Stefan Schmitz: Revolutionen der Erreichbarkeit. Gesellschaft, Raum und Verkehr im Wandel. Opladen 2001 (Stadtforschung aktuell 83). 320 S.
Seit der Erfindung und massenhaften Anwendung des Internet ist auch die (alte) Frage nach den räumlichen Implikationen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wieder auf die Tagesordnung gerückt. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre hat es, parallel zur wachsenden Popularisierung des Internets und mit dem Boom der neuen Ökonomie, dazu eine regelrechte Inflation einschlägiger Publikationen, Hypothesen und Metaphern gegeben. Das Spektrum reichte von "Telepolis" und "City of Bits" über das "Ende der Geographie" bis hin zum vermeintlichen "Death of Distance". Aus heutiger Sicht muten die meisten dieser Szenarien, die eine umfassende Virtualisierung von Ökonomie und Lebenswelten vorhersagten, geradezu totalitär an.
Manchmal genügte auch ein Effekt heischender Buchtitel, um seine Urheber zu Apologeten einer Auflösung alles Räumlichen zu machen, wie dies im Falle von Frances Cairncross ("The Death of Distance") zu beobachten war. Hinter solchen Etiketten geht dann schnell jede Differenzierung verloren. Dies gilt auch für das genannte Beispiel: die Autorin hatte sich zu räumlich-geographischen Tatbeständen nur sehr begrenzt und dann eher differenziert geäußert, so dass sie sich im Grunde nicht als Kronzeugin des unterstellten Wandels eignet.
Dass die Einschätzungen des technologischen Wandels und seiner Konsequenzen in jüngster Zeit vorsichtiger erfolgen, ist sowohl dem verminderten Wachstumstempo von Internetökonomie und Online-Transaktionen als auch der komplizierten Einbettung dieser Nutzungen in raumwirtschaftliche Zusammenhänge geschuldet. Auch rasende gesellschaftliche Trends brauchen offensichtlich eine gewisse Karenzzeit. Erst im Zuge ihres Reifeprozesses, der sowohl Konsolidierung bzw. Verstetigung als auch Abflachen beinhalten kann, lassen sich herbeigeredete Veränderungen von solchen unterscheiden, die eher substanziell und damit längerfristig bedeutend sein dürften. Im Rückblick wird auch deutlich, dass das Feld der raum-zeitlichen Interaktionen sehr vielschichtig ist und sich gegen eine schnelle Analyse in den Kategorien von "Effekten" oder "Auswirkungen" durchaus sperrt. Dies gilt erst recht für die Frage nach seiner wohin auch immer gerichteten Steuerung.
Nach dem Verdampfen eines Gutteils der Neuen Ökonomie bietet sich insofern ein von Hypes und Moden bereinigter Blick auf den materiellen Strukturwandel, der hinter diesen Entwicklungen steht. Ein solcher Blick auf Hintergründe und Zusammenhänge steht auch im Zentrum des vorliegenden Buchs. Es zeichnet den Wirkungszusammenhang von neuen Technologien, Gesellschafts- und Raumentwicklung am Beispiel der Themenfelder Mobilität und Verkehr nach. Die neuen Technologien stehen dabei nicht unbedingt im Mittelpunkt, sondern bilden eines von fünf Hauptkapiteln, in denen sie jedoch implizit immer wieder aufgerufen werden. Die anderen Kapitel dienen hier als Folie für eine Analyse der Wechselbeziehungen von technologischem Wandel, Raumentwicklung und Raumüberwindung. Die Entstehungsgeschichte des Buchs fällt, man möchte sagen "ironically", noch in die Zeit vor dem Höhepunkt des Internettaumels der Jahre 1998-2000. Insofern ist es auch weniger anfällig gegenüber vielen schnell formulierten Zeitdiagnosen in Richtung "Auflösung" von Stadt und Raum als Folge des technologischen Wandels.
Das Buch bietet in seiner soliden, nüchtern gehaltenen Argumentationsweise Gelegenheit zur distanzierten Betrachtung dieser Zusammenhänge. Es geht dabei nicht vom 'technical fix' aus, unterstellt also keine Alles überragende Rolle neuer Technologien, sondern bettet den technologischen Wandel umfassend in seinen historischen Kontext und in seine sozialen und ökonomischen (also gesellschaftlichen) Randbedingungen ein. Es thematisiert den Wandel der Erreichbarkeitsverhältnisse unter ausdrücklicher Verbindung von Informationsübertragung und physischem Verkehr, argumentiert also weder in die eine noch in die andere Richtung einseitig oder überhöhend. Schließlich kommt ihm auch zu Gute, dass der Autor sich einer breiten empirischen Basis und fundierter Kenntnisse von Stadt- und Raumentwicklung bedient, also auch nicht dort spekulieren muss, wo sich der Korridor zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten durchaus eingrenzen lässt.
Trotz aller spekulativen Disziplin ist eine der zentralen Thesen des Buches, dass die technologischen Innovationen nicht mehr nur eine graduelle Weiterentwicklung der Industriegesellschaft bewirken, sondern mit der Entstehung der Informationsgesellschaft einen prinzipiellen Wendepunkt markieren. Die wachsende Emanzipation von Raum- und Standortbindungen durch die vielseitig eingesetzten IuK-Technologien setzt neue Rahmenbedingungen für die Raumentwicklung, wie insbesondere am Beispiel der Hochgeschwindigkeitsnetze und der weltumspannenden ökonomischen Verflechtungen deutlich gemacht wird. Dies heißt jedoch nicht, dass Kategorien wie Raum oder Geographie in der Informationsgesellschaft keine Rolle mehr spielen würden: sie werden unter den neuen Bedingungen allerdings anders ausgefüllt als vorher.
Die Konsequenzen dieser Informationsgesellschaft werden mit Blick auf räumliche Mobilität und Verkehr als umfassende Reorganisation der Erreichbarkeitsverhältnisse interpretiert. Gesunkenen Raumwiderständen und gedehnten Aktionsräumen einerseits stehen neue Potenziale zur raumnahen Verdichtung von Kommunikation andererseits gegenüber. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Wirkungskomplexe, das sich in einer zunehmend polarisierten Raumentwicklung äußert, erklärt Schmitz die anhaltend starke Zunahme von Personen- und Güterverkehr über die vergangenen Dekaden. Anhand ausgewählter Beispielfelder werden einige Teilkomplexe vertiefend dargestellt, die für diese Wirkungsketten als repräsentativ angesehen werden können. Dazu gehört etwa die Anwendung der neuen Produktions- und Distributionstechnologien im betrieblichen Rahmen, die das System der Warenproduktion und -verteilung in der Vergangenheit sukzessive verändert haben - und zwar schon lange vor dem Aufstieg des Internets. Im Bereich der Personenmobilität löst sich die Darstellung recht weit vom technologischen Kontext und betont stärker die siedlungsstrukturellen Kulissen, in denen sich neue Mobilitätsmöglichkeiten und individuelle Nachfrage zu einer zunehmend fragmentierten Stadtlandschaft ausformen.
Aus Sicht des Autors, der sich mit persönlichen Wertungen sehr zurück hält, bringt diese Reorganisation sowohl Risiken als auch Chancen für das Ziel einer nachhaltigen Raumentwicklung mit sich. Unter ceteris paribus-Bedingungen vor allem bezüglich der Entwicklung von sinkenden Transportpreisen, ausdifferenzierten Mobilitätsleitbildern und räumlicher Expansion (Globalisierung) diskutiert Schmitz die Aussichten für Letzteres zu Recht sehr kritisch. Während die reine Organisation und Abwicklung von räumlicher Mobilität durch IuK-Technologien weiter verbessert und erleichtert werden dürfte, lässt ihre Anwendung im sozio-kulturellen Kontext keine großen Pendelausschläge in diese oder jene Richtung erwarten, also verspricht nach dem derzeitigen Stand der Dinge weder übermäßige Verkehrseinsparungen noch starke Effekte in die Gegenrichtung. Es könnte eher sein, dass sie diejenigen Tendenzen unterstützen, die gegenwärtig ohnehin ablaufen: ein emergentes Nebeneinander von global und lokal, das zunehmend in das Alltagshandeln diffundiert. Mit mehr Information und Kommunikation lassen sich nicht per se Probleme lösen, werden aber auch nicht zwangsläufig neue generiert.
Nach dem Lesen dieser Schrift kann man erstens den Eindruck gewinnen, dass die Neuerfindung der Welt auch in der Informationsgesellschaft zumindest vorläufig noch auf sich warten lässt. Allerdings laufen, dies wäre eine zweite Quintessenz, unter ihrer Oberfläche durchaus dynamische Veränderungen ab, die weit reichende Konsequenzen haben dürften. Dass dies von der Terminologie her eher für eine evolutorische denn revolutionäre Bewertung dieses Wandels spricht, sei nur am Rande angemerkt. Das Buch ist als Lehrbuch für Studierende der Geographie entstanden, dürfte aber auch für nicht-akademische Zwecke mit Gewinn gelesen werden.
Literatur
Cairncross, F. 1997: The Death of Distance. How the Communication Revolution Will Change Our Lives. Boston, MA.
Autor: Markus Hesse