Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Frankfurt/M. 2000 (Edition Zweite Moderne). 279 S.

Für die Politische Geographie im mundialen Maßstab ist dies einer der wichtigsten Grundlagentexte seit langem. Mary Kaldor legt eine bahnbrechende zusammenfassende Analyse jener neuen Konfliktsituationen und Kriege vor, die in vielen Teilen der Welt Angst und Schrecken unter den Betroffenen auslösen und die Öffentlichkeit und Politiker zu ratlosen Beobachtern machen. Ruanda, das ehemalige Jugoslawien (in einer besonders ausführlichen Fallstudie), Sierra Leone, Sudan: Im Einklang mit Sven Lindqvists aufrüttelndem Afrika-Bericht und anders als neoliberale Bestsellerautoren wie etwa David Landes, scheut Mary Kaldor nicht den Blick tief hinein ins Herz der Finsternis unserer globalen Moderne.

Neue Kriege sind für Kaldor Ausdruck einer globalisierten Kriegswirtschaft. Sie zeichnen sich außerdem dadurch aus, dass es politisch zumeist "um Machtansprüche auf der Basis scheinbar traditioneller Identitäten (Nation, Stamm, Religion)" geht. Kriminelle Gruppen schüren ein "menschliches Raubtierverhalten", das unter anderem zur Bildung neuer Netze regressiver Sozialbeziehungen führt. Man sieht schon an diesen Zitaten, dass der Text für Geographen auch aus methodologischer Sicht wichtig und interessant ist. Wie viele andere Autorinnen und Autoren betreibt Mary Kaldor Geographie, ohne dies zu sagen und ohne das Fach ein einziges Mal zu erwähnen. Einmal mehr bewährt sich Geographie als analytisch tragfähige Perspektive. Drei Beispiele dafür. (1) Einen Grundkonflikt fast aller modernen Kriege sieht Kaldor in der wachsenden kulturellen Diskrepanz zwischen "Globalen" und "Ortsgebundenen"; die zunehmend unterschiedlichere räumliche Ver- und Entankerung sozialer Gruppen bietet den Kriegstreibern immer neue Ansatzpunkte für das Schüren von Konflikten. (2) Den Niedergang lokaler und regionaler Ökonomien in Kriegs- und Konfliktgebieten erläutert Kaldor mittels einer präzisen Analyse von räumlichen Verflechtungen aller Art (besonders anschaulich: die Graphik 5.1 mit dem erläuternden Text). (3) Ebenso kenntnisreich wie schonungslos beschreibt Kaldor, wie erfindungsreich die Akteure der neuen Kriege auf der lokalen und regionalen Ebene sind, wenn es darum geht, Räume für ihre Zwekke zu organisieren und herzurichten: durch die Abriegelung von Lebensräumen, durch die Beseitigung von symbolhaltigen Artefakten (siehe Afghanistan Ende Februar 2001!), durch ethnische Säuberungen (siehe den Dayak-Maduresen-Konflikt in Kalimantan/Indonesien im Februar 2001); durch kriminelles Eintreiben von Schutzgeldern u.v.a.m. Solche Praktiken der Raum(un)ordnung dienen vielfach der persönlichen Bereicherung, sie können beispielsweise Bestandteile eines "Verkaufsspiels" sein, bei dem Regierungstruppen den Rebellen Waffen, Munition und Land überlassen, um "Gegenden in dauerhafter Instabilität und Unsicherheit zu halten". Das alles vollzieht sich an vielen Stellen der Erde in gefahrenträchtigen Schattenreichen, die sich der sozialwissenschaftlichen Analyse nicht leicht erschließen. Raub, Plünderung, Erpressung, Vergewaltigung, Geiselnahme: Was dort an Barbarei zum Vorschein kommt, ist voller Grauen. Aber nicht nur Politiker, auch Wissenschaftler werden diese Grauenhaftigkeiten aushalten müssen, wenn sie die heute Globalität der Welt realistisch beschreiben, besser verstehen und in eine weniger gewalttätige Zukunft führen wollen. Hier hat Mary Kaldor Pionierarbeit geleistet und Standards gesetzt.
In ihren praktischen Schlussfolgerungen votiert Mary Kaldor, auf Kants Vorstellungen von einem Weltbürgerrecht fußend, für eine offensive Politik des Kosmopolitismus, der "Toleranz, Multikulturalismus, Zivilität und Demokratie einbegreift". Sie setzt diese Position sehr explizit ab sowohl von Samuel Huntingtons Strategie einer "Block-Mobilisierung auf der Basis exklusiver Identitäten" als auch von dem gesellschaftstheoretisch begründeten Pessimismus eines Zygmunt Bauman oder Norbert Elias. Als empirische Grundlage ihres aufmunternden Votums dienen die kleinen "Inseln der Zivilität", die sie in vielen Konfliktgebieten glaubt ausmachen zu können. Diese geradezu verbissen optimistische Grundhaltung verdient allen Respekt. Ob sie angesichts aktueller Weltentwicklungen, wie sie fast täglich zu verfolgen sind, gerechtfertigt und realistisch ist, wird sich zeigen müssen.
Literatur
Landes, David 1999: Wohlstand und Armut der Nationen. Berlin.
Lindqvist, Sven 1999: Durch das Herz der Finsternis. Frankfurt/M., New York.
Autor: Heiner Dürr

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 2, S. 95-97