Dieter Böhn
Das vermittelte Bild: die Wirtschaftsmacht China im Unterricht
China im Geographieunterricht, untersucht am Beispiel der Darstellung in Schulbüchern
Schulbücher als Grundlage
Eine Analyse von Schulbüchern bietet eine sehr gute Möglichkeit zu ermitteln, was Schülerinnen und Schüler über ein Thema erfahren. Denn Schulbücher setzen die Vorgaben der Lehr- und Bildungspläne um, sie sind durch die Kultusministerien der einzelnen Länder genehmigt und sie gelten in der Praxis oft als "heimliche Lehrpläne". Zwar hält sich der konkrete Unterricht vielfach nicht an die Abfolge der einzelnen Themen, doch werden oftmals Texte, Grafiken, Tabellen und Bilder herangezogen, um in einem handlungsorientierten Unterricht die vorgegebenen Lernziele und Kompetenzen zu erreichen.
Für diesen Beitrag wurden 32 Geographie-Schulbücher aus 15 Bundesländern der Schularten Gesamtschule, Mittelschule, Realschule und vor allem Gymnasium untersucht. Die Schulbücher erschienen in den Jahren 2006 bis 2011. Diesen größeren Zeitraum zu wählen, ist sinnvoll, weil in Deutschland wegen des kostenlosen Ausleihsystems die Schulbücher mehrere Jahre hindurch verwendet werden.
Ziel dieses Beitrags ist keine umfassende Analyse der jeweiligen Ausgaben oder eine qualitative wie quantitative Zusammenstellung von Fundstellen aus den untersuchten Büchern, denn dies würde ein Vielfaches des zur Verfügung stehenden Raumes beanspruchen. Vielmehr ist das Ziel eine zusammenfassende Darstellung der Inhalte, die über China vermittelt werden, verbunden mit einer kritischen Bewertung.
Die Analyse der Schulbücher wird durch Vorschläge ergänzt, wie neuere Entwicklungen oder eine differenziertere Sicht die Aussagen der Bücher ergänzen können.
Die Behandlung Chinas im Geographieunterricht
Die geographische Analyse und Darstellung von Erdräumen hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte mehrfach gewandelt. Ursache sind sich ändernde pädagogisch-methodische Zielsetzungen, die sich auf Inhalte und Methoden auswirken. Sie betreffen alle Fächer und haben vereinfacht formuliert das Ziel, weniger das anzustrebende Wissen zu vermitteln als die Fähigkeit zu fördern, sich selbst Wissen zu verschaffen.
Inhaltliche Vorgaben
Bis in die 1970er Jahre war das primäre Ziel des Geographieunterrichts die Vermittlung von Wissen über möglichst viele Länder der Erde. Seitdem hat sich die Zielsetzung des Unterrichts gewandelt: nicht mehr das Wissen ist eigentliches Ziel, sondern Kompetenzen, welche die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen. Die 2006 erschienenen "Bildungsstandards im Fach Geographie" nannten als Kompetenzen für den regionalgeographischen Bereich: "Fähigkeit, Räume unterschiedlicher Art und Größe unter bestimmten Fragestellungen zu analysieren" (Bildungsstandards, 2006, S. 15). Es besteht Konsens darüber, bestimmte Staaten wie Deutschland, die USA und auch China im Unterricht zu behandeln. Die Darstellung zielt nun aber nicht mehr auf eine möglichst umfassende Beschreibung des Landes, sondern es erfolgt eine Beschränkung auf ausgewählte Themen wie Naturbedingungen, ökonomische und soziale Strukturen und Prozesse.
China wird im Unterricht behandelt - das ergab eine quantitative Analyse der Schulbücher -, weil es als globale Wirtschaftsmacht Einfluss auf das gegenwärtige und zukünftige Leben der Schülerinnen und Schüler hat.
Methodische Aspekte
Nach der gegenwärtig von pädagogischer Seite geforderten konstruktivistischen Didaktik sollen sich Schülerinnen und Schüler ihr Wissen möglichst selbständig erarbeiten. Das bedeutet, dass Ergebnisse nicht vorgegeben werden, sondern lediglich Material für die Gewinnung eigenständiger Erkenntnisse. Schulbücher tragen dieser Forderung Rechnung, indem sie Bilder, Grafiken, statistische Daten und Originalquellen bereitstellen. Allerdings muss man sich klar sein, dass allein durch die Vorgabe der Materialien eine Lenkung der Meinungen erfolgt. Das gilt selbst dann, wenn die Schulbücher umfangreiche Texte, Grafiken und Bilder mit unterschiedlichen Aussagen bieten oder durch einen bewussten Perspektivenwechsel Gegensätze aufzeigen (vgl. Darstellung des Drei-Schluchten-Damms). Vielfach ist es zudem so, dass bestimmte Fakten als durchaus zutreffend gelten können, etwa Angaben über die sozialen Verhältnisse der Wanderarbeiter. Mit anderen Worten: Das Schulbuch soll Ergebnisse der Forschung aufzeigen, die als "richtig" akzeptiert werden können.
Das bedeutet: Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und auch Eltern verlangen vom Unterricht vielfach die Sicherheit, dass die Erkenntnisse aus der Bearbeitung eines Themas "richtig" sind. Die Schulbücher kommen dieser Forderung nach, indem sie konkrete Feststellungen liefern. Dabei geschehen jedoch auch Wertungen, sie werden meist nicht explizit formuliert, sondern ergeben sich indirekt aus dem Text.
Akzente der Behandlung Chinas
China wird meist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kapitelüberschriften verdeutlichen den Schwerpunkt: "China - Land im Aufbruch"; "China - ein aufstrebender Gigant"; "China - aufstrebende Wirtschaftsmacht im asiatisch-pazifischen Raum"; "China - Auf dem Wege zur Weltwirtschaftsmacht"; "China auf dem Wege zur Weltmacht". China wird demnach vorwiegend unter ökonomischem Blickwinkel in globaler Perspektive behandelt. Dabei wird das Land noch nicht als Weltwirtschaftsmacht gesehen, es befinde sich erst auf dem Weg dorthin.
Diese Formulierungen zeigen, dass Darstellungen in Schulbüchern ergänzt werden müssen, wenn sie nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen. Das gilt vor allem dann, wenn dadurch das behandelte Thema noch an Bedeutung gewinnt. Nachfolgend werden einige Daten aufgeführt, die sich im Unterricht einsetzen lassen. Seit 2010 ist China ökonomische Weltmacht. Das belegt nicht nur Platz 2 bei der Rangfolge der Staaten gemessen am Bruttonationaleinkommen, das dokumentieren nicht nur die ersten Plätze bei der chemisch-pharmazeutischen Industrie, im Maschinenbau, bei der Produktion von Fernsehgeräten oder von Autos. Darauf weisen vor allem die umfassenden Wirtschaftsbeziehungen Chinas sowohl zu den Industriestaaten als auch zu den Entwicklungsländern hin. Für die Schülerinnen und Schüler sind vor allem die Auswirkungen auf ihr persönliches Leben wichtig. Die Entwicklung in China und insbesondere der Handel mit China ermöglicht nicht nur den Kauf preiswerter Textilien und elektronischer Geräte vom Computer bis zum Handy, China sichert auch durch seinen Import zahlreiche deutsche Arbeitsplätze. Allein der Export deutscher Waren nach China stieg von 2000 bis 2011 von 10 Mrd. auf 64 Mrd. Euro, China ist unser fünftwichtigster Exportmarkt (Der neue Fischer Weltalmanach 2013). Global stellt sich die Situation um 2013 so dar: Die USA sind mit Milliardenbeträgen bei China verschuldet, die Europäische Union bittet China um Hilfe bei der Bewältigung ihrer Wirtschaftskrise.
Im Unterricht sollten aber auch die Argumente aufgegriffen werden, die durch das in den Medien weit verbreitete "China bashing" bekannt sind. Dazu gehören die unbefriedigende Situation bei den Menschenrechten, die teilweise katastrophale Umweltsituation und die Produktpiraterie (siehe auch die Ausführungen in diesem Beitrag). Durch die Gegenüberstellung positiver und negativer Kennzeichen kann im Unterricht auch verdeutlicht werden, dass dabei keine einfachen und einseitigen Werturteile helfen - eine Erkenntnis, die weit über den Geographieunterricht hinausgeht.
Thema: Kultur als Grundlage
Nur wenige Schulbücher thematisieren ausdrücklich die Kultur als wesentlichen Faktor für das Verständnis der Entwicklung eines Landes. China wird als ein Staat mit alter, hochstehender Kultur dargestellt, die auch durch große technische Leistungen wie die Große Mauer, den Kaiserkanal oder die zahlreichen Dammbauten dokumentiert wird. Als über Jahrtausende hinweg staatsprägende Ideologie wird der Konfuzianismus genannt. Diese Lehre betont die Leistung im wirtschaftlichen, die Einordnung in die Gemeinschaft im sozialen Bereich. Meist knapp werden weitere Weltanschauungen und Religionen wie der Buddhismus und der Daoismus dargestellt. In mehreren Büchern wird der Konfuzianismus wegen seiner Betonung der Leistung als eine Ursache des wirtschaftlichen Aufschwungs gesehen, andere differenzieren stärker und weisen darauf hin, dass sich die Kultur durch die Globalisierung rasch wandelt und vielfach ein krasser Materialismus vorkommt. Der Bildung wird in der chinesischen Kultur eine hohe Bedeutung zugemessen. Die Schulbücher ermöglichen so eine Diskussion über die Einstellung zur Leistung, die ja auch eine Grundlage unserer Kultur ist.
Die nachfolgende Darstellung ermöglicht auch eine Diskussion über den Wandel der Ideale, der Wertvorstellungen, vom idealistischen Revolutionär zum materialistischen Besitzer von Konsumgütern.
Abbildung 1: Wertewandel in China
Quelle: Diercke, Geographie 8, Gymnasium Hamburg, 2005, S. 129
Thema: Naturbedingungen als limitierender Faktor
In China prägen die Naturbedingungen trotz allen technischen Fortschritts noch immer die Nutzungsmöglichkeiten. Einige Schulbücher verdeutlichen durch Karten die Zweiteilung des Landes in eine für den Ackerbau geeignete Osthälfte und in eine wenig fruchtbare Westhälfte. Dabei werden die Auswirkungen dieser Limitierung aufgezeigt: im Osten leben auf weniger als der Hälfte der Fläche Chinas über 80% der Bevölkerung. Seit frühester Zeit ist die Bewältigung der Naturgefahren eine der wichtigsten Aufgaben der jeweiligen Staatsmacht. Die heutigen Maßnahmen werden in den Schulbüchern durch die Dammbauten am Gelben Fluss ebenso dokumentiert wie durch den Kampf gegen die Desertifikation. Auch der Drei-Schluchten-Damm (s. u.) hat als ein Ziel die Vermeidung der katastrophalen Hochwasser im Mittellauf des Jangtsekiang.
Durch die handlungsorientierte Erarbeitung der in den Schulbüchern gegebenen Informationen können Schülerinnen und Schüler erkennen, dass die Menschen in China anders als die in Deutschland viel stärker von Naturkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen bedroht sind. Für die Medienerziehung kann erarbeitet werden, dass Bilder vom Reisanbau, oft als Beispiel für die arbeits- wie ertragsintensive Landwirtschaft verwendet, nur einen beschränkten Teil der Wirklichkeit der chinesischen Landwirtschaft wiedergeben.
Thema: Regionale Disparitäten
In China sind die regionalen Unterschiede sehr groß. Das regionale Ost-West-Gefälle wird dabei durch Karten gut verdeutlicht, welche das Pro-Kopf-Einkommen der einzelnen Provinzen aufzeigen, das sozio-ökonomische Stadt-Land-Gefälle durch Grafiken und Statistiken (s. a. Thema "Soziale Entwicklung"). Weil die Menschen im Inneren Chinas und dort besonders im ländlichen Raum bis in die jüngste Zeit arm blieben, kam es in der Gegenwart zur größten Wanderungsbewegung der Menschheitsgeschichte: über 220 Millionen Personen verließen ihre Heimat, um in den Wirtschaftszentren des Ostens eine besser bezahlte Arbeit zu finden (s. Thema "Wanderarbeiter"). In einigen Schulbüchern wird bereits der "Große Entwicklungsplan für den Westen" genannt, der eine Minderung der Disparitäten durch einen umfassenden Ausbau der Infrastruktur anstrebt. Aus den in den Büchern zusammengestellten Daten können Schülerinnen und Schüler ermitteln, dass es in China - ganz anders als in Deutschland - sehr große sozio-ökonomische Disparitäten gibt, die sich konkret im Raum auswirken, und zwar auf verschiedenen Maßstabsebenen, vom regionalen Stadt-Land-Gegensatz bis zum nationalen Ost-West-Gefälle. Vielfach gezeigte Fotos etwa von Shanghai-Pudong stellen daher nur einen Aspekt der Wirklichkeit dar. Aus den Darstellungen kann zudem erkannt werden, dass China vor gewaltigen sozialen Problemen steht, können Versuche der Regierung bewertet werden, diese Unterschiede durch den Ausbau der Infrastruktur wenigstens zu mildern. Damit kann die Kompetenz aufgebaut werden, Räume als humangeographische Systeme zu erfassen.
Thema: Umwelt
Alle Schulbuchbeiträge zum Thema Umwelt betonen die schlechte, teilweise dramatische Situation. Sie wird auf die reine Wachstumsorientierung der Politik zurückgeführt. Großräumig werden folgende Themen behandelt: die zunehmende Desertifikation in Nordwestchina, die sich im Vordringen der Wüsten auswirkt, die Wasserknappheit besonders in Nordchina, die Wasserverschmutzung und die hohe Luftbelastung in den Städten des ganzen Landes. Die Situation wird teilweise durch drastische Bilder verdeutlicht, etwa durch Plastikabfälle verschmutzte Flüsse. Nur selten verweisen die Schulbücher darauf, dass sich die Umweltsituation durch zahlreiche Maßnahmen verbessert. So produziert China heute weltweit die meisten Solarzellen und erzeugt die meiste Energie aus Windkraft. Die Umweltsituation wird dabei nicht nur verbessert, weil dies der Natur und den Menschen zugutekommt, Umwelttechnologie ist (wie etwa auch in Deutschland) ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Dies wird in den Schulbüchern jedoch nicht genannt.
Umweltzerstörung in China
Die jährlichen Umweltschäden werden von der chinesischen Regierung mit 200 Milliarden Dollar beziffert. Die unzureichenden Fähigkeiten im Umweltschutz behindern die Entwicklung des Landes. Der Konflikt zwischen der rasanten Wirtschaftsentwicklung und der Umwelt nimmt zu. Zu viele Bäume werden abgeholzt. Die Bauern setzen zu viel Dünger und Insektenvernichtungsmittel ein. Rund 80 Prozent der Gewässer sind durch Chemikalien aus den Industriebetrieben vergiftet. Von den weltweit 20 Städten mit der schlechtesten Luft liegen 16 in China. Jedes Jahr sterben rund 250 000 Menschen durch Luftverschmutzung. Grund sind die veralteten Kohlenkraftwerke.
(nach: Weißbuch der chinesischen Regierung 2006 und Financial Times Deutschland 9.6.2006) Mensch und Raum, Geographie 8, Schleswig-Holstein, 2007, S. 87
Thema: Bevölkerung
Das Thema Bevölkerungspolitik und Bevölkerungsentwicklung wird in sehr vielen Geographie-Schulbüchern behandelt. Hier kann die Kompetenz "Zusammenwirken von Faktoren in humangeographischen Systemen" aufgebaut werden. Die Bevölkerungspolitik wird dabei als Reaktion auf das rasche Bevölkerungswachstum dargestellt, vor allem, nachdem die Zahl der Einwohner Chinas um 1980 die Milliardengrenze überschritt. Die staatlichen Maßnahmen werden als Mischung von materiellen Anreizen und teilweise drastischen Sanktionen erläutert. Hier könnte durch die Lehrkraft verdeutlicht werden, dass durch einen Wandel der Einstellungen in der städtischen Bevölkerung die Akzeptanz der Ein-Kind-Familie stark gewachsen ist. In der Stadt ist das Kind primär ein Kostenfaktor, mehrere Kinder führen zu materiellem Abstieg; hier ließen sich Parallelen zu den Verhältnissen in Deutschland aufzeigen.
Bei der Darstellung der Bevölkerungspolitik zeigt sich (wie bei anderen Themen) die Problematik der Darstellungen in den Schulbüchern. Im Sinne der konstruktivistischen Didaktik sollen sie den Schülerinnen und Schülern lediglich Grundlagen für ein eigenständiges Urteil bieten, und formal geschieht dies auch, denn die meisten Bücher enthalten sich einer Bewertung. Doch allein durch die Auswahl und Zusammenstellung werden die Schülerinnen und Schüler bei ihrer Bewertung in eine bestimmte Richtung gelenkt. Denn die Auswirkungen der staatlichen Maßnahmen werden zwar differenziert dargestellt, allerdings liegt ein Schwerpunkt auf den negativen Folgen. Da wird zum einen die auch in China vielfach kritisierte Sicht aufgezeigt, dass China ein Land mit vielen "Kleinen Kaisern", verwöhnten und egozentrischen Einzelkindern sei, zum anderen wird festgestellt, dass die abnehmende Geburtenzahl zu einer Überalterung der Bevölkerung führen werde - auch hier sind Parallelen zur eigenen Lebenswirklichkeit der Schülerin und des Schülers leicht zu erkennen.
Thema: Wirtschaftsentwicklung
Die untersuchten Geographie-Schulbücher stellen richtig dar, dass die wirtschaftliche Dynamik in den 1980er Jahren einsetzte. Damit ist zu erkennen, dass sie relativ neu ist (wenngleich für Schülerinnen und Schüler ein Zeitraum von 30 Jahren schon weit über ihre persönliche Vorstellungswelt hinausgeht). Meist beschränkt sich die Darstellung auf die Ergebnisse der wirtschaftlichen Dynamik: die Steigerung der Produktion, die Erfolge im Außenhandel, sie thematisiert auch teilweise die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Chinesen selbst.
Nur wenige der Geographie-Schulbücher verdeutlichen, dass die wirtschaftliche Dynamik auf der politischen Entscheidung beruht, sich wirtschaftlich der Welt zu öffnen, sich aktiv in die Globalisierung einzubringen. Dabei sollte durch die Lehrkräfte klargestellt werden, dass China, anders als die meisten Entwicklungsländer, von Anfang an die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Lande behielt. Die chinesische Regierung legte fest, wo ausländische Unternehmen Fertigungsstätten errichten durften, welche Unternehmensform gestattet war (anfangs nur Gemeinschaftsunternehmen, Joint ventures). Vor allem sollte betont werden, dass durch die Verpflichtung, einen immer größeren Anteil in China zu produzieren, ein Technologietransfer nach China erzwungen wurde. Dies würde auch erklären, warum die wirtschaftliche Dynamik in China - anders als in anderen Ländern der Dritten Welt - so rasch Erfolge zeitigte.
Die Darstellungen bemühen sich, positive und negative Aspekte dieser Wirtschaftspolitik zu nennen. Dabei werden dem oftmals durch Zahlen verdeutlichten Anstieg der wirtschaftlichen Produktivität die sozialen Probleme (oft am Beispiel der Wanderarbeiter) und die negativen Auswirkungen auf die Umwelt gegenübergestellt. Leider fehlen vielfach die konkreten Auswirkungen auf die Menschen selbst, etwa der Anstieg des allgemeinen Wohlstands (s. a.: Soziale Entwicklung).
Tabelle1: Pkw-Produktion (Mio)
Quelle: http://oica.net/category/production-statistics - In: Olbert, B. (2012): Fahren China und Indien dem Rest der Welt davon? - geographie heute, H.297, S. 45
Die Tabelle (noch nicht in Schulbüchern vorhanden) verdeutlicht zwei wichtige Entwicklungen. Erstens: China hat auf einem wichtigen Industriesektor die Führung übernommen. Zweitens: Weil die Autos fast ausschließlich in China abgesetzt werden, belegen die Daten auch den wachsenden Wohlstand der Beschäftigten in China.
Thema: Wanderarbeiter
In den meisten Schulbüchern wird diese Thematik behandelt. Dies ist verständlich, denn ohne die rund 200 Millionen Menschen, die aus ihren Dörfern in die Wirtschaftszentren strömten, wäre Chinas Wirtschaftswachstum nicht möglich gewesen. Wieder geben die Schulbücher durch die Auswahl von Berichten, Daten und Bildern trotz einer scheinbar neutralen Zusammenstellung von Quellen die Bewertung vor. Die meisten Darstellungen schildern die Situation der Wanderarbeiter negativ: sie werden ausgebeutet, oft bis zum physischen Zusammenbruch, zudem schuften viele "für ein paar Cent". Dazu werden emotional aufrührende Erzählungen der Betroffenen selbst oder Berichte von Nichtregierungsorganisationen aufgeführt. Diese Bewertung ist im Grundsatz zutreffend, denn die Lage ist weit von unseren Arbeitsverhältnissen entfernt.
Doch sollten die Schulbücher auch hier eine differenziertere Analyse ermöglichen. Im Folgenden werden einige Anregungen gegeben. Nur selten wird klargestellt, dass die Wanderarbeiter aufgrund der strukturellen Erwerbslosigkeit "freiwillig" die heimatlichen Dörfer verließen, weil trotz des niedrigen Verdienstes sowohl Beschäftigung wie Einkommen in der Stadt besser als auf dem Land sind. In neuen Ausgaben müsste erwähnt werden, dass trotz nach wie vor bestehender sehr schlimmer Verhältnisse sich die Situation in den Städten seit etwa 2005 wesentlich verbessert hat. Durch gesetzliche Regelungen (die allerdings oft unterlaufen werden) wurden Mindestlöhne und eine soziale Absicherung festgelegt. In der Praxis noch entscheidender wurde die Tatsache, dass sich die Wanderarbeiter oft selbst eine Lohnerhöhung erkämpften bzw. dass ein Mangel an Arbeitskräften zu Lohnzugeständnissen der Arbeitgeber führte. Zu diesem Mangel kommt es unter anderem dadurch, dass der Wirtschaftsaufschwung das Landesinnere erfasst und nun auch in Heimatnähe zunehmend Arbeitsplätze entstehen. Nicht zuletzt wirkt sich hier die Bevölkerungspolitik positiv aus: zwar drängen noch immer jedes Jahr neue Millionen auf den Arbeitsmarkt, doch wächst die Nachfrage nach Arbeitskräften in vielen Regionen rascher.
Thema: Soziale Entwicklung
Das Thema Wanderarbeiter ist ein Ausschnitt aus der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Hier ermöglichen die Darstellungen in den Schulbüchern zwei Erkenntnisse: die wirtschaftliche Situation hat sich für den größten Teil der Chinesen wesentlich verbessert, die regionalen und sozialen Disparitäten nehmen jedoch zu und bedrohen die gesellschaftliche Stabilität. Nur selten wird die Zunahme des Wohlstandes nicht für den gesamten Staat, sondern für den Einzelnen dargestellt. Dabei offenbaren die Grafiken ein Problem der deutschen Schulbücher: weil (im Gegensatz etwa zu China) die Bücher kostenlos ausgeliehen werden, werden sie über mehrere Jahre hinweg genutzt. Die in den Büchern genannten Daten sind angesichts der stürmischen Entwicklung meist stark veraltet; das trifft etwa auf das Pro-Kopf-Einkommen oder die Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern zu (vgl. Tabelle). Hier werden die Schulbuchverlage einen Trend ausbauen müssen, der bereits begonnen hat: die Ergänzung der Inhalte der Bücher durch aktuelle Angaben im Internet.
Tabelle 2: Ausstattung der Haushalte
Quelle: Diercke Geographie, 2011, S. 493, hier Auswahl
Die Tabelle verdeutlicht, dass bereits im Jahre 2006 der Lebensstandard zumindest in den Städten (insgesamt lebten damals dort 560 Millionen) teilweise den der Industriestaaten erreicht hatte. Inzwischen hat u.a. die Motorisierung noch stark zugenommen.
Ein Aspekt der sozialen Entwicklung, der vor allem die öffentliche Diskussion (nicht nur in Deutschland) bestimmt, wird auch in einigen Schulbüchern aufgegriffen: die Menschenrechte. Dass in China erhebliche Defizite in der Gewährung von Menschenrechten besonders bei den Rechten des Individuums gegenüber etwa dem Staat bestehen, wird auch von offizieller chinesischer Seite anerkannt. Eines der Lehrwerke ermöglicht eine differenzierte Sicht, indem es die Argumentation der chinesischen Regierung wiedergibt: Menschenrechte gemäß der UN-Erklärung von 1948 widersprächen dem asiatischen Menschenbild, bei dem sich der Einzelne in die Gemeinschaft (Familie, Betrieb, Staat) einzuordnen habe. Dies bietet einen guten Ansatz zur Diskussion über die Allgemeingültigkeit von Grundrechten: gelten sie uneingeschränkt für alle Menschen oder sind sie kulturbedingt und daher nur regional gültig?
Thema: Drei-Schluchten Damm
Das Thema, in den meisten Schulbüchern behandelt, eignet sich sehr gut dazu, die von der konstruktivistischen Didaktik geforderte Methode des Perspektivenwechsels anzuwenden, damit die Schülerinnen und Schüler zu eigenen Bewertungen gelangen Die meisten Bücher bieten einen guten Überblick über das Pro und Contra der Anlage. Dabei wird oft darauf verwiesen, dass auch in der chinesischen Diskussion die Meinungen über den Staudammbau auseinandergehen. Analysiert man die einzelnen Beiträge in den Schulbüchern, so überwiegt trotz scheinbarer objektiver Zusammenstellung von Argumenten die kritische Sicht. Wie aber sollen Schülerinnen und Schüler zu einer sachgerechten Bewertung kommen, wenn selbst Wissenschaftler zugeben, dass eine auf Erfahrung beruhende Beurteilung erst in Jahren möglich sein wird? Das bezieht sich sowohl auf den Hochwasserschutz als auch auf die Gefahren durch Sedimentfracht.
Abbildung 2: Der Drei-Schluchten-Staudamm
Quelle: Seydlitz, Geographie 5/6, Baden-Württemberg, 2008, S. 48/49
Thema: Tibet
Nur wenige Bücher greifen dieses Thema auf, weil der Schwerpunkt der Behandlung Chinas auf Wirtschaftsthemen liegt. Dabei wird heftige Kritik am Vorgehen der chinesischen Regierung geübt, teilweise im Zusammenhang mit der Frage der Menschenrechte. Eine eigenständige Bewertung durch Schülerinnen und Schüler, die auch die Befreiung der Tibeter von der Unterdrückung durch Klöster und Adelige thematisiert, fehlt. Eines der Bücher bietet eine differenzierte Darstellung der Auswirkungen der rund 1000 km langen "Tibet-Bahn", die seit 2006 Lhasa mit dem zentralen China verbindet. Zum einen wird die technische Leistung betont, durch das Hochland von Tibet mit seinem im Sommer an der Oberfläche tauenden Dauerfrostboden eine Bahnlinie zu bauen, bei der allein der Unterhalt wegen der zahlreichen Dämme und Brücken sehr teuer ist. Differenziert bewertet werden die sozio-ökonomischen Auswirkungen. Positiv sei, dass durch die Bahn die wirtschaftliche Entwicklung Tibets stark gefördert werde, negativ sei, so die zitierte Meinung des Dalai Lama, dass es dadurch zu einem "kulturellen Völkermord" komme.
Fazit : China in der globalen Ökonomie
China gilt in den untersuchten Schulbüchern als "Werkbank der Welt", eine aus der Literatur übernommene Bewertung. Dies gilt nach wie vor, denn eine Tabelle des Welthandels zeigt, dass China der global größte Exporteur ist. Die Daten verdeutlichen aber auch, dass China nach den USA auch der weltgrößte Importeur ist. Damit wirkt sich die wirtschaftliche Entwicklung Chinas in hohem Maße auf die gesamte Weltwirtschaft aus. Die Darstellung gibt die Bewertung durch die Schülerinnen und Schüler bereits vor, doch lässt sich aus den Zahlenwerten auch keine andere Aussage ableiten.
Tabelle 3: Welthandel der führenden Welthandelsländer
Quelle: Fischer Weltalmanach 2013, S. 622, Saldo ergänzt
In fast keinem Schulbuch werden die Auswirkungen auf Deutschland thematisiert. Dass chinesische Produkte wegen ihres günstigen Preises und ihrer Qualität sehr vorteilhaft sind, dass aber die Herstellungsbedingungen nicht unseren Standards entsprechen, sollte mit den Schülerinnen und Schülern diskutiert werden. Hier wäre ein ethisches Verhalten zu thematisieren. Dabei lässt sich - wie in zahlreichen bisher genannten Darstellungen - gut die Kompetenz aufbauen "Fähigkeit, Informationen ... auszuwerten". Eine Diskussion zeigt die Schwierigkeit einer ethischen Bewertung. Denn die Daten aus dem Schulbuch oder aus anderen Quellen ergeben, dass sich nur durch die billigen Angebote der internationale Markt erschließen ließ und dass die Schülerin und der Schüler von den niedrigen Preisen profitieren. Im Zuge einer Darstellung nicht nur von Strukturen, sondern auch von Prozessen müsste aufgezeigt werden, dass sich aber seitdem die Verhältnisse erheblich gebessert haben - auch wenn sie vielfach noch immer nicht unseren Standards entsprechen. Wichtig ist auch, die Wirtschaftsverflechtungen an Beispielen aufzuzeigen, um den hohen Einfluss zu verdeutlichen, den China inzwischen auch auf unsere Wirtschaftsentwicklung hat. Hier wird meist nur der VW-Konzern genannt, nicht zuletzt weil er als einer der ersten in China Produktionsstätten errichtete und weil er zu den erfolgreichen deutschen Unternehmen in China zählt.
Dass die Globalisierung trotz der in den Büchern thematisierten positiven Entwicklung in China auch für Deutschland nicht nur positiv ist, wird in einigen Schulbüchern knapp erwähnt: durch den geistigen Diebstahl ("Produktpiraterie") chinesischer Firmen, die erfolgreiche ausländische Erzeugnisse einfach kopieren, entstehen den Unternehmen in aller Welt Verluste in Milliardenhöhe. Hier könnte angemerkt werden, dass sich die Situation in den nächsten Jahren wohl etwas verbessern wird. Da zunehmend auch chinesische Unternehmen Opfer der Produktpiraterie werden, ist zu erwarten, dass der Staat die vorhandenen Gesetze stärker durchsetzen wird.
Die bis 2010 erschienenen Schulbücher thematisieren kaum die Angst, dass chinesische Unternehmen ausländische Firmen aufkaufen, sich dadurch die Technologie sichern und dann die Produktion nach China verlagern. Im Sinne der konstruktivistischen Didaktik muss aber auch dargestellt werden, dass es vielfach begrüßt wurde, als chinesische Unternehmen die Autofabriken Saab und Volvo durch Kauf retteten.
Fazit
Zieht man ein Fazit, so ist zu konstatieren, dass sich die Geographie-Schulbücher um eine ausgewogene Darstellung der Entwicklung in China bemühen. Sie verdeutlichen nicht nur den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern thematisieren auch die damit verbundenen Probleme, besonders in den Bereichen Umwelt und Gesellschaft. Hervorzuheben ist, dass durch diese differenzierte Darstellung etwas unterbleibt, was in populär(wissenschaftlich)en Publikationen teilweise gepflegt wird: China sei ein Staat, der unaufhaltsam die Weltmacht Nummer 1 werde, gegen den Europa und hier Deutschland keine Chance habe. Hier ermöglichen die Schulbücher den Schülerinnen und Schülern durch die Bereitstellung entsprechender Materialien die Erkenntnis, dass China gewaltige innenpolitische Probleme lösen muss und dass die Wirtschaftsentwicklung in China der Welt und dem Lande selbst zugutekommt. Ob das 21. Jahrhundert ein "chinesisches Jahrhundert" wird, wie ein Buch die New York Times zitiert, bleibt abzuwarten. Ältere Leser werden sich erinnern, dass man bis etwa 2000 von Japan prophezeite, es werde unangefochten das 21. Jahrhundert prägen. Die Behandlung Chinas in den Geographie-Schulbüchern ermöglicht es Schülerinnen und Schülern, eine dynamische Entwicklung nüchtern zu bewerten und das Vertrauen in die Zukunft auch am Beispiel der Leistungsfähigkeit dieses Landes zu bewahren.
Zitierweise:
Dieter Böhn 2013: Das vermittelte Bild: die Wirtschaftsmacht China im Unterricht. China im Geographieunterricht, untersucht am Beispiel der Darstellung in Schulbüchern. In: http://www.raumnachrichten.de/diskussionen/1645-dieter-boehn-die-wirtschaftsmacht-china-im-unterricht
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Dieter Böhn
Institut für Geographie und Geologie -
Didaktik der Geographie
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Campus Hubland Nord
Oswald-Külpe-Weg
97074 Würzburg
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