Peter Weichhart, Heinz Fassmann, Wolfgang Hesina: Zentralität und Raumentwicklung. Wien 2005 (ÖROK-Schriftenreihe 167). 167 S.

Nach Publikation der Ergebnisse des Arbeitskreises „Fortentwicklung des Zentrale-Orte-Konzepts“ der Akademie für Raumforschung und Landesplanung ist nun auch für Österreich der Versuch unternommen worden, die als überholt kritisierte Theorie und Politik zentraler Orte zu reformieren. Im Auftrag der Österreichischen Raumordnungskonferenz sollte geklärt werden, ob das System zentraler Orte heute noch eine sinnvolle Grundlage zur Erklärung und Steuerung von Marktprozessen darstellt, ob Zentralität und regionalwirtschaftliche Entwicklung zu einem gemeinsamen Raumordnungskonzept verbunden werden können und wie dessen Umsetzung in der Praxis aussehen könnte. Eine Steuerungsgruppe, bestehend aus Vertretern von Bundes- und Landesbehörden sowie der Wirtschafts- und Sozialpartner, sollte die Praxisnähe der Projektarbeit gewährleisten.

Da ein zentraler Ort nicht nur Versorgungsmittelpunkt, sondern auch Entwicklungszentrum für die Region sein soll, wurde der Katalog zentraler Funktionen um Wirtschafts- und Verwaltungsdienste erweitert. Die heute verbreitete Mehrfachorientierung beim Einkaufen wird auf „Transaktionsnutzen“ zurückgeführt, der aus der Besorgungskopplung erwächst (Kap. 2). Doch bleibt offen, welche Konsequenzen sich daraus für die Angebotsstandorte und die Hierarchie zentraler Orte ergeben. Der Gedanke, die Veränderlichkeit der Reichweite zentraler Funktionen mit Hilfe von Theorien des wirtschaftlichen und sozialen Wandels zu „erklären“, ist zunächst bestechend, trägt jedoch nicht dazu bei, die Verhaltensgrundlagen der Zentrale-Orte-Theorie zu verbessern (Kap. 3). Das gilt auch für den späteren Versuch, das Zentralitätskonzept mit Theorien bzw. Konzepten der Raumentwicklung zu einem umfassenden Erklärungs- und Handlungsrahmen für die Stadt- und Regionalentwicklung zu verknüpfen (Kap. 7). Da es in Österreich keine Raumordnungskompetenz des Bundes gibt, weisen die Rechts- und Planungsdokumente der Länder erhebliche begriffliche und instrumentelle Unterschiede bezüglich des Zentrale-Orte-Konzepts auf (Kap. 4). Einer Delphi-Studie zur Erfassung der Problemsicht von Experten der Raumordnungspraxis kommt daher besondere Bedeutung zu (Kap. 5). Steuerungs- und Entwicklungsziele weisen danach einen höheren Stellenwert auf als die herkömmliche Versorgungsfunktion zentraler Orte, doch wird die Raumwirksamkeit des Konzepts als nur mäßig eingeschätzt. Für dringend erforderlich halten die Experten eine Anpassung des Instrumentariums an die Dynamik der Standort- und Siedlungsentwicklung. Ein weiteres Kernstück der vorliegenden Untersuchung stellt die Analyse der Standortmuster ausgewählter Akteure des Zentralitätsprozesses dar (Kap. 6). Während die Verteilung öffentlicher Dienste weitgehend der zentralörtlichen Gliederung folgt, weichen Filialnetze großer Handelsunternehmen (Super- und Fachmärkte) in charakteristischer Weise davon ab. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Anwendung des Zentrale-Orte-Konzepts. Empfehlungen für die künftige Zentralitätspolitik in Österreich beschließen die Publikation (Kap. 8).Wie zuvor in Deutschland bekennen sich die Verfasser zu einem modernisierten Zentralitätskonzept – mit umfassender Leitbild- und Steuerungsfunktion für eine nachhaltige Siedlungs- und Raumentwicklung und als Grundlage für regionale Einzelhandelskonzepte. „Die Frage lautet nicht ‚Brauchen wir Zentrale Orte?‘, denn wir haben sie, ob wir sie wollen oder nicht“ (S. 136). Das ist jedoch ein Missverständnis: Zentrale Orte sind keine Entität, sondern ein theoretisches Konstrukt, dessen empirische und planerische Relevanz zur Disposition steht. Da die Bundesländer in Österreich zentrale Orte in ganz unterschiedlicher Weise anwenden, wären die Voraussetzungen für vergleichende Untersuchungen günstiger als in Deutschland gewesen. Kritische Veröffentlichungen zur Theorie und Empirie zentraler Orte wären stärker in den Blick geraten, wenn der erwähnte Berichtsband der ARL nicht so stark im Vordergrund gestanden hätte. Dessen ungeachtet ist die Studie höchst lesenswert, enthält sie doch eine Fülle theoretischer und konzeptioneller Erweiterungen des klassischen Ansatzes, die fachlich souverän und sprachlich brillant präsentiert werden.

Autor: Jürgen Deiters

Quelle: Die Erde, 139. Jahrgang, 2008, Heft 1/2, S. 123