutschvölkische Bildungsideal der Deutschkunde [...] der geographischen Grundforderung nach einer Politisierung der Erdkunde" (S. 465f). Da Geopolitik, Deutschtum und Rassenkunde bereits 1925 dem Erdkundeunterricht zugewiesen worden waren, wundert es nicht, dass die ,nationale Revolution' 1933 ausdrücklich begrüßt wurde und sich Fachvertreter geradezu drängelten, gegenüber den neuen Herren Loyalitätserklärungen abzugeben. Die von BROGIATO angeführten Belegzitate entstammen überwiegend der erst 1933 begründeten Geographischen Wochenschrift. In diesem Zusammenhang verweist er u. a. auch auf Passarges Beitrag "Geographie und nationale Erziehung" (GW 1933, 961-1000), erwähnt jedoch nicht dessen abschließende Feststellung zum Thema "Unterricht in Politischer Geographie": "Nationalsozialismus und Judentum sind nebeneinander nicht denkbar [bis hierher im Original gesperrt, H.B.], es sei denn, dass das Judentum zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Nationalsozialismus bedeutet Kampf gegen die Sartoidisierung - Kampf mit allen Mitteln gegen die Verelendung ganzer breiter Volksschichten. Hier kann man den Genius unseres großen Hitlers in das hellste Licht setzen" (996). Als Passarge diese antisemitischen, in ihren Konsequenzen 1933 durchaus erkennbaren, Ausführungen niederschrieb, war er nicht nur ein unter den Schulgeographen geschätzter Hochschullehrer sondern auch noch ,Reichsobmann für Geographie im Nationalsozialistischen Lehrerbund' (NSLB), dem sich der Verband deutscher Schulgeographen im November 1933 einmütig angeschlossen hatte. BROGIATO erörtert den Prozess der institutionellen Gleichschaltung ebenso ausführlich und differenzierend wie die Funktion des Geographischen Anzeigers als "Organ der Sachgruppe Erdkunde im NSLB"
(S. 475ff). Das abschließende, nicht nur für den vorliegenden Kontext, sondern auch für die Beurteilung und Bewertung von Zeitschrifteninhalten der NS-Zeit im Allgemeinen bedeutende Kapitel befasst sich mit dem ,Spagat' zwischen Zen-
sur, Selbstzensur und Anpassung. Wie BROGIATO ausdrücklich betont, basieren seine diesbezüglichen Ausführungen auf einem sehr lückenhaften Quellenmaterial, das zumindest den Umfang und die Qualität fachexterner Steuerung erkennen lässt.
Retrospektiv beschrieb Haack seine Herausgebertätigkeit während der NS-Diktatur ähnlich wie Schmitthenner für die Geographische Zeitschrift und Troll für die Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin als "Drahtseilakt zwischen Redaktionssessel und KZ-Pritsche" (S. 527). Mit BROGIATO muss diese subjektive Einschätzung sehr differenziert gewertet werden, pauschaliert sie doch den Grad möglicher Handlungsspielräume zu sehr und klammert die Frage nach der persönlichen Verantwortlichkeit aus.
Wer die Arbeit von BROGIATO angesichts des 2. Bandes nur als ein willkommenes, weil bis dato nicht vorhandenes bibliographisches Hilfsmittel verwendet und liest, wird der hervorragenden wissenschaftlichen Leistung des Autors nur zu einem geringen Teil gerecht.
Autor: Hans Böhm