Globalisierung und TransnationalisierungPascal Goeke: Globalisierung und Transnationalisierung. Begriffe zwischen metaphorischem und theoretisch kontrolliertem Gebrauch

Rezensionsartikel:

Pries, Ludger (2010): Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden.
Pries, Ludger (2010): Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt. Wiesbaden.

Abstract:

Die Begriffe Globalisierung und Transnationalisierung werden in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Mal erscheinen sie theorielos als Metapher, mal dient ihre Verwendung der Markierung eines Themas und wieder ein anderes Mal ist ihr Gebrauch theoretisch kontrolliert. Die beiden Monographien von Pries (2010a, 2010b) zeigen wie schon andere Publikationen von ihm auf, dass Globalisierung und Transnationalisierung interessante Forschungsthemen sind. Leider wird in den Texten überdeutlich, dass die nur lockere theoretische Kontrolle der Begriffe Erkenntnismöglichkeiten verschenkt.

 

Zum Problem der Begriffswahl

Es ist höchst unplausibel davon auszugehen, dass die Welt schon entschieden und sie nur mit den richtigen Begriffen zu bezeichnen sei. Tatsächlich, so lehrt uns besonders der radikale Konstruktivismus, bestätigt die Verwendung bestimmter Begriffe ein Bild von der Welt oder fügt dem Bild etwas Neues hinzu. Es kommt somit auf die Wahl der Begriffe und die damit verbundene Operation der Unterscheidung an. Dies eingangs zu erwähnen, erscheint wichtig, weil die beiden Monographien vehement für neue Begriffe und Kategorien eintreten, respektive das seit rund 20 Jahren mit den Begriffen Transnationalisierung und Globalisierung verbundene Begriffsinventar zentral stellen. Damit drängt sich förmlich die Frage auf, was mit einem nun nicht mehr ganz neuen Vokabular noch neu zu erkennen ist und wie sich dieses Vokabular mit anderen Wissensbeständen verträgt. Auch ist zu fragen, ob die Begriffe alte Bilder in ihren Grundfesten erschüttern oder ihnen nur einen neuen Anstrich geben.

Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung

Die erste Monographie (Pries 2010a) wartet mit einem umfassenden Titel – Transnationalisierung: Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung – auf, mutet sich aber nur wenig zu, denn die Transnationalismusthese hat sich bereits seit den 1990er Jahren weltweit verbreitet (vgl. Glick Schiller et al. 1992), gilt grosso modo als empirisch gesichert und hat bereits für erhebliche theoretische Irritationen sowie nachfolgend für eine Reihe von theoretischen Modifikationen gesorgt. Es war der Autor Ludger Pries selbst, der die Transnationalismusthese als einer der ersten in die deutschen Sozialwissenschaften importierte und maßgeblich zur verdienstvollen Verbreitung beitrug (vgl. z.B. Pries 1996, 2003). Was ist also bald 20 Jahre nach den ersten Transnationalismustexten zu erwarten, wenn, wie die Einleitung verrät, erstens keine eigene neue Studie vorgestellt wird und, wie der Blick in das Literaturverzeichnis enthüllt, zweitens die zwischenzeitlich formulierte Kritik an der Transnationalismusthese kaum zitiert wird? Leider nicht viel und das liegt vor allem an der fehlenden theoretischen Kontrolle des Begriffs Transnationalisierung.

Zentrales Anliegen des Buches ist es, den Umfang der voranschreitenden Transnationalisierung aufzuzeigen und begrifflich adäquat zu fassen. „Mit den Begriffen transnational und Transnationalisierung werden hier grenzüberschreitende Phänomene verstanden, die – lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften – relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume konstituieren“ (Pries 2010a, 13). Es ist dies eine Definition die sich so oder so ähnlich auch in anderen Texten von ihm und anderen finden lässt und im Zentrum des ersten einleitenden Kapitels steht. Sie ist vielleicht ein wenig unscharf, aber zur Aufmerksamkeitssteuerung hilfreich, da sie den Blick auf bestimmte Phänomene rückt. Folgerichtig soll das Thema im  anschließenden Kapitel konkretisiert werden. Dazu wählt Pries drei empirische Zugänge: alltägliche Lebenswelten, Organisationen und gesellschaftliche Institutionen. Die Betrachtung dieser drei Ebenen soll auch dazu dienen, zu einer Neufassung des Verständnisses von Sozialräumen zu kommen (Pries 2010a, 7).

Empirische Zugänge zur Transnationalisierung und offene Fragen

Dass die Ausführungen zur Transnationalisierung von insbesondere migrantischen Lebenswelten den Auftakt machen, überrascht nicht, ist doch die Migrationsforschung der sozialwissenschaftliche Bereich, in dem die These am ausführlichsten diskutiert wurde. Die Transnationalisierung von Organisationen wird kenntnisreich am Beispiel von Euro-Betriebsräten, von grenzüberschreitenden Migrantenorganisationen und von den Vereinten Nationen im dritten Kapitel erläutert. Das vierte Kapitel widmet sich der Transnationalisierung von sozialen Institutionen und legt dar, wie sich Arbeitsmärkte umstrukturieren und ob und wie sich der Bezugsrahmen der Ungleichheitsforschung ändern muss.

Diese drei Kernkapitel zeichnen sich durch reichhaltige Verweise auf empirische Studien aus, die teilweise länglich zusammengefasst werden. Ein spezielles Argument jenseits der allgemeinen Transnationalismusthese ist nicht zu erkennen. Hin und wieder werden Klassifikationen oder Typenbildungen vorgenommen, die allerdings häufig schon in früheren Schriften zu finden sind (z.B. „Vier Idealtypen von Migranten“: Pries 2010a, 59; bereits zu finden bei: Pries 2000, 60). Das Problem eines solchen Vorgehens ist nicht die Selbstreferenz. Problematisch ist, dass nicht zu erkennen ist, dass der Autor seine bekannte Argumentation weiterentwickelt hätte oder auf gewichtige Kritik reagieren würde. Das ist insofern bedauerlich, als dass die offenen Fragen, die begrifflichen Wirren und Differenzen sowie divergierende Forschungsströme im Bereich der Transnationalismusforschung es allemal rechtfertigen, sich diesem Feld anzunehmen und – als Person mit viel Autorität oder Reputation versehen – begriffliche Klärungsvorschläge zu unterbreiten. Es ist daher zu begrüßen, wenn alte Ansprüche zurückgenommen werden und Transnationalismus eher als Forschungsprogramm und nicht als eine neue Sozialtheorie verstanden wird (Pries 2010a, 9). Aber solange der Autor es versäumt, auf die dezidierte Kritik, dazu später mehr, an der Transnationalismusthese – und hier speziell an den theoretischen Aussagen – einzugehen (z.B. Bommes 2002a, 2002b, 2003; Brubaker 2001; Esser 2003), sind wohl keine ernsthaften Modifikationen zu erwarten.

Transnationalisierung – eine These ohne Diskussion

Im Schlusskapitel tritt Pries für eine differenzierte Sozialraumtheorie ein. Angesichts der zunehmenden Mobilität plädiert diese Theorie dafür, „den Gesellschaftsbegriff weiterhin und auch explizit auf nationalstaatlich verfasste Verflechtungszusammenhänge zu beziehen und einen anderen Begriff für die allgemeine Thematisierung des Verhältnisses von Räumlichen und Sozialem zu verwenden. Hier bietet sich der Terminus Sozialraum an“ (Pries 2010a, 152).

Ist das plausibel? Ich meine Nein. Um aber zu verstehen, dass Pries, wie oben erwähnt, bestimmte Kritiken einfach abprallen lässt und nachzuvollziehen, weshalb er den Terminus Sozialraum so prominent stellt, muss vermutlich zuerst das gut funktionierende Argumentationsmodell von ihm und anderen Transnationalisten in Erinnerung gerufen werden. Zentraler Abstoßpunkt ist eine überhöhte Kritik am methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften. Diese Kritik besagt im Kern, dass das Gros der Sozialwissenschaften den Nationalstaat irrigerweise als die natürliche Form der modernen Gesellschaft verstanden habe und daher etwaige über den Nationalstaat hinausgehende Verbindungen kategorisch ignorierte. Zudem habe die Gleichsetzung von Gesellschaft und Nation zum Beispiel dazu geführt, dass der Assimilations- oder Integrationshorizont von Migrantinnen und Migranten zu stark auf einen zu kompakten und national verstandenen Gesellschaftsbegriff bezogen wurde. Im Ergebnis seien die Theorien und Konzepte weitgehend blind für neue über den Nationalstaat hinausgehende Vergesellschaftungsprozesse. Die transnationale Perspektive gibt somit vor, bestimmte, nicht national gefasste, Phänomene thematisieren und zum Teil auch erklären zu können. Auch wenn die These ein Produkt des Zeitgeists war und ist, so beansprucht sie darüber hinaus und mit guten Gründen eine über die Gegenwart hinausgehende Gültigkeit. Auch in den Anfangsjahren oder zur Hochzeit des Nationalstaates habe es immer auch transnationale Phänomene gegeben. So treffend die Kritik der einengenden nationalen Perspektive für bestimmte Teile der Forschung auch ist, so falsch ist es, sich mithilfe dieser Kritik von allen alten Theorien pauschal zu distanzieren und Theoriebildung ohne eingehende Diskussionen mit aktuellen Sozial- und Gesellschafstheorien zu betreiben. Selbst Wimmer und Glick Schiller (2002, 303) notieren in einem von Pries vielzitierten Aufsatz, dass es immer auch Alternativen zu am Nationalstaat orientierten sozialtheoretischen Fassungen gab. So haben etwa die marxistische Tradition oder die Tradition des methodologischen Individualismus den Nationalstaat nicht als die zentrale Größe betrachtet.

Aber Pries blendet Alternativen aus. Wie kommt er zum Beispiel zu der Behauptung, dass Luhmanns Theorie der Weltgesellschaft den nationalgesellschaftlichen Bezugsrahmen soziologischer Analyse einfach auf die Weltebene erweitert habe (Pries 2010a, 19)? Ist es nicht so, dass Luhmanns auf Kommunikationen basierender operativer Gesellschaftsbegriff als einer der wenigen Gesellschaftsbegriffe überhaupt ohne Referenz auf den Nationalstaat auskommt, ihn aber dann als kontingente und sozialhistorisch bedingte Erscheinung im Sinne einer inneren Differenzierung der Weltgesellschaft erklären kann? Besteht nicht die folgenschwere Fehlsteuerung bei Pries gerade darin, dass auch er den Nationalstaat als gegeben setzt, um dann überhaupt von einer „grenzüberschreitenden Vergesellschaftung“ sprechen zu können und dabei so zu tun als gäbe es noch eine weitere Vergesellschaftung innerhalb von (nationalen?) Grenzen, die sich kategorisch unterscheidet?

Nota bene, es soll niemand dazu gezwungen werden, systemtheoretisch zu argumentieren oder zu forschen. Aber wenn ein viables Argument vorliegt, dann kann man sich ihm nicht mit einem Gestus entledigen. Und dieses Argument der Systemtheorie lautet, dass der Nationalstaat als segmentäre Differenzierung des politischen Systems zu verstehen ist und daher schon theoretisch damit zu rechnen ist, dass nicht alle Kommunikationen nationalstaatlich eingehegt sind. Im Fall der modernen Massenmigration muss der Nationalstaat, weil er sich weltweit als Wohlfahrtsstaat durchgesetzt hat und mit seinem Gleichheitsversprechen nach innen eine Ungleichheitsschwelle nach außen institutionalisiert, als zentraler Differenzgenerator und damit als Mitinitiator von Migrationen verstanden werden (vgl. Bommes 1999; Stichweh 1998). Er schafft also Anreize zur Migration, die er selbst kontrollieren möchte. Migrantinnen und Migranten werden vom Nationalstaat erzeugt, fügen sich aber nicht immer dem Eindeutigkeitsspiel der Staaten, sondern orientieren ihre Lebensführung an den Horizonten von zwei oder mehr Nationalstaaten oder genauer: an unterschiedlichen Inklusionschancen! Transnationalität thematisiert einen guten Teil von migranten Lebenswirklichkeiten, ohne aber eine ursächliche Erklärung zu bieten. Versteht man die Transnationalismusthese im Kern als eine empirische Infragestellung der These der strikten Kopplung von sozialen Systemen mit einem (nationalen) Territorium (vgl. Bommes 2002a, 232), dann thematisiert sie eine empirische Entwicklung, mit der die Systemtheorie schon rechnet.

Es ist das bleibende Verdienst von Pries und der Transnationalismusthese, dass sie eingefahrene Problemstellungen irritiert hat. Aber sie hat dies primär mit ihren empirischen Daten erreicht, ohne aber, und das gilt für Pries und andere bis heute, systematische Begriffsbildung zu betreiben und den durch die Kritik aufgelösten sozialen Strukturrahmen sinnvoll zu ersetzen (vgl. dazu z.B. Bommes 2003). Heute hat auch die einschlägige Empirie ihren Reiz teilweise verloren. In diesem Sinn sind die empirischen Ausführungen von Pries nicht falsch, aber sie wirken willkürlich, ja gar plapperig: „Auf die Frage, ‚Wo kommst Du her und woher kommt Deine Familie?‘ können sehr Viele eine einfache Antwort geben: ‚Meine Vorfahren stammen aus dem Allgäu (oder aus Galizien oder aus Anatolien) und ich bin in Bochum (oder Istanbul oder Stuttgart) aufgewachsen.‘ Auch auf die Frage ‚Wo fühlst Du Dich zugehörig und wo gedenkst Du, dauerhaft zu leben?‘ haben die meisten Menschen eine mehr oder weniger klare Antwort: „Ich fühle mich in Deutschland (in der Türkei oder in Spanien) zu Hause und möchte in Bochum (in München, Istanbul oder Bilbao) leben.‘ Diese Art von sedentärer Lebensweise und mehr oder weniger eindeutigen Zugehörigkeitserfahrungen zu einem bestimmten geographischen und sozial-kulturellen Raum ist aber eine recht neue Erscheinung in der Menschheitsgeschichte – und sie ist auch nicht die einzig mögliche.“ (Pries 2010a, 57).

Erneut, die Aussage mag richtig sein, ist aber nicht sonderlich erkenntnisreich. Wie wenig das Spiel mit dem unkontrollierten Begriff der Nation allein zum Verständnis beiträgt, zeigt dann auch ein verquaster Satz aus dem im Folgenden zu besprechenden Buch: „Die Entstehungsdynamik und die praktische Arbeit der EBRs [Euro-Betriebsräte] basiert auf einer überaus komplexen Verschränkung von Inter-Nationalisierung, Supra-Nationalisierung, (Re-)Nationalisierung und Transnationalisierung der Erwerbsregulierung“ (Pries 2010b, 247).

Form und Qualität

Zuletzt ist der sorglose Umgang mit den Quellen zu bemängeln. Beispiele: Ein Text des Autors findet sich zweimal im Literaturverzeichnis (2007a und 2007b) (Pries 2010a, 185), der Autor zitiert sich selbst mit „(Pries 2010)“ (z.B. Pries 2010a, 76), doch im Literaturverzeichnis sind fünf Titel aus dem Jahr 2010 von ihm notiert, bei Pallaske fehlt die Jahreszahl (Pries 2010a, 184), Luhmann wird mit einem Text von 1997 zitiert, aber selbiger hinten nicht aufgeführt (Pries 2010a, 19), in Überschriften sind Tippfehler enthalten (Pries 2010a, 79) und so weiter und so fort. Es sind dies keine Flüchtigkeitsfehler, sondern Fehler, die das Arbeiten mit dem Text massiv erschweren oder gar unmöglich machen. Auch hat Pries wenigstens gut drei Seiten aus einem anderen zeitgleich erschienenem Buch übernommen (Pries 2010a, 96ff.; übernommen aus: Pries 2010c, 21ff.). Gewiss, Eigenplagiate sind heute Standard und kaum mehr kritikwürdig, aber Querverweise in der kopierten Passage sollten wenigstens auf das jeweilige Buch abgestimmt werden (Pries 2010a, 96). Es ist zu vermuten, dass die schiere Anzahl seiner Publikationen zu Lasten ihrer Qualität geht.

Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt

Die zweite Monographie von Pries (2010b) ist in ihrem Thema fokussierter, im Aufbau klarer und formal korrekter als die oben besprochene. Doch auch hier gilt, dass sie sich wenig zumutet. Je nach Vorkenntnis sind die empirischen Fälle für die Leserin oder den Leser interessanter oder nicht. Da Wissenschaft jedoch über die Betrachtung von Gegenständen hinausgehen sollte und in einem spezifischen Blick auf die Dinge gründet, kommt es ohnehin primär auf die Form der Problematisierung und die dadurch gewonnenen Erkenntnisse an (vgl. dazu schon: Weber 1985 [1917], 502). In dieser Hinsicht ist es interessant zu sehen, was eine globale Perspektive bei dem Thema der Erwerbsregulierung ans Licht bringt. Aber zu oft sind die Formulierungen und die Begrifflichkeiten unscharf.

Zum Buch im Detail: Pries setzt bei der Beobachtung an, dass fast alle Menschen in irgendeiner Form und zu bestimmten Zeiten erwerbstätig sind (2010b, 15). Diese Tatsache wird um weitere Beispiele zur Relevanzgenerierung ergänzt: von giftigen Farbpartikeln in Mattels Barbies, von VW-Arbeitszeitenregulationen in Deutschland und Brasilien oder von lateinamerikanischen Bananenarbeitergewerkschaften ist einleitend die Rede. So wird erstens auf die grenzüberschreitende Dimension von Arbeit und Produktion aufmerksam gemacht und zweitens soll deutlich werden, dass auch Global Players nicht so agieren können, wie sie vermeintlich wollen. Damit ist das Thema gesetzt. In den Worten von Pries: „Dieses Buch beschäftigt sich mit Erwerbsregulierung, also mit den formellen und informellen Regeln sowie mit den realen Praktiken und Mechanismen der Festlegung, Kontrolle und Weiterentwicklung der Bedingungen, unter denen Menschen beschäftigt werden, ihre Arbeit verrichten und am Arbeits- und Produktionsprozess beteiligt sind“ (ebd., 20).

Konvergenz, Divergenz oder beides?

Eine im ganzen Buch immer wieder aufscheinende Frage ist die nach der globalen Konvergenz oder Divergenz von Erwerbsregulierungsformen. Weil die bisherige Forschung beide Prozesse beobachtet und stichhaltig begründen kann, optiert Pries für das ausgeschlossene Dritte als Kompromiss und regt an, von einer konvergenten Divergenz oder vice versa einer divergenten Konvergenz zu sprechen. Diese These wird an verschiedenen Stellen gut begründet und spielt der von ihm favorisierten Transnationalismusthese in die Hand (einschränkend ist allerdings zu notieren, dass er prioritär jene Phänomene betrachtet, „die als transnationale und internationale Strukturen und Prozesse die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten“ (Pries ebd., 21)).

Das oben erwähnte transnationale Argumentationsmodell erscheint hier in einem neuen Gewand. Indem er die Widersprüchlichkeit von Konvergenz- und Divergenzthese zum Teil auf ihre nationalen Beobachtungsmuster zurückführen kann, gelingt es ihm, die Transnationalismusthese zu stärken. Erneut muss man fragen, ob die grundsätzliche Beobachtungskonstellation nicht noch radikaler verlassen werden müsste, d.h. die Zäsur zur nationalen Beobachtung nicht noch schärfer sein müsste, als das mit der Transnationalismusthese möglich ist. Oder anders gefragt: Ist es angemessen, den nationalen Horizont immer mitschwingen zu lassen, wenn es doch sein könnte, dass bei einer bestimmten Erwerbsregulierung der Nationalstaat eine untergeordnete Rolle spielt und die Horizonte der Beteiligten ganz anders strukturiert sind? In den Worten der Organisationstheorie: „Organizations paint their own scenery, observe it through binoculars, and try to find a path through the landscape“ (Tom Lodahl zitiert in: Weick 1979, 136). Warum wird die Nation nicht a priori als ein kontingentes Element dieses Bühnenbildes gesetzt? Pries scheut diesen notwendigen radikalen Schritt, kommt aber implizit zur gleichen Position und fordert eine Betrachtungsweise, die in „komplexen Netzwerkstrukturen und verschachtelten Beziehungsgeflechten“ zu denken in der Lage ist (2010b, 22).


Determinanten und Formen der Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt

Aber das Buch geht über diese eine Frage hinaus und will ganz grundsätzlich ein Verständnis von Erwerbsregulierung entwickeln. Dazu verweist Pries im zweiten Kapitel auf fünf Institutionen, „die Erwerbsarbeit idealtypisch sehr stark typisieren: soziale Netzwerke, Märkte, Berufe, Organisationen und das öffentliche Regime“ (ebd., 31). Die Differenzkriterien sind nur schwer zu erkennen. Vollends überraschend ist es dann zu erfahren, dass mit sozialen Netzwerken eigentlich nur Familien als „primäres soziales Netzwerk“ gemeint sind (ebd., 32). Warum wird nicht gleich von Familien gesprochen oder, wenn man die Assoziation mit einer Kleinfamilie vermeiden will, nicht wenigstens von Familiennetzwerken? Es sind diese Begriffskonfusionen, die den Netzwerkbegriff so beliebig werden lassen. Und es sind unscharfe Allaussagen wie die folgende, die den Wert des Buches schmälern: ökonomisches Kapital sei „beliebig transferier- und akkumulierbar“ (ebd., 35). Sicherlich besteht die Verheißung von Reichtum in der Chance des vielfältigen und weitgehenden Transfers (Deutschmann 2001), aber beliebig und vielfältig oder weitgehend – und das wäre die treffendere Beschreibung – sind eben zwei verschiedene Dinge. Dennoch, das zweite Kapitel erläutert die Dimensionen in einer anschaulichen Art und Weise.

Im anschließenden dritten Kapitel wird der Blick auf Erwerbsregulierung in vergleichender Perspektive vorbereitet. Die fünf oben genannten Institutionen werden jetzt in einem erwerbsregulierenden Kräftefeld situiert, innerhalb dessen sie sich ausprägen und entwickeln. Das ist in der kaleidoskopischen Sicht interessant, doch diese Art der ad-hoc-Theoriearchitektur trägt höchstens durch ein Buch und kann nur schwer an andere Theorien angeschlossen werden. Ich würde auch behaupten, dass diese Theorietechnik für die zahlreichen ungenauen Formulierungen verantwortlich ist. So heißt es an einer Stelle zusammenfassend: „Unter Erwerbsregulierung wird [...] die bewusste, interessen- und machtdurchtränkte sowie kulturell geprägte individuelle und kollektive Aushandlung, Festlegung und Kontrolle der Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen verstanden“ (Pries 2010b, 46). Sicher, den Regeln der Logik folgend kann man das so formulieren, aber die Definition ist nicht sehr robust. Wieso ist nun von kultureller Prägung die Rede und nicht mehr von den ausführlich dargestellten Institutionen? Wieso muss es sich um einen bewussten Prozess handeln? Hat die Soziologie oder die Sozialpsychologie nicht immer wieder darauf hingewiesen, dass Ordnungen und Regularien auch ohne bewusste Absichten entstehen können (vgl. z.B. die Argumentationen bei: Axelrod 2009 [1984]; Merton 1936; Weick 1979)? In dem Maß wie der Text nicht mit den genannten oder ähnlichen Argumenten diskutiert, wächst die Skepsis an den anderen kenntnisreich zusammengetragenen Aussagen zu unterschiedlichen Regulierungen.

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Ludger Pries: Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden 2010

Das vierte Buchkapitel widmet sich den Erwerbsregulierungen in China und Indien, ehe das fünfte Kapitel im Streit zwischen der Divergenz- und Konvergenzthese zu vermitteln versucht. In diesem aufschlussreichen Kapitel wird deutlich, dass eine dominant nationale Betrachtung der Erwerbsregulierung nicht kenntnisfördernd ist. Zum einen weil die Entwicklung in vielen Staaten nicht auf dem bekannten westlich-europäischen Pfad verläuft und zum anderen, weil nahezu jede nationale Betrachtung in einer globalisierten Welt aufläuft. Mit dem transnationalen Blick geschult, vertritt Pries die dialektische „These einer konvergenten Divergenz und einer divergenten Konvergenz im Internationalisierungsprozess“ (2010b, 125).

Das sechste Kapitel greift globale und internationale Regulierungsversuche auf, das siebte schwenkt den Blick auf die Europäische Union, im achten geht es um konzernbezogene Regulierungen, das neunte Kapitel thematisiert Zertifizierungen, Monitoring und Kampagnen, das zehnte greift entstehende supra- und transnationale Governance auf und im abschließenden elften Kapitel werden Perspektiven internationaler Erwerbsregulierung aufgezeigt. Angesichts der Vielfalt ist es kaum möglich, diese Kapitel zu resümieren, zumal auch keine übergreifenden theoretischen Argumente entwickelt werden. Wer allerdings auf der Suche nach empirischen Einsichten in das Thema Erwerbsregulierung ist, der wird hier immer wieder fündig – ein Index erleichtert den Zugang.

Vergebene Möglichkeiten

Insgesamt gelingt es dem Autor grundsätzlich auf die weltweite Vielfalt und Vernetzung im Bereich der Erwerbsregulierung aufmerksam zu machen. Aber so interessant diese Beschreibungen im Einzelfall auch sind, so klar muss man sagen, dass der Begriff der Transnationalisierung (oder die entsprechenden Derivate) zwar den Blick für diese Verflechtungen oder „Netzwerktexturen“ (ebd., 248) öffnet, aber nur eine geringe Erklärungskraft besitzt.

Im Vergleich der Beispiele Erwerbsregulierung und Migrationsforschung kann man auch erahnen, weshalb dieser verlockend einfache, aber dann tückisch schwere Begriff der Transnationalität im Fall der Migrationsforschung ungleich mehr verfängt als im Fall der Erwerbsregulierung. Im Fall der modernen Massenmigration ist mit dem Nationalstaat, wie oben skizziert, konstitutiv zu rechnen. Dieses ko-konstitutive Verhältnis von Nation, Migration und nachfolgend Transnationalität ist im Fall der Erwerbsregulierung weniger eng. Zweifellos gibt es nationale Gesetzgebungen, die von Unternehmen angefochten oder hintergangen werden, aber es ist nicht der Nationalstaat per se oder alleine, der das Regulierungsmoment qua eigener Existenz schafft, sondern ein sich zunehmend unabhängig verstehendes Rechtssystem. Das Buch zeigt diese Unabhängigkeitsbewegungen des Rechtssystems implizit auf, ohne sie theoretisch angemessen zu fassen.

Fazit

Konnte die Transnationalismusthese vor bald 20 Jahren wegen ihres Irritationspotenzials gut punkten, so ist diese irritative Kraft heute weitgehend verschwunden. Das Thema jedoch ist aktueller denn je. Pries’ Ausweitungen der Transnationalismusthese machen das überdeutlich. Die Tatsache, dass es Pries und vielen anderen bis heute nicht gelungen ist, den Begriff theoretisch zu kontrollieren, führt zu den dargestellten Schwächen. Zukünftigen Forschungen ist daher dringend anzuraten, die Transnationalismusthese zu relativieren und sie unbedingt auf bestehende Wissensbestände zu beziehen. Auch wenn in diesen der Begriff der Nation vielleicht zu oft vorkommt oder gar dominiert, rundherum abzulehnen sind sie deshalb nicht. So gesehen hat die Transnationalismusthese manches Bild der Welt in den Grundfesten erschüttert und manchem Bild einen neuen Anstrich verpasst. Sonderlich kohärent und im Sinne eines positiven Argumentes ist das aber zumindest in den beiden besprochenen Büchern nicht.

Literatur
Axelrod, Robert (2009 [1984]): Die Evolution der Kooperation. München.

Bommes, Michael (1999): Migration und nationaler Wohlfahrtsstaat. Ein differenzierungstheoretischer Entwurf. Wiesbaden.

Bommes, Michael (2002a): Ist die Assimilation von Migranten alternativlos? Zur Debatte zwischen Transnationalismus und Assimilationismus in der Migrationsforschung. In: Michael Bommes, Christine Noack und Doris Tophinke (Hg.): Sprache als Form. Festschrift für Utz Maas zum 60. Geburtstag. Wiesbaden. S. 225-242.

Bommes, Michael (2002b): Migration, Raum und Netzwerke. Über den Bedarf einer gesellschaftstheoretischen Einbettung der transnationalen Migrationsforschung. In: Jochen Oltmer (Hg.): Migrationsforschung und Interkulturelle Studien: Zehn Jahre IMIS. Osnabrück. S. 91-105. (= IMIS-Schriften, Bd. 11).

Bommes, Michael (2003): Der Mythos des transnationalen sozialen Raumes. Oder worin besteht die Herausforderung des Transnationalismus für die Migrationsforschung? In: Dietrich Thränhardt und Uwe Hunger (Hg.): Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat. Wiesbaden. S. 90-116. (= Leviathan Sonderheft 22/2003).

Brubaker, William Rogers (2001): The return of assimilation? Changing perspectives on immigration and its sequels in France, Germany, and the United States. In: Ethnic and Racial Studies 24. S. 531-548.
Deutschmann, Christoph (2001): Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus. Frankfurt a.M./New York.

Esser, Hartmut (2003): Ist das Konzept der Assimilation überholt? In: Geographische Revue 5. S. 5-21.

Glick Schiller, Nina, Linda Basch und Christina Szanton Blanc (1992): Transnationalism: A New Analytic Framework for Understanding Migration. In: Annals of the New York Academy of Sciences. S. 1-24.

Merton, Robert K. (1936): The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action. In: American Sociological Review 1. S. 894-904.

Pries, Ludger (1996): Transnationale Soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexico-USA. In: Zeitschrift für Soziologie 25. S. 456-472.

Pries, Ludger (2000): Transnationalisierung der Migrationsforschung und Entnationalisierung der Migrationspolitik. Das Entstehen transnationaler Sozialräume durch Arbeitswanderungen am Beispiel Mexiko-USA. In: Michael Bommes (Hg.): Transnationalismus und Kulturvergleich. Osnabrück. S. 55-77. (= IMIS-Beiträge 15/2000).

Pries, Ludger (2003): Transnationalismus, Migration und Inkorporation. Herausforderungen an Raum- und Sozialwissenschaften. In: Geographische Revue 5. S. 23-39.

Pries, Ludger (2010a): Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden.

Pries, Ludger (2010b): Erwerbsregulierung in einer globalisierten Welt. Wiesbaden.

Pries, Ludger (2010c): (Grenzüberschreitende) Migrantenorganisationen als Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung: Klassische Problemstellungen und neuere Forschungsbefunde. In: Ludger Pries und Zeynep Sezgin (Hg.): Jenseits von ›Identität oder Integration‹. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen. Wiesbaden. S. 15-60.

Stichweh, Rudolf (1998): Migration, nationale Wohlfahrtsstaaten und die Entstehung der Weltgesellschaft. In: Michael Bommes und Jost Halfmann (Hg.): Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten. Theoretische und vergleichende Untersuchungen. Osnabrück. S. 49-62. (= IMIS-Schriften, Bd. 6).

Weber, Max (1985 [1917]): Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, ed. Johannes Winckelmann. Tübingen: Mohr.

Weick, Karl E. (1979): The Social Psychology of Organizing. Reading.
Wimmer, Andreas und Nina Glick Schiller (2002): Methodological nationalism and beyond: nation-state building, migration and the social sciences. In: Global Networks 2. S. 301-334.


Zitierweise:
Pascal Goeke  2012: Globalisierung und Transnationalisierung. Begriffe zwischen metaphorischem und theoretisch kontrolliertem Gebrauch. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1461-pascal-goeke-globalisierung-und-transnationalisierung

Anschrift des Verfassers:
Dr. Pascal Goeke
Economic Geography Unit
Department of Geography
University of Zurich - Irchel
Winterthurerstr. 190
CH-8057 Zurich, Switzerland

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