Hans-Dietrich Schultz: Geographie oder Geographien? Die Einheitsfrage aus der Perspektive ungeschehener Geschichte1
1 Zur Fragestellung
Fächer sind nach dem Kulturwissenschaftler Klaus P. HANSEN kein Abbild der Wirklichkeit, sondern gesellschaftliche „Abstraktionen", die „aus der ganzheitlichen Wirklichkeit einen bestimmten Teilbereich oder Teilaspekt mehr oder minder willkürlich aussondern". Sie „rekurrieren nicht auf schon a priori und von Natur auf für sich bestehende Bereiche der Wirklichkeit, sondern schaffen diese erst". Jede Abstraktion könne jedoch „durch eine andere ersetzt werden, wie sich bei der Entstehung neuer Fächer immer wieder beobachten" (HANSEN 1993, 99) lasse. Die Universität und ihre Fakultäten könnten daher auch ganz anders aussehen, wenn die Ausdifferenzierungen anders ausgefallen wären.
Für den Wissenschaftshistoriker bedeutet dies, auch nach den nur angedachten, nicht erst auf den Weg gebrachten oder wieder abgebrochenen Abstraktionen zu fragen und zu überlegen, wie die Entwicklung der Wissenschaften verlaufen wäre, wenn sich alternative Abstraktionen durchgesetzt hätten.
Ja, diese konjunktivische Fragestellung ist für den Historiker geradezu konstitutiv, wie Alexander DEMANDT mit seiner „Ungeschehenen Geschichte" (21986) an zahlreichen Beispielen gezeigt und mit einer Fülle von theoretischen Argumenten untermauert hat. Selbst die Gegner des Konjunktivs müssen unfreiwillig auf das Nichtgeschehene zurückgreifen, um ihren Gewichtungen und wertenden Schlüssen Plausibilität zu verleihen. Erst recht aber kann man aus der Geschichte nur lernen, wenn es zur geschehenen Alternativen gab, die eine Realisierungschance hatten, sonst wäre alles so gekommen, wie es kommen musste.
In der Geographie selbst stellte Ferdinand von Richthofen in seiner berühmten Leipziger Antrittsrede von 1883 die für die Entwicklung des Faches entscheidende „Was-wäre-wenn-Frage": „Hätte Humboldt die Geographie auf dem einzigen, damals für sie an einer Universität bestehenden Lehrstuhl vorgetragen, und wäre Ritter der Privatgelehrte gewesen, so hätte vielleicht die physikalische Geographie, welche den synthetischen Länderbeschreibungen fast unvermittelt gegenüberstand, den Sieg davon getragen" (RICHTHOFEN 1883, 44f.).
Man kann aber Richthofens „Was-wäre-wenn-Frage" auch auf ihn selber anwenden: Was wäre aus der Geographie geworden, wenn er und Albrecht Penck, beide ausgebildete Geologen, nicht durch bestimmte Umstände auf einen Geographielehrstuhl gekommen wären, sondern auf einen Geologielehrstuhl? Wäre dann die Geomorphologie, die die Geographie lange Zeit dominierte, als Oberflächengeologie bei der Geologie geblieben und dort weiterentwikkelt worden, während die staatenkundliche Tradition der Geographie ausgebaut worden wäre?
Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, welche Entwicklung die Geographie hätte nehmen können, wäre nicht die (preußische) Politik gewesen, die ihre Bildungsinteressen durch die moderne naturwissenschaftliche Fachentwicklung gefährdet sah, und wären die damals führenden Vertreter der Geographie insgesamt mutiger gewesen, den bereits eingeschlagenen Weg in Richtung Geowissenschaften zu Ende zu gehen.
2 Die klassische Geographie als Wissenschaft und Schulfach
Ich springe zurück ins 17./18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung, und beginne mit der Diskussion um die schulische Bildung, die für die Akademisierung und Professionalisierung der Geographie von besonderer Bedeutung werden sollte. Diese wurde damals und in Wellen das ganze 19. Jahrhundert hindurch von der Stellung der so genannten Realien bestimmt, den Fächern mit empirischem Weltbezug, die mit dem erstarkenden bürgerlichen Selbstbewusstsein den althergebrachten Fächerkanon der höheren (Gelehrten-) Schulen bedrohten, der sich ganz auf die Humaniora stützte, auf die klassischen Studien, also vor allem Latein und Griechisch. Sie allein galten den Freunden des Altertums als bildend, während die Sachfächer lediglich von lebenspraktischem Nutzen seien und statt einer wahren Geistesbildung lediglich eine Fachbildung vermitteln würden. Zu diesen angefeindeten Realien rechneten Heimat-, Welt- und Erdkunde (Geographie), ferner Geschichte, Naturgeschichte, Naturlehre und Chemie, die wiederum Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen sein konnten, z.B. Astronomie, Mineralogie, Land- und Gartenbau.
Paradigma der Realiengeographie war für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts Anton Friedrich Büschings „Neue Erdbeschreibung". Abgesehen von der Bestimmung aller geographischen Erkenntnis als Beitrag zum Lobe Gottes und seiner Schöpfung pries Büsching ihren vielfachen praktischen Nutzen für die unterschiedlichsten Berufe, ferner zur Orientierung für Reisende, für geistreiche Gespräche auf Gesellschaften, zur Kenntnis der eigenen Herkunft und nicht zuletzt für ein verständiges Zeitungslesen.
Genau dies – die topographische Verortung von Zeitungsnachrichten und die Förderung des eigenen und gesellschaftlichen Vergnügens – erwartete KANT von der Geographie, die er zur „Vorübung in der Kenntniß der Welt" als „physische Geographie" in den „akademischen Unterricht" einführte und jahrzehntelang las. „Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt eingeführt wird" (KANT [1775], 443). Ausdrücklich brach KANT eine Lanze für das Sachwissen von der Welt, das „allein die Einheit der Erkenntnis" garantiere. „Darf ich", fragte er rhetorisch, „nicht auch in einem geselligen Jahrhunderte, als das jetzige ist, den Vorrath, den eine große Mannigfaltigkeit angenehmer und belehrender Kenntnisse von leichter Faßlichkeit zum Unterhalt des Umganges darbietet, unter den Nutzen rechnen, welchen vor Augen zu haben, es für die Wissenschaft keine Erniedrigung ist?" (KANT [1765], 313).
Zur Erläuterung der Aufgaben der „physischen Geographie" bemerkte KANT in seiner Vorlesungsankündigung von 1757, dass die Geographie (so war es üblich) in eine mathematische, physische und politische eingeteilt werde, wobei die physische „bloß die Naturbeschaffenheit der Erdkugel und, was auf ihr befindlich ist: die Meere, das feste Land, die Gebirge, Flüsse, den Luftkreis, den Menschen, die Thiere, Pflanzen und Mineralien" (KANT [1757], 3) zu erwägen habe. In seiner Vorlesungsankündigung für das Winterhalbjahr 1765/66 erklärte er, sie sei „das eigentliche Fundament aller Geschichte". Als Teil der „Historie von dem jetzigen Zustande der Erde", einer „Geographie im weitesten Verstande", habe sie zunächst „die Merkwürdigkeiten der Natur durch alle drei Reiche" anzuzeigen, wobei solche auszuwählen seien, die sich „durch den Reiz ihrer Seltenheit" auszeichnen würden, „oder auch durch den Einfluß, welchen sie vermittelst des Handels und der Gewerbe auf die Staaten haben". Ihr zweiter Teil, die „moralische
Geographie", betrachte „den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde", der dritte Teil, die „politische Geographie" habe es mit dem „Zustand der Staaten und Völkerschaften auf der Erde" zu thun und sei „eine Folge aus der Wechselwirkung" (KANT [1765], 312f.) der Kräfte der Natur und des Menschen.
In der von Rink herausgegebenen „Physischen Geographie" heißt es, sie habe den „Schauplatz der Natur, die Erde selbst und die Gegenden, wo die Dinge wirklich angetroffen werden" (KANT [1802], 160), darzubieten. Sie sei „ein allgemeiner Abriß der Natur", der „Grund der Geschichte" und „aller übrigen möglichen Geographien" (ebd. 164f.). Die „mathematische Geographie" handele „von der Gestalt, Größe und Bewegung der Erde, so wie von ihrem Verhältnisse zu dem Sonnensysteme"; die „moralische Geographie" rede „von den verschiedenen Sitten und Charakteren der Menschen nach den verschiedenen Gegenden" der Erde; die „politische Geographie" gründe „gänzlich auf die physische Geographie", da sich die bürgerliche Gesellschaft und ihre Gesetze „gleichfalls auf die Beschaffenheit des Bodens und der Einwohner" bezögen, die „mercantilische Geographie" zeige an, „warum und woher ein Land dasjenige im Überflusse" habe, „dessen ein anderes entbehren" müsse, die „theologische Geographie" schließlich sei notwendig, weil „die theologischen Principien nach der Verschiedenheit des Bodens mehrentheils sehr wesentliche Veränderungen erleiden" (ebd. 164f.) würden.
Das Pendant auf der Seite des Menschen, mit der Kant die „Kenntniß der Welt" komplettierte, war die „Anthropologie", die in „physiologischer (…) Hinsicht" das erforsche, „was die Natur aus dem Menschen" mache (hierher gehören auch Kants Schriften zur Rassenentstehung), und „in pragmatischer Hinsicht", was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber" (KANT [21800], 119) mache. Wenn jemand sage, „er kenne die Welt", so meine dies, „daß er den Menschen und die Natur kenne" (KANT [1802], 159). Was auch die Fähigkeit zur Anwendung dieser Kenntnisse einschloss.
Außer den verschiedenen Geographien kannte Kant noch eine „geographische Lehrart", worunter er einen Durchgang nach den „Ländern der Erde" (KANT [1757], 9) verstand, der ein Potpourri von Einzelheiten bot, ohne erkennbares Ordnungsprinzip. Eine Stütze der praktischen Vernunft und des Verstandes war der regionale Teil seiner „Physischen Geographie" gewiß nicht, sondern mehr eine Rumpelkammer von Kuriositäten.
Wie leicht zu sehen, war Kants Geographieverständnis noch meilenweit von der länderkundlichen Einheitsgeographie entfernt, die sich nach 1870 in heftigen methodologischen Konvulsionen endgültig etablierte. Geographie war für ihn noch ein überaus weitläufiger Wissenskomplex. Zusammen mit der Anthropologie, reduziert nach bestimmten Selektionskriterien, sollte sie das empirisch erfahrbare Wissen von der Welt der praktischen Vernunft verfügbar machen, wobei in Ansehung von Raum und Zeit die Geographie in Geschichte und die Geschichte in Geographie umschlug, beide somit nur verschiedene Betrachtungsweisen derselben Sache waren. Kant wurde nicht müde zu betonen, dass die Kenntnis der Welt leicht angeeignet werden könne und zugleich sehr unterhaltsam sei: eben eine populäre Wissenschaft. Schon 1757 setzte der Philosoph die mathematische, politische und physische Geographie von dem „Geschäfte der Physik und Naturgeschichte" mit dem Argument ab, Erstere seien „nicht mit derjenigen Vollständigkeit und
philosophischen Genauigkeit" wie jene zu behandeln, „sondern mit der vernünftigen Neugierde eines Reisenden, der allenthalben das Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelten Beobachtungen vergleicht und seinen Plan überdenkt" (KANT [1757], 3). Denn „nichts", meinte er, sei „fähiger", „den gesunden [pragmatischen] Menschenverstand mehr aufzuhellen als gerade die Geographie", nur habe die „gewöhnliche Schulgeographie" (KANT [1802], 163) darin bislang versagt.
Für die Lehrplanorganisation der Anhänger der Realienbildung bedeutete die Existenz der Geographie im Plural allerdings, dass ihre Teile an verschiedene Fächer oder Fachgruppen angeschlossen wurden. So unterschied RESEWITZ (1773, 129) zwischen einer
„Erdbeschreibung", die er als einen Teil der „Geschichte" verstand, und einer „physikalischen Geographie", die davon getrennt als „Naturwissenschaft" firmierte. Ziel der „Erdbeschreibung" sei es, den Schülern einen „Begriff von dem natürlichen, moralischen und bürgerlichen Zustande jeder Weltgegend" (ebd. 98) zu vermitteln. Dieser Unterricht gipfelte in einer vergleichenden Geographie der Völker, ihrer „Denkungsart und Sitten", ihrer Verfassungsverhältnisse, der klimatischen Unterschiede und der Produkte ihrer Reiche und ihres Handels miteinander, um „Wohlstand und Bedürfnisse eines jeden Volkes kenntlich" (ebd.) zu machen. Als Ziel der „physikalischen Geographie" bestimmte Resewitz, „die Geschichte der Natur im Großen" vorzutragen. Sie handele „von dem, was wir am Himmel und über der Erde bemerken, dann von den Abänderungen die auf der Erde, und endlich von denen, die in und unter der Erde zu beobachten sind" (ebd. 130).
Schon bald geriet jedoch vor allem die politische Geographie in Verruf. Ihre Werke galten als unzumutbare Ansammlung von Kuriositäten und rasch überholtem Gedächtniskram, bestenfalls nach einem bestimmten (später als „länderkundlich" bezeichneten) Schema schubladisiert. Nachdem sich im Gefolge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege außerdem die Staaten immer kurzlebiger und die Staatengeographien immer rascher als Makulatur erwiesen, begann sich ein neues Geographieverständnis herauszubilden, das sich allmählich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gegen andere Konzepte durchsetzte: Diese neue Geographie, die bis in die 1960er Jahre hinein Bestand haben sollte, überließ die Staaten zwar nicht ganz der
Statistik oder Staatenkunde, doch ihr Gegenstand waren die Länder, die als Natur-Kultur-Räume nur im Idealfall mit Staaten zusammenfielen (und dies nach Auffassung mancher Geographen auch sollten). Dieser Wandel ging zwar nicht auf Carl Ritter zurück, war aber mit seinem Namen eng verbunden.
Ritter, der jahrzehntelang als Hauslehrer wirkte und ursprünglich Historiker hatte werden wollen, lehrte seit 1820 an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin und fast 40 Jahre lang an der Berliner Universität. Er hatte zunächst eine außerordentliche Professur für „Erd-, Völker-, Länder- und Staatenkunde" inne, die 1825 in eine ordentliche Professur für „Länder- und Völkerkunde und Geschichte" umgewandelt wurde. Er vertrat somit kein Einzelfach, sondern eine historisch ausgerichtete Disziplinengruppe. Und so blieb auch das Schulfach, das schon vor Ritters Wirken in Berlin nur die ‚äußere Seite'" der Geschichte war, die auf keinen Fall „zu sehr ‚als eine freie und selbständige Disziplin' hervortreten" (SCHWARTZ 1910, 183) dürfe, weiterhin eng mit der Geschichte verbunden, während die physikalische Geographie als Teil der Naturwissenschaften ganz eigene Wege ging.
Was verstand RITTER unter Geographie? Schon seine Definition macht deutlich, dass Geographie und Geschichte für ihn (wie üblich) zwei Seiten derselben Medaille waren. Die Geographie definierte er als „Wissenschaft der irdischerfüllten Raumverhältnisse", die Geschichte als „Wissenschaft der irdisch erfüllten Zeitverhältnisse" (RITTER 1834, 1f.). Während der Historiker für das „Nacheinander von Begebenheiten" resp. „die Aufeinanderfolge und die Entwicklung der Dinge im Einzelnen und im Ganzen" zuständig sei, habe es der Geograph mit „den Beschreibungen und Verhältnissen des Nebeneinander der Örtlichkeiten, als solche, in ihren besondersten Vorkommen wie in ihren allgemeinsten tellurischen Erscheinungen" zu tun. Die Ordnung der Dinge und der Lauf der Dinge gehörten wie die zwei Seiten zur selben Medaille.
Die „Einheit" der Geographie als Wissenschaft ergab sich für Ritter aus ihrem Gegenstand, der Erde, die für ihn kein „todtes Aggregat einer unorganisirten Natur" war, sondern ein sich „fort und fort entwikkelnder Naturkörper", der „seine Lebenskeime zu weiterer Entfaltung in sich" trage und „erst durch dieses ihr lebendiges Prinzip zu einem Ganzen" (RITTER 1862, 13) werde. Als „Erziehungsanstalt" von Gott dem Menschen zum Wohnplatz gegeben, steuerte sie den Umgang der Völker mit der Natur ihrer Länder, den die Geographie im Verbund mit der Geschichte vergleichend nach Räumen und Zeiten beschreiben und erklären sollte, wobei Ritters Erklärungen kausal gedacht, aber in ein teleologisches Verstehenskonzept eingebettet waren. Geniale Forscher, so hoffte er, würden dereinst „mit ihrem Scharfblick zugleich die natürliche wie die sittliche Welt umspannen", um „aus der Totalität ihrer welthistorischen Begebenheiten" den „nothwendigen Entwicklungsgang jedes einzelnen Volks auf der bestimmten Erdstelle vorherzuweisen". So
würden sie ihm sagen können, welchen Weg es einzuschlagen habe, um „die Wohlfahrt zu erreichen", die ihm vom „ewig gerechten Schicksale zugetheilt" (RITTER 21822, 5f.) worden war.
So viel wusste Ritter selbst schon: Nacheinander würden die Kontinente gemäß ihrer individuellen Gestalt und ihren besonderen Naturverhältnissen dem Gang der Kultur über die Erde den Weg weisen. Aktuell habe Europa die Führungsrolle, doch schon dämmere Amerika als Führungskontinent der Zukunft am Horizont herauf.
Unterrichtspraktisch führte die Vorstellung, dass die Geographie Fundament und Schauplatz der Geschichte sei, dazu, dass die Kultusbürokratie sie nur als ein typisches Unter- und Mittelstufenfach ansah, statt die Verbindung beider bis zur Oberstufe durchzuziehen. Den Vertretern der Geschichte war dies nur recht, sie dachten gar nicht daran, sich für die Geographie oder gar noch die Naturkunde stark zu machen, und wussten die Behördenvertreter für Jahrzehnte auf ihrer Seite, zumal diese selbst in ihrer Jugend den Geographieunterricht nur als eine Gedächtnisdisziplin und Quälerei für die Dummenschulung erlebt hatten.
3 Die Kontroverse um den Bildungsbeitrag der Naturwissenschaften
Ritters religiös-transzendente Fundamentierung der Geographie, die heute befremden mag, war damals im Bildungsbereich un-vermeidlich. Ohne Gott in der Rhetorik brauchte niemand Forderungen an das Bildungssystem zu stellen. Fächer, die verdächtig nach Gottlosigkeit rochen, aber nicht völlig aus der Schule herausgehalten werden konnten, sollten unbedingt begrenzt bleiben. Das bekamen besonders die Naturwissenschaften unter den Realien zu spüren, denen nachgesagt wurde, den Atheismus zu fördern und den christlichen Schöpfergott in das Reich der Fabelwesen, Hirngespinste und Trugbilder verwiesen zu haben. Sie galten als Frucht der Aufklärung, die bekämpft gehöre.Tatsächlich hielten einige radikale Aufklärer (vgl. BLOM 2011, 202ff.) Gott lediglich für eine Projektion des Menschen auf die Natur, die seiner tiefen Sehnsucht nach Sinn entsprungen sei. Zugleich prangerten sie die Instrumentalisierung Gottes zur Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen durch die Kirche und die herrschenden Stände an. Die gesellschaftspolitische Sprengkraft dieses aufgeklärten Weltbildes liegt auf der Hand: Der Anspruch des Einzelnen auf ein glückliches Leben konnte nicht ins Jenseits verschoben werden, die Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse und seines persönlichen Glücks musste in dieser Welt, also auf Erden geschehen. Der Argwohn der Unterrichtsverwaltungen gegenüber den Naturwissenschaften war somit verständlich.
Beide Seiten, die Proponenten eines verstärkten Naturunterrichts und die Verteidiger der theologisch-altsprachlichen Bildung, schenkten sich an Vorwürfen und Unterstellungen nichts. Doch es ging um mehr als nur um Bildungsideen. Würden die Absolventen der Realanstalten (die später zu Schulen mit Abiturabschluss, Realgymnasien und Oberrealschulen, ausgebaut wurden) zu Dingen berechtigt sein, zu denen bisher nur die Absolventen der Gymnasien berechtigt waren, so würden die alten Eliten Konkurrenz bekommen und könnten bestimmte akademische Berufe sowie Positionen im Staatsdienst und beim Militär nicht mehr länger als ihre alleinige Domäne betrachten. Der Bildungskampf war auch ein Klassenkampf.
Eine erste große Welle bildungspolitischer Konfrontationen betraf die Zeit von 1820 bis 1840, eine zweite Welle folgte nach der Reichsgründung. Die Argumente der Gegner der naturwissenschaftlichen Bildung blieben dabei verblüffenderweise trotz voranschreitender Industrialisierung gleich. Es waren im Wesentlichen:
1.
das Revolutionsargument: Die Realanstalten produzieren nur „wahre Kinder der Zeit, Umwälzungsmenschen, die Alles bessern wollen, nur nicht sich selbst", „ein gebildeter Mensch, der den Namen verdient, wird nie aus ihnen hervorgehen" (Anonymus zit. n. THIERSCH 1838, 250);
2.
das Stoffhubereiargument: Durch die Ausweitung der Naturwissenschaften werden die höheren Schulen zu „Dampfmaschinen des Enzyklopädismus" (GROßMANN 1834, 183). Geist und Gedächtnis werden übermäßig beschwert, Verwirrung und Chaos greifen um sich;
3.
das Hybrisargument: Die Verallgemeinerungen auf der Basis der Anschauung vereinzelter Erscheinungen „in der Geognosie und Geologie, aus der Fauna und Flora (…) führen den Geist zu einer Art wissenschaftlichen Aberglaubens", der „die schönen und sinnigen Schlüsse" auf diesen Gebieten „für wahr nimmt, ohne auch nur im Geringsten die Prüfungsfähigkeit zu besitzen, ja ohne auch nur zu ahnen, wieviel zur Feststellung einer einzigen solchen, dem realen Sein abgewonnenen Wahrheit gehöre" (SCHEIBERT 1848, 131);
4.
das Trivialisierungsargument: „Bei dem Unterrichte in der Naturwissenschaft giebt's Bilderchen, Experimentchen. Kabinetsstückchen, die der Schaulust der Jugend Nahrung gewähren; Anekdötchen aus Reisebeschreibungen, Receptchen für den Hausbedarf und überdies noch Würze des Vortrags; bei den Alten hingegen und in der Mathematik und Geschichte giebt es wenig der Art für verwöhnte Gaumen; da ist das Losungswort Ernst und Anstrengung" (GROßMANN 1834, 183);
5.
das Gottlosigkeits- und Materialismusargument: „Die religiös-sittliche Bildung gewinnt durch eine poetische Ansicht der Natur, durch gesunden Natursinn, durch fromme Naturbetrachtung; aber nicht durch das Zerlegen und Anatomiren von Pflanzen und Thieren durch Naturwissenschaft. Im Gegentheil, die Erfahrung lehrt, daß diese oft zum Materialismus und Pantheismus verleitet" (GROßMANN 1834, 187).
Diesem religiösen Indifferenzialismus oder gar Atheismus hielt man die positive Kraft der formalen Bildung entgegen, die allein die Denkkraft vor dem Aushungern bewahre. Wer mit den alten Texten das klassische Altertum verstehe und innerlich durchdringe, der verstehe auch die Moderne, der sei gefeit gegen alle sittlichen und sonstigen Gebrechen der Zeit, könne dem Wort Gottes die rechte Gestalt geben und sei auch für das Studium der Naturwissenschaften gut vorbereitet. Die Natur trage dagegen immer den Charakter des rein Äußerlichen und Oberflächlichen. Ein Staat aber, der auf Äußerlichkeiten aufbauen wolle, der lege den Grund für seinen Verfall. Welch düstere Aussichten!
Die Verteidiger der Naturwissenschaften führten dagegen ins Feld, dass eine tatsachenfreie Schulung des allgemeinen Denkvermögens pure Illusion sei und schon gar nicht aus den Paukübungen in der Grammatik der alten Sprachen hervorgehe. Hinzu komme, dass die wenigsten Menschen am Ende ihrer Schulzeit die alten Sprachen wirklich beherrschen, geschweige denn die Inhalte der Texte verstehen würden oder gar noch freiwillig lesen wollten. Warum, spottete ein Verteidiger der Realbildung (SCHMEDIG 1872, 28), statte man nicht auch die Volksschulen mit den alten Sprachen aus, wo sie doch so bildend seien, statt dort Heimatkunde, Geographie oder Deutsch zu lehren?
Positiv ging es den Realienanhängern darum zu zeigen, dass die Naturkräfte nicht blinde Agenten des Zufalls waren, nicht nur Mittel zum Zweck, sondern einen Eigenwert besaßen, der auf eine höhere Vernunft verwies. Folgende Argumente sollten überzeugen:
1.
das Wahrheitsargument: Die Naturwissenschaften vermitteln durch immer genauere empirische Beobachtung die harten Tatsachen der Wirklichkeit, die unter der Herrschaft der ewigen, unveränderbaren, nie irrenden Wahrheit der Naturgesetze stehen, denen sich auch der Mensch fügen muss. Er kann der Natur die Gesetze nicht vorschreiben, sondern sich ihrer nur bedienen. Aberglauben, Mystizismus und Vorurteile werden schwinden und mit ihnen der Glaube an ein blindes Schicksal;
2.
das Gottesargument: Die Natur ist von Gott gegeben, ein Tempel der Offenbarung seiner Allmacht, Weisheit und Güte. Der Sinn der Natur drückt sich in ihren Gesetzen aus; wer sie erkennt, der erkennt in ihnen Gott. Naturforschung ist somit nichts anderes als Gottesverkündung und das Lesen im Buch der Natur das probateste Mittel, die Religiosität aufrechtzuerhalten;
3.
dasGanzheits- und Versöhnungsargument: Die Wissenschaft von der Natur spaltet nicht, sie versöhnt, denn Natur ist Einheit, Vernunft, Ordnung, Wechselwirkung, Gleichgewicht und Harmonie im Kampf der Gegensätze, ein lebendiger Organismus. Tod und Schrecken fallen nur scheinbar aus den ewigen Kreisläufen des Ganzen der Natur heraus. So schwächt die Beschäftigung mit ihr nicht den Charakter, sondern stärkt ihn. Naturkenntnisse sind daher die beste Palliativmedizin gegen revolutionäre Tendenzen;
4.
das Denkschulungsargument: Die Naturgesetze können bewiesen werden, an ihnen kann sich der menschliche Geist schulen. Im Gegensatz zum aprioristischen Vorgehen der humanistischen Fächer schreiten sie auf induktivem Wege vom Einzelfall zum Allgemeinen, von der sinnlichen Beobachtung zu Regel und Gesetz. Zu Recht werden daher die Naturwissenschaften als exakte Wissenschaften bezeichnet;
5.
das Wohlstandsargument: Die Naturgesetze erlauben es, dass der Mensch die Kräfte der Natur technisch nutzt, um sein Leben zu schützen, zu verbessern und den Wohlstand der Gesellschaft zu steigern. Der Gegensatz von Theorie und Praxis, von Wissen und Leben ist in den Naturwissenschaften aufgehoben. Durch Technik und Industrie wird die Natur verklärt.
Bezüglich der curricularen Organisation des naturwissenschaftlichen Unterrichts gingen die Auffassungen jedoch auseinander. Emil Adolf Roßmäßler, der an vorderster Front der naturwissenschaftlichen Bewegung stand, wollte auf den Gymnasien nur die „ungetheilte Naturwissenschaft, die Naturgeschichte" zulassen, nicht einzelne Disziplinen, die auf die Universität gehörten. „Multum non multa" lautete seine Devise (die heute die Neurowissenschaft vertritt). Würde man einzelne Fächer aufnehmen, würden diese sich nur um ihre Anteile oder „gar um den Vortritt" (ROßMÄßLER 1847, 31) zanken. Andere Vertreter der Bewegung legten ein aufeinander aufbauendes Curriculum für die unteren, mittleren und oberen Klassen vor. Nach einer sächsischen Denkschrift für die Gesellschaft Isis sollte in den oberen Klassen „das Ineinandergreifen aller dieser Theile der Naturwissenschaften … in einigen Hauptzügen" gezeigt werden, darunter „die Wechselwirkung der Thier- und Pflanzenwelt, die unaufhörlich fortgehenden Umwandlungen der Erde, sogar der Felsen und Gesteine" (RICHTER 1834, 51). An die Spitze des naturwissenschaftlichen Unterrichts setzte der Verfasser die „wissenschaftliche Astronomie" und die „physische und endlich psychische Anthropologie" (ebd. 51).
Natürlich konnten auch die Humanisten nicht ignorieren, dass das Buch der Natur immer mehr entziffert und die Welt nach ihren Gesetzen kräftig umgestaltet wurde. Dieser Bezug zum praktischen Leben blieb ihnen jedoch weiterhin suspekt. Und so hing die Bereitschaft der Mehrheit der Humanisten, auch vermehrt naturkundliche Kenntnisse in den Gymnasialunterricht aufzunehmen, entschieden davon ab, inwieweit diese zur Steigerung der Humanität und der Erweiterung des geistigen Horizontes beitragen würden. „Nicht die Natur an sich" komme für das Gymnasium in Frage, „sondern nur die Natur, die auf den Geist" (DILTHEY 1841, 279) einwirke.
4 Zwei Kulturen oder eine?
Während in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Schelling und Hegel mit ihren Einheitsvorstellungen vom Natur-Geist-Verhältnis die Philosophie dominierten, distanzierten sich die Vertreter der empirischen Naturwissenschaften immer mehr von deren spekulativen Ideen, ja standen überhaupt allen philosophischen Konstrukten, die das Natur-Geist-Problem identitätsphilosophisch zu lösen versuchten, ablehnend gegenüber. Besonders missfiel ihnen, dass sich die Naturwissenschaften den Ideen und Systemen der Philosophen unterordnen sollten. So kam nach Hermann von Helmholtz' Beobachtung zeitweise „ein schneidender und scharfer Gegensatz (…) zwischen den Naturwissenschaften auf der einen und den Geisteswissenschaften auf der anderen Seite" (HELMHOLTZ [1862], 165) auf.
Für HELMHOLTZ ([1862], 165) selbst war „ein solcher Gegensatz wirklich in der Natur der Dinge begründet". Er bestand für ihn darin, dass die Naturwissenschaften „meist im Stande" seien, „ihre Inductionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen", hingegen die Geisteswissenschaften „überwiegend mit Urtheilen nach psychologischem Tactgefühl zu thun" hätten. Nur „durch psychologische Anschauung" könne z.B. der Historiker „die oft sehr verwickelten und mannigfaltigen Motive der handelnden Völker und Individuen" (ebd. 172) aufsuchen. Der besondere wissenschaftliche Charakter der Naturwissenschaften drücke sich dagegen „erst in den experimentierenden und mathematisch ausgebildeten Fächern, am meisten in der reinen Mathematik" (ebd.
175) aus. Doch obwohl Helmholtz den Unterschied zwischen den beiden Wissenskulturen für durchgehend und grundlegend hielt und den Geisteswissenschaften sogar zugestand, die schwerere Aufgabe zu haben, empfahl er diesen gleichwohl, sich die höhere wissenschaftliche Norm der Naturwissenschaften vor Augen zu halten und von ihnen zu lernen, nämlich „unbedingte Achtung vor den Thatsachen und Treue in ihrer Sammlung, ein gewisses Mißtrauen gegen den sinnlichen Schein; das Streben, überall nach einem Causalnexus zu suchen und einen solchen vorauszusetzen" (ebd. 179). Gemeinsamer Zweck aller Wissenschaften sei es, „den Geist herrschend zu machen über die Welt" (ebd. 183), dazu sei auch ihr Ineinandergreifen und ihre wechselseitige Hilfe notwendig.
Schärfer noch als Helmholtz betonten andere Naturwissenschaftler den Primat des naturwissenschaftlichen Denkstils, wobei sie auch mächtig in die Bildungskontroverse zwischen Realismus und Humanismus eingriffen. Der alte diktatorische Anspruch der Philosophie wurde vom neuen Anspruch der Naturwissenschaften abgelöst, die das Auseinanderdriften der beiden Wissenschaftsgruppen durch Übertragung ihres eigenen auf die Sozial- und Geschichtswissenschaften für überwindbar hielten. „Naturwissenschaft ist das absolute Organ der Cultur, und die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit", proklamierte der Physiologe DU BOIS-REYMOND ([1877], 271). Gemeint war damit, dass die Kulturgeschichte sich mit der Geschichte der fortschreitenden Beherrschung der Natur durch den Menschen von der Prähistorie bis hin zur modernen Industriegesellschaft beschäftigen sollte. Nicht Könige und Kaiser, sondern Naturwissenschaftler und Techniker waren ihre Helden.
So erwuchs der traditionellen politischen Geschichtsschreibung in der Kulturgeschichtsschreibung teils eine Ergänzung, teils eine kräftige Opposition. Der Kulturhistoriker wandte sich von den Haupt- und Staatsaktionen ab und der Geschichte der Entwicklung des materiellen Lebens zu und bediente sich dabei einer dezidiert naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Rhetorik, um auch die Geschichte als einen der Notwendigkeit unterliegenden Naturprozess zu deuten. Die großen sittlichen Ideen, denen die großen Männer der Geschichte angeblich folgten, wurden unter dem Eindruck der Darwinschen Evolutionslehre durch den wirtschaftlichen und politischen Daseinskampf ersetzt, der ebenso unwandelbaren Gesetzen gehorche wie die Natur. So schien der Historiker mit dem Naturwissenschaftler gleichzuziehen. Statt sich in transnaturalen Sinn- Spekulationen und historischem Schicksalsgeraune zu verirren, sollte er in unverkennbarer Nähe zur klassischen Mensch-Natur-Fragestellung der Geographie eine regional differenzierte
Geschichte des Kulturfortschritts schreiben.
In diesen varianten- und konfliktreichen Diskurs (vgl. MEHR 2009), der hier nur angedeutet werden kann, platzte Wilhelm DILTHEY mit seiner (an sich nicht neuen) Unterscheidung von innerer und äußerer Erfahrung, von Einfühlung und Beobachtung. Die definitive Lösung des Streites schien in Sicht: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" (1894, 1314). Im ersten Fall brauchte man Hypothesen, um isolierte Fakten in einen Zusammenhang zu bringen, der somit konstruiert wurde, im zweiten war der Zusammenhang im psychischen Erleben der Wirklichkeit bereits gegeben. Während die Natur dem Menschen als bloss konstruierbare Einheit fremd und unfassbar bleiben musste, war der Mensch, da nicht Natur, stets bei sich selbst. So zog
Dilthey eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Bereichen, die sich methodisch nicht vertrugen. Doch bekam auch er, wenngleich weniger von Erfolg beschieden, Konkurrenz durch die Philosophen Wilhelm WINDELBAND (1904) und Heinrich RICKERT (4/51921), die davon ausgingen, dass ein und dieselbe Wirklichkeit von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden könne, zum einen dem Gesichtspunkt des Allgemeinen und Gesetzmäßigen und zum anderen dem des Einzelnen und Individuellen, einmal monothetisch, das andere Mal idiographisch!
5 Die Geographie eine Naturwissenschaft?
Welchen Stand hatten die Geographen in dieser Auseinandersetzung? Ihr Hauptproblem um und nach 1800 war, wie man die anschwellenden Datenmassen vom Himmel, von der Erde und vom Menschen in den Griff bekommen sollte. Ritters (von Herder und Schelling inspiriertes) Programm bestand darin, Natur und Mensch Land für Land, Landschaft für Landschaft in ungetrennter Einheit vorzuführen, doch wurde sein System mehr gerühmt als befolgt, und so wollte es einfach nicht gelingen, die Geographie merklich zu verschlanken und von anderen Wissenschaften deutlicher abzugrenzen. Vielmehr machte sie gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz Ritters Wirken eher den Eindruck einer zu groß geratenen Sammelwissenschaft, die immer noch expandierte und alles, was sich auf, unter und über der Erde befand, zu einem enzyklopädischen Allerlei zusammenstellte, das disparater kaum sein konnte. Es sei, stöhnte Karl von Raumer, „als hätten sich in unserer Zeit alle Wissenschaften und Künste bei der Geographie
ein Rendezvous zu einem Familienfest gegeben, weil sie erst jetzt sich ihrer Verwandtschaft bewußt geworden" seien: „Da kommen Astronomen, Physiker, Botaniker, Zoologen, Mineralogen, Sprachforscher, Statistiker – wer kann sie alle aufzählen?" (RAUMER 1847, 132).
Immerhin gab es den Versuch des Mindener Gymnasiallehrers Ernst Kapp, die Geographie mit Herder, Ritter und Hegel bruchlos vom Menschen her als Einheitsdisziplin philosophisch zu vollenden, indem er „die Arbeit" zur „Seele der Cultur" erklärte: „Die Cultur füllt die Kluft zwischen Natur und Geist, sie ist die ewige Brücke zwischen der Materie und dem Gedanken. In der Cultur kommt durch den Menschen die Natur zu sich, und erhält mittelst seiner Thätigkeit und Arbeit ihre Vollendung" (KAPP 1845/2, 365).
Zur Grundlage eines schulischen Curriculums eignete sich Kapps „Philosophische Erdkunde" jedoch schlecht, und so blieb die Geographie in der Stundentafel der humanistischen Partei der Unterbau der Geschichte, nur eine Hilfswissenschaft, der man stellvertretend für die ungeliebte Naturgeschichte sogar einiges aus der Produktenkunde übertragen wollte. An die Durchsetzung eigener Bildungsansprüche war unter diesen Umständen nicht zu denken. Treffend brachte ein Mathematik und Physik unterrichtender Gymnasialpädagoge die inferiore Stellung der Geographie an den höheren Schulen auf den Punkt: Sie laufe neben der Geschichte her, „wie der Schatten neben einem in der Sonne sich bewegenden Körper" (DEINHARDT 1839, 175). Nur ihre
mathematischen und physischen Teile sollten in Verbindung mit der Physik „zu einer großartigen Auffassung der Natur" (GROßMANN 1834, 185) an den höheren Schulen beitragen. Was die Schüler sonst noch an geographischem Wissen brauchten, sollte sie das Leben lehren.
Wie ging die naturwissenschaftliche Bewegung mit der Geographie um? Vor allem interessierte ihre Vertreter die „physikalische und mathematische Erdkunde", die in der erwähnten sächsischen Denkschrift zusammen mit Physik, Chemie und Astronomie als ein Teil der „Naturlehre" erschien, während die „Naturbeschreibung" mit der „Mineralogie, als die Geschichte der unorganischen Natur" (RICHTER 1847, 47) begann. Die physischen Geodisziplinen hielten, wie hieran deutlich wird, Distanz zu Ritters Geographie, und wo sie aufgegriffen wurde, geschah dies wohl oft mehr als Pflichtübung denn aus Überzeugung. Schon zu Beginn der 1840er Jahre notierte ein Beobachter (LÜDDE 1842, 42f.) der methodologischen Literatur, dass es Erdwissenschaftlern unangenehm sei, mit der Geographie in Verbindung gebracht zu werden. Alles wolle man sein, nur nicht als Geograph gelten, der eine minderrangige Schuldisziplin vertrete.
Befördert wurde diese Abneigung zusätzlich durch den teleologischen Standpunkt Ritters und seiner Schüler, der nicht in das naturwissenschaftliche Weltbild vom Gleichgewicht der Kräfte passte. Die Erde nur als für den Menschen eingerichteten „Wohnplatz" zu betrachten und nicht auch als Selbstzweck, war für den Physik- und Mathematik-lehrenden Christian Heinrich NAGEL (1840, 250.) Ausdruck „des gröbsten menschlichen Egoismus". Erst recht aber hielt er die Vorstellung vom Tod als „der Sünde Sold" (ebd. 252), wie sie der Ritter-Schüler Rougemont in seiner „Geographie des Menschen" propagiere, für absurd: „Ferne sey es, daß in unseren Anstalten dieser finstere Geist der Naturbetrachtung Eingang finde" (ebd. 253).
Jenseits solcher religiösen Bekenntnisse betrachtete aber gerade auch die rittersche Geographie die Beziehungen des Menschen zur Erdoberfläche durchweg nach naturwissenschaftlichem Muster als gesetzmäßige. Lebensweise, Charakter, Denkart, Gemüt und Kulturhöhe der Völker seien mehr oder weniger das getreue Abbild der morphologischen und klimatischen Kontraste ihrer Wohnsitze und von diesen erzeugt. Je günstiger deren äußere Verhältnisse, desto besser, höher, sicherer und glücklicher stünden ihre Völker dar. Gleichzeitig betonten dieselben Geographen aber die ständig wachsende Befreiung des Menschen von den Zwängen der Natur, die in einen totalen Sieg über sie und über Raum und Zeit münden werde. So pendelte das Fach zwischen einer Übertreibung der
Naturabhängigkeit auf der einen und Überschätzungen der menschlichen Freiheit auf der anderen Seite hin und her, ohne eine klare Linie zu finden.
Eine neue Sachlage ergab sich nach der Reichsgründung, die der Geographie endlich auf breiter Front in mehreren Schüben Lehrstühle und Extraordinariate bescherte. Anfangs, jedenfalls in Preußen, stand dabei das Motiv einer Verbesserung der Lehrerbildung im Vordergrund. Für die Erstbesetzung der Lehrstühle griff daher die Verwaltung vorwiegend auf Oberlehrer zurück, deren Fakultas von der Mathematik bis zu den alten Sprachen reichte. Diese Nicht-Geographen sahen sich plötzlich mit der wenig beneidenswerten Aufgabe konfrontiert, sich selbst und untereinander darüber zu verständigen, was Geographie sei, um massive Zweifel an der Universitätstauglichkeit des Faches auszuräumen. Virchow und Mommsen, der berühmte Arzt und der nicht minder berühmte Althistoriker, waren sich darin einig, dass die Universität mit der Akademisierung der Geographie auf das Niveau einer Volksbildungsanstalt reduziert zu werden drohte (vgl. Stenographische Berichte 1875, 585ff.).
Tatsächlich war die Geographie dabei, sich ganz an die Fortschritte der Naturwissenschaften zu binden, während ihre historische Seite rhetorisch zum bloß noch integralen Bestandteil herabgestuft wurde. Damit einhergehende Stundenforderungen wehrten Gymnasialvertreter mit dem Hinweis ab, man könne die meisten physischen Inhalte der Geographie leicht auf die bereits bestehenden Naturwissenschaften aufteilen. Dagegen wünschte sich Du Bois-Reymond bei einer Reform der Gymnasien in den höheren Klassen „nicht etwa Physik, Chemie mit Versuchen", sondern eine Stunde mehr für „Mechanik, die Anfangsgründe der Astronomie, der mathematischen und physikalischen Geographie" (DU BOIS-REYMOND [1877], 293).
Entscheidende Akzente für die naturwissenschaftliche Richtung setzte 1883 Richthofen, der von der Geologie zur Geographie gekommen war. Zur ureigenen Domänedes Faches erklärte er die Erdoberfläche, verstanden als Erdhülle, zu ihrem methodischen Prinzip die kausale Wechselwirkung der Erscheinungen auf ihr. Diese Bestimmungen waren nichts weniger als neu, bekamen aber durch die Autorität Richthofens als weltberühmter Chinaforscher ein völlig neues Gewicht. Das Problem der Begrenzung des Faches konnte er jedoch nicht beseitigen, im Gegenteil, für manchen Kritiker schien er es eher noch potenziert zu haben. Auch seine Versuche, das besonders umstrittene Verhältnis der Geographie zur Geologie zu präzisieren, überzeugten nicht. Eher unbemerkt blieb, dass Richthofen Ritters Geographie, die ja mit ihrem Wechselwirkungskonzept (Natur-Mensch, Mensch-Natur) die ganze Geographie sein wollte, auf „einedynamischeAnthropogeographie" (RICHTHOFEN 1883, 59) reduzierte. Er gestand allerdings den Vertretern dieser Richtung zu, dass die „heutige wissenschaftlichen Geographie" erst aus der Vereinigung der „exacten Methode der Naturwissenschaften" und der „idealen Anschauungsweise" (ebd. 72) Ritters hervorgehe. Wie diese Vereinigung aussehen sollte, ließ er
offen.
Im Jahre 1887, vier Jahre nach Richthofens Programmrede, kam dann der Paukenschlag Georg Gerlands, des Straßburger Ordinarius, der wagte, wovor von Richthofen noch zurückscheute, nämlich die Geographie als reine Naturwissenschaft zu definieren: als Geophysik in einem umfassenden Sinne, die das historische Element abwerfen sollte. Es sei völlig unmöglich, zwei gänzlich unterschiedliche Formen von Kausalität, eine physikalische und eine psychophysische, in ein und demselben Fach zu vereinen. Der Mensch als ein nach Motiven handelndes, wollendes Wesen habe in einer naturwissenschaftlichen Geographie nichts zu suchen.
Dieser Vorschlag stieß bei vielen jüngeren Geographen auf große Sympathien, war aber dennoch chancenlos. Der Grund war ein bildungspolitischer! Der preußische Kultusminister von Goßler hatte 1889 auf dem Achten Deutschen Geographentag, also kurz nach Gerlands Radikalempfehlung, unmissverständlich klargestellt, dass die Abkehr vom Menschen Auswirkungen auf die Stellung der Geographie im Lehrplan der Schulen haben würde. Der Wink war deutlich; denn die Schule war mit großem Abstand das Hauptberufsfeld für Geographiestudierende. Hier, in der Schule, sollte die Geographie nach den Worten Goßlers als „Bindeglied zwischen den beiden großen Gruppen der Disciplinen" wirken, um „in bevorzugtem Maße an der harmonischen Ausbildung unserer Jugend mitzuwirken" und „dem jugendlichen Geist die Einheit des Wissens zu vermitteln" (GOßLER 1889, 5). Damit war die Integrationsfunktion der Geographie amtlich gefordert. Ihre historisch-politische Seite durfte sie nicht aufgeben. Stundenversprechungen machte der Minister aber nicht.
So standen die Geographen nach dem Brücken-Ukas der preußischen Unterrichtsverwaltung vor der Entscheidung, entweder mit dem methodischen Dualismus des Faches zu leben oder doch noch eine zündende und überzeugende Einheitsformel zu finden, die Natur und Mensch unter ein gemeinsames Dach zwingen würde.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert mischte sich noch einmal Richthofen in diese Diskussion ein. In einer Denkschrift ließ er das preußische Kultusministerium wissen, dass Ritters Ideen „methodisch nicht entwicklungsfähig" seien, und bezeichnete die Verbindung der Geographie mit der Geschichte als „verhängnißvoll" (RICHTHOFEN 1983, 159) für die akademische Stellung des Faches. Dort, wo die kausale Abhängigkeit des Menschen von der Natur endete und seine bewusste Tätigkeit begann, sollte von Richthofen zufolge die Geographie aufhören. Eine Großstadt wie Berlin war für ihn kein Gegenstand des Faches mehr, weil eine kausale Beziehung zum Erdboden fehle (RICHTHOFEN [1898], 679). Organisatorisch schwebte Richthofen eine geowissenschaftliche Fakultät vor, doch das Ministerium lehnte diese Pläne ab. Ob die naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen überhaupt bereit gewesen wären, ihre errungene Selbständigkeit zugunsten der physischen Geographie aufzugeben, die Richthofen als Leitdisziplin
vorgesehen hatte, um die Ergebnisse jener „einheitlich" (ebd. 683) zusammenzufassen, war überdies höchst fraglich.
Auch im Schulbereich machte die preußische Verwaltung Nägel mit Köpfen. „Unbeschadet" ihrer „Bedeutung als Naturwissenschaft" habe die Geographie „vor allem … den praktischen Nutzen des Faches für die Schüler ins Auge zu fassen", daher dürfe „die physische Erdkunde nicht grundsätzlich vor der politischen" bevorzugt werden. Beide seien vielmehr in der Länderkunde „in möglichst enge Verbindung zu setzen" (LEHRPLÄNE 1901, 520). Ja, es kam noch schlimmer für die Schulgeographie an den höheren Schulen; denn nachdem in Preußen (wie anderswo) die prinzipielle Gleichwertigkeit der humanistischen und der realistischen Bildung anerkannt worden war, geriet sie an den höheren Schulen immer mehr unter den Druck der nun mit neuer Kraft
agierenden naturwissenschaftlichen Bewegung der Naturforscher und Ärzte die sich zugunsten von Biologie und Geologie schulpolitisch stark machte. Die Biologie hatte durch Darwins pädagogisch unerwünschte Lehre curricular einen schweren Rückschlag erlitten, die Geologie war bisher fast gar nicht als eigenständiges Fach vertreten. Führende Schulgeographen verloren die Nerven und plädierten für ein Doppelfach Geologie-Geographie. Nach zähen Verhandlungen kam kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs ein Friedensabkommen mit den Naturwissenschaften zustande. Die Länderkunde, deren Wissenschaftlichkeit umstritten war, fand nun als Chorologie den Segen der mit der Geographie um die Stundentafel konkurrierenden Fächer. Die Gefahr einer
Stoffausdünnung durch das Angebot der Naturwissenschaften, die Geographen von Teilen ihrer Inhalte zu entlasten, war damit gebannt.
So pendelte sich das Verständnis vom Wesen der Geographie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert ein. Nicht die Objekte an sich, auch nicht ihre jeweilige räumliche Verbreitung, sondern der Raum als Raum – begrenzt und durch seine wechselseitig aufeinander einwirkenden Massen als ein individuelles Ganzes ausgewiesen – war nunmehr endgültig zum Proprium des Faches geworden, nachdem schon früher festgestellt worden war, dass im Prinzip der Räumlichkeit das einzig selbständige Moment des Faches liege (vgl. STANGE 1828, 3).
Sichtbar wurde die über den Raum erzielte Einheit der Geographie für den Fachvertreter im Bild der Landschaft, das ihm Physisches wie Kulturelles, Materielles wie Geistiges gleichermaßen spiegelte. Auf die Frage „Was ist Geographie?" lautete seine Antwort jetzt fast unisono: Landschafts- und Länderkunde, nachdem die Schulgeographie schon länger Landschaften als Unterrichtsgegenstand empfahl. Dennoch stand die Geographie, verschärft durch die politisch-ideologischen Strömungen der Zeit, auch darnach immer wieder methodologisch in Flammen. War sie (eher) eine Naturwissenschaft oder (eher) eine Sozial- bzw. Geisteswissenschaft, war sie eine Brückendisziplin zwischen den traditionellen Blöcken oder als Raumwissenschaft etwas selbstständiges Drittes, war sie mehr Darstellung als Forschung, vielleicht sogar letztlich mehr Kunst als Wissenschaft, oder war sie womöglich alles auf einmal?
Für den Philosophen Heinrich Rickert stellte sie, soweit sie nicht im Rahmen eines weiten Geschichtsbegriffes ohnehin nur systemfrei materialsammelnd war, ein „Gemisch" aus natur- und kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung dar, doch könne man „ihre Bestandteile scharf gegeneinander abgrenzen" (RICKERT 4/51921, 135f.), je nachdem unter welcher Perspektive sie ihren Gegenstand betrachte. Alfred Hettner, der damals führende Methodologe unter den Geographen, wetterte, diese Unterscheidung würde „Betrachtungen aus einander reißen, die ihrem Inhalte nach zusammengehören" (HETTNER 1927, 113). Einen solchen Dualismus lehnte er entschieden ab. Wilhelm Dilthey spielte dagegen in den methodologischen Diskussionen der Geographie keine Rolle, dafür im „Dritten Reich" um so mehr das „braune" Gerede von der Einheit von „Blut und Boden" in der erlebten (Kultur-)Landschaft.
Wie auch immer die Lösungsversuche des Einheitsproblems ausfielen: Zu keinem Zeitpunkt wurde die Schulgeographie amtlicherseits den Naturwissenschaften zugeschlagen, sondern immer der Gegenseite: in der Weimarer Republik und im „Drittes Reich" der Gruppe der „deutschkundlichen" Fächer, in der alten Bundesrepublik Deutschland erst der „Gemeinschaftskunde", später der „gesellschaftspolitischen" Fächergruppe, in der sie sich noch heute mit Geschichte, Sozialkunde/Politik etc. befindet. Offenkundig glücklos, denn ihr Abbau in den Stundentafeln geht munter weiter. Sie sei eben, mutmaßte kürzlich der Vorsitzende des Verbandes deutscher Schulgeographen, Frank CZAPEK, der Lobbyarbeit von Politik und Geschichte nicht gewachsen und außerdem mit dem „bleiernen Makel zu geringer Intellektualität" behaftet. Daher sei es gegenwärtig auch nicht angebracht, die „Begehrlichkeiten anderer geowissenschaftlicher Disziplinen nach einem eigenen Schulfach" zu unterstützen, da dies „die sensible Stellung des Integrationsfaches Geographie" nur „noch weiter" (2011, 3) schwächen würde. Fragt sich jedoch, ob das Integrationsargument, das monopolartig beansprucht wird, überhaupt noch zieht, wenn es denn je wirklich gezogen hat!
6 Kurzer Rückblick und Ausblick
Überblickt man die Geschichte der Geographie seit 1800, so ergibt sich, dass sie zumindest zeitweise auf dem Wege zu einer reinen Naturwissenschaft war, diese Entwicklung jedoch schulpolitisch nicht gewollt war. Da die Geographievertreter aber mehrheitlich zögerten und schließlich nicht den Mut besaßen, einen disziplinpolitischen Schnitt gegenüber der ritterschen Tradition zu wagen, weil dann die Schule als Berufsfeld für ihre Absolventen auszufallen drohte, blieb die Alternative eines Dualismus, hier eine naturwissenschaftliche Geographie als Teil der Geowissenschaften, dort eine historisch-politische Geographie oder Staatenkunde als Teil der Geschichtswissenschaft, ohne echte Realisierungschance, obwohl immer wieder Ansätze und Forderungen in dieser Richtung auftauchten. Das Argument, als Raumwissenschaft weder das eine noch das andere zu sein, sondern die beiden getrennten Fächerblöcke miteinander zu verbinden, war zwar zeitweise ein (zumindest strategisch) nützlicher Mythos, doch als entlarvter Mythos verblasst sein Zauber nach einer Weile und wird zur „Hintergrundstrahlung" (WARDENGA 2011, 14).
Heute hat das klassische Blockdenken in der Wissenschaft ausgedient. Ständig werden zwischen den verschiedensten Disziplinen neue Brücken gebaut. Historisch errichtete Fächerwände werden eingerissen, neue Disziplinen entstehen mit neuen Grenzen in immer ungewohnteren Kombinationen und verengen zugleich den Spielraum älterer Fächer. Wer mit wem unter wessen Federführung kooperiert, um ein anstehendes Problem zu lösen, wird von Fall zu Fall entschieden. Brücken- und Grenzgängerei wird, wo sie sachlich geboten ist, von allen erwartet: Ein Monopol einer einzelnen Wissenschaft darauf ist chancenlos. Dennoch hat sich mit der neuen Kombinationsfreude die alte „Was-ist-Geographie"-Frage nicht einfach erledigt. Schon vom Begriff her setzt Interdisziplinarität Disziplinen voraus (vgl. SUKOPP 2010), die intra-disziplinär ihren Erkenntnisbeitrag zur inter-disziplinären Arbeit beisteuern, nur dürfte es nicht mehr gelingen, die neue Freiheit, die der Geograph nach dem Ende der alten Zwangsvorstellung von einer Einheitsgeographie gewonnen hat und lustvoll auslebt, wieder einzukassieren. Längst besteht Geographie wieder aus Geographien, während der alte Einheitsgedanke seine disziplinierende Rolle als Denkgefängnis verloren hat.
Dass allerdings mit dem neuen Verständnis von Interdisziplinarität auch der alte Gegensatz von Natur- und Sozial- bzw. Geisteswissenschaften aufgehoben ist, wie auf breiter Front von naturwissenschaftlicher Seite behauptet wird, scheint voreilig. Nach wie vor gilt, dass sozialwissenschaftliche Probleme auch sozialwissenschaftlich und naturwissenschaftliche naturwissenschaftlich gelöst werden müssen. Eine Verschmelzung von Anorganischem, Gesellschaftlichem und Ideellem, wie sie der Berliner Rahmenlehrplan in anachronistischer Fortsetzung der länderkundlichen Tradition für die Sek. I als Alleinstellungsmerkmal der (Schul-)Geographie propagiert, ist ebenso absurd wie ihre Ermächtigung, die Ergebnisse der natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer so zusammenfügen, dass „das komplexe [!] Wirkungsgefüge zwischen Mensch und Umwelt besser [!] erkannt und gestaltet werden kann" (Senatsverwaltung 2006, 9). Was voraussetzen würde, dass der Geographielehrer all die anderen Fächer, die ihre Sache nur gut machen, kennt und beherrscht, weil er sonst nicht wüsste, was er besser machen soll. Das kann nur schief gehen und wird kläglich im „Quantenquark" (OERTLIEB u. ULRICH 2005) aufgeschäumter Irrelevanz versinken. Wer dennoch sein legitimes Bedürfnis
nach Einheit, Ganzheit und Versöhnung befriedigen will, sollte sich nicht in der Wissenschaft, sondern anderweitig umschauen.
Anmerkungen
1 Der Beitrag geht, umgearbeitet und erweitert, auf einen Vortrag zum „Tag der Geographie" vom 17. Mai 2011 an der Humboldt Universität zu Berlin zurück. Kursivstellen innerhalb von Zitaten folgen Hervorhebungen im Original.
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