neuer Kommentar
mit einer Stellungnahme der Herausgeber Dieter Böhn und Gabriele Obermaier
Jürgen Lethmate: Von A bis Z : Das Wörterbuch einer unbelehrbaren Geographiedidaktik?
Anmerkungen zu: Dieter Böhn und Gabriele Obermaier (Hg.): Wörterbuch der Geographiedidaktik. Begriffe von A - Z. Braunschweig 2013 (Didaktische Impulse). 317 S.
Zusammenfassung
Das neue Wörterbuch der Geographiedidaktik umfasst ca. 220 Begriffe der Fachdidaktik und benachbarter Disziplinen. Adressaten sind Geographiedidaktiker, Lehrerinnen und Lehrer sowie Studierende. Anspruch des Wörterbuches ist nicht nur die lexikalische Zusammenstellung und Aktualisierung fachspezifischer Termini, sondern auch die kritische Darstellung von Positionen. Diesem Anspruch wird das Wörterbuch nicht durchgehend gerecht, was sich für das Fachverständnis insbesondere von Studierenden als eklatantes Problem erweisen dürfte. Anderenorts vorgebrachte und teilweise massive Kritiken geographiedidaktischer Positionen werden in diesem Wörterbuch zu oft ausgeblendet. Bleibt die Geographiedidaktik eine unbelehrbare Disziplin?
Das Wörterbuch
Das Wörterbuch der Geographiedidaktik (WGD) ist eine Neubearbeitung der im Jahr 1999 in dritter Auflage erschienenen „Didaktik der Geographie – Begriffe“. Die lexikalische Zusammenstellung umfasst nicht nur Begriffe der deutschsprachigen und internationalen Geographiedidaktik (GD), sondern auch für den Geographieunterricht (GU) relevante Termini aus den Erziehungswissenschaften, anderer Fachdidaktiken und den geographischen Bezugswissenschaften. Adressaten des WGD sind neben Geographiedidaktikern auch Lehrkräfte sowie Studierende. Der Umfang von 316 Seiten im Vergleich zu 179 Seiten der letzten Auflage deutet die erhebliche Erweiterung des Begriffskanons an. Der Aufbau des WGD folgt den früheren Auflagen: Jeder Begriff wird in Definition, Klassifikation, Zur geographiedidaktischen Diskussion, Literatur erläutert. Eine komprimierte Darstellung wurde angestrebt, die Länge einzelner Beiträge schwankt zwischen einer halben und fünfeinhalb Druckspalten, die Literaturangabe zwischen zwei und 13 Titeln. Die fast 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so das Vorwort, zeichnen sich in eigener „Handschrift“ verantwortlich für ihre namentlich gekennzeichneten Beiträge. Die Begriffsauswahl wurde nicht von den Herausgebern, sondern durch Nennung aus der geographiedidaktischen Community festgelegt (S. 3). Da muss gefragt werden: Welche geographiedidaktische Community denn? Es ist wohl die der Herausgeber.
Anspruch des Wörterbuches und Beurteilungskriterium
Das WGD soll nicht nur alle Strömungen der Geographiedidaktik abbilden. Vielmehr betonendie Herausgeber, dass „auch Abweichungen von der überwiegend vertretenen Ansichtaufgenommen“ wurden, um „einen Überblick über unterschiedliche Standpunkte zu geben“(S. 3). Unterschiedliche Auffassungen, so das Vorwort weiter, deuten sich schon in derKlassifikation der Begriffe an, Kontroversen sollen in der geographiedidaktischen Diskussionverdeutlicht werden. Der Anspruch kritischer Darstellung kann nicht hoch genug veranschlagtwerden, wenn als Adressaten neben Geographiedidaktikern auch Lehrerinnenund Lehrer sowie Studierende angesprochen sind. Die kritische Darstellung von Standpunktensollte insbesondere Studierenden kenntlich gemacht werden, zählt die Geographiedidaktikdoch seit jeher zu den Fachdidaktiken mit einer Fülle von Kontroversen, was nichtnur verschämt angedeutet (WGD S. 5, Pkt. 4), sondern auch mit wenigstens einer Literaturstellebelegt werden sollte (z.B. Schmidt-Wulffen/Schramke 1999).
Die kritische Begriffsdarstellung wird als Kriterium dieser Besprechung zugrundegelegt.Um dem Einwand vorzubeugen, es würden in einseitig negativer Auswahl nur primärals kritisch-negativ zu bewertende Begriffe angeführt, sei festgestellt, dass der Anspruch kritischer Darstellung bei etlichen Begriffen eingelöst wird (z.B. Bildungsstandards,Experiment, Klimaklassifikation, Kompetenz, Kulturerdteile, Syndromansatz, Werteerziehung/ ethisches Urteilen). Die Besprechung greift solche Begriffe auf, bei denen die kritische Darstellung bzw. die dezidierte Berücksichtigung von Gegenpositionen nicht erkennbaroder aber recht zurückhaltend ist. Zudem muss einschränkend eingeräumt werden,dass eine lexikalische Zusammenfassung von über 220 Begriffen samt ihrer konzeptionellenGrundlagen von einem Autor kaum mehr in vollem Umfang angemessen beurteilbar ist. Die Kritik beschränkt sich demnach auf Bereiche, die der Rezensent aus eigener, mehr als je 20 jähriger Tätigkeit in Schule und Hochschule überschaut.
Defizite in der kritischen Begriffsdarstellung
Die Problematik kritischer Begriffsdarstellung beginnt bereits im alphabetisch ersten Begriff Abbilddidaktik. Zwar wird dieser Begriff kurz und prägnant erläutert, unterschlagen wird aber die mit diesem Begriff zwingend verbundene Kopplung der heute unhaltbaren „didaktischen Reduktion“ (Jank/Meyer 2002, 32). Noch in einem neuen Lehrbuch der Geographiedidaktik wird die didaktische Reduktion als wichtiges und zentrales Unterrichtsprinzip für Geographielehrer herausgestellt (Flath 2012). Dass die Problematik beider Begriffe in für Geographiedidaktiker leicht zugänglicher Quelle bereits früher im Sinnevon Jank/Meyer (2002) pointiert begründet wurde (Lethmate 2007 a), bleibt unerwähnt.
Das WGD enthält unter den Arbeitsmitteln für den GU 20 verschiedene Begriffe von „Atlas“ über „Karte“ bis hin zu „Tellurium“. Ein Begriff „geoökologische Geräte“ oder „naturwissenschaftliche Geräte“ aber fehlt, wenngleich solche Geräte „als Kernmaterial jeder Geographiesammlung“ ausgewiesen (Lethmate 2006) und in ihrer obligatorischen Bedeutung für einen experimentellen GU erkannt sind (Spellsiek 2013). Angesichts des immer wieder betonten Anspruchs der GD, neben der gesellschaftswissenschaftlichen auch die naturwissenschaftliche Perspektive als Fachidentität auszugeben, muss hier ein massives Defizit konstatiert werden.
Außerschulische Lernorte, so das WGD, sollten zur besseren Einbindung in den Unterricht mit Bezug auf Flath (2009) zu außerschulischen Lernstandorten erweitert werden. Flath (2009) wiederum beruft sich auf Positionen eines Osnabrücker Theoretikers des regionalen Lernens (Ch. Salzmann): Lernorte sind Orte zum Lernen (z.B. das Gelände), Lernstandorte Lernorte mit gezielten, didaktisch-methodischen und adressatenspezifischen Aufbereitungen (z.B. Waldlehrpfad). Was im WGD als Empfehlung daherkommt, ist für Hard (1993, 83) pädagogische Naivität: Auch Lernorte enthalten eine Botschaft, sind demnach schon Lernstandorte; der noch nicht pädagogisierte Lernort sei ein Mythos. „Der Pädagoge oder Lehrer, der das nicht merkt […], macht sich systematisch zum Verstärker irgendwelcher außerpädagogischer Instanzen, die sich an jedem ‚Lernort‘ immer schon pädagogisch bemüht haben, von deren Existenz und Interesse er aber oft nichts ahnt, und während er indoktriniert wird und seine Schüler im gleichen Sinne indoktriniert, glaubt er, unmittelbar bei der Sache (am Lernort) zu sein. Das darf man wohl eine ‚unentschuldbare pädagogische Naivität‘ nennen […]. Vielerorts wird es einer guten Didaktik also weniger darum gehen, an Lernorten schlicht zu lernen oder Lernorte in Lernstandorte zu verwandeln, sondern darum, tatsächliche Lernstandorte wieder in Lernorte zu verwandeln. Man kann das auch umschreiben mit: Aufbereitungen aufbereiten; Pädagogisierungen durchschauen; pädagogischen Müll wegräumen.“
Die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) wird im WGD dargestellt, als sei sie die selbstverständlichste konsensbildende Klammer von Unterricht im Allgemeinen und GU im Besonderen. Detailliert werden die Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz aufgelistet, von Schülerinnen und Schülern wird erwartet, was bei der derzeitigen Elterngeneration nur höchst defizitär ausgebildet ist. Innerhalb der GD ist BNE massiv als pädagogisches Catch-all-Programm kritisiert worden (Hasse 2006, 2010 b), ohne dass diese Kritik im WGD auch nur tangiert wird, nicht einmal durch Angabe einer (1) Literaturstelle. Stattdessen wird BNE noch als Leitbild des GU befördert (Hemmer 1998) und dem GU „eine besondere Bedeutung für die praktische Umsetzung der Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zugesprochen (WGD, 33; Hervorh. J.L.).
Der intensive Diskurs um schwache/starke Nachhaltigkeit wird nicht erwähnt, trotz der Forderung, BNE am Konzept starker Nachhaltigkeit zu orientieren (Ott/Voget 2007). Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat sich dem ökologisch ausgerichteten Konzept starker Nachhaltigkeit angeschlossen, die Bundesregierung bringt die Vorrangstellung ökologischer Grenzen auch im Nachhaltigkeitsdreieck zum Ausdruck (SRU 2012, 378). Pädagogisch noch kritischer: Die Darstellung der BNE im WGD geht offensichtlich davon aus, dass Nachhaltigkeit samt aller Teilkompetenzen lernbar ist. Hier werden die deutlichen Einwendungen, die harten Fakten und die Erklärungskraft der evolutionären Anthropologie völlig ausgeblendet, obwohl die geographiedidaktiktische Community bereits vor Jahren auf diese Sichtweise aufmerksam gemacht wurde (Lethmate 2007 b).
Ganz anders die Erziehungswissenschaft, in der sich längst eine Forschungsrichtung „Evolutionäre Pädagogik“ etabliert hat und von der die Frage des Lernens von Nachhaltigkeit unter evolutionärer Perspektive differenziert und kritisch untersucht wurde. Danach ist das Lernen von Nachhaltigkeit alles andere als selbstverständlich, es wird zurückhaltend mit „möglicherweise“ gekennzeichnet und als sehr aufwendiger, kostenintensiver Lernprozess auf hohem Abstraktionsniveau betrachtet (Schmidt 2009). Unterrichtsmaterialien, die dieses Problem aufnehmen, sind überhaupt noch nicht entwickelt. Ein weiteres Problem: Nach empirischen Untersuchungen besitzen Jugendliche geschlechter-, alters- und schulartenübergreifend kein konsistentes Verständnis von Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeitslernen wird blockiert durch das Bambisyndrom, demzufolge das jugendliche Naturverständnis geprägt wird von Ungestörtheit und Sauberkeitsästhetik. Die Jugendlichen sitzen in einer „Nachhaltigkeitsfalle“ (Brämer 2006).
Für den Schulalltag darf bezweifelt werden, dass Geographielehrkräfte sich den zeitintensiven Anforderungen einer kostenaufwendigen BNE stellen können, eher werden sie bei dieser Thematik auf kopierfähige Arbeitsblätter zurückgreifen, die von Schulbuchverlagen angeboten werden. Ein Beispiel dafür ist das Arbeitsblatt „Nachgefragt: Nachhaltigkeit“ (Schroedel 2007) mit 3 Materialien und 3 Aufgaben. In Material 2, überschrieben mit „Heute schon etwas für morgen tun“, wird den Schülern vermittelt: „Nachhaltigkeit bezieht besonders die individuelle Ebene mit ein“. Als Konkretisierung folgt das Fließdiagramm „weniger Autofahren → öffentliche Verkehrsmittel nutzen → Schadstoffausstoß verringern → Energie sparen → Ressourcen schonen → Umweltbelastung verringern“. Die Gefahr erneuter Gesinnungspädagogik (→ Umweltbildung) deutet sich an, zumal bereits seit langem von „Nachhaltigkeitsgesinnung“ gesprochen wird (Busch-Lüty 1995). Die im Fließdiagramm vorgenommene Individualisierung ist im Schulbereich symptomatisch, im wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs aber kontrovers (Grunwald 2010). Welzer (2008, 254) bringt es auf den Punkt: „Die immer schon falsche, aber höchst suggestible Annahme, dass gesellschaftliche Veränderungen im Kleinen anfangen, wird ideologisch, wenn sie korporative und politische Akteure aus der Verpflichtung nimmt, und sie wird verantwortungslos, wenn sie behauptet, dass dem Problem mit Veränderungen auf der Verhaltensebene beizukommen sei.“ Die Individualisierung war bereits ein Fehler der Umweltbildung, wurde vom Rezensenten als „ethische Aufladung“ kritisiert (Lethmate 2000) und wird bis heute auch von der Umweltbewusstseinsforschung hinter fragt (Gräsel 2010; → Umweltbildung). Im Kontext von Jugend und Konsum ist Nachhaltigkeit als einziger Nutzen chancenlos, „man kann höchstens versuchen, die Wahrnehmung zu schärfen, dass sie ein relevanter Zusatznutzen sein kann“ (Ebermann 2005, 42).
Der Begriff Curricularer Ansatz wird im WGD sehr allgemein auf den früheren Robinsohnschen Lernzielansatz dargestellt. Hier hätte sich die beispielhafte Konzeption eines geographischen Curriculums in Schule und Hochschule von Ehlers (2000) als Konkretisierung angeboten, zumal dieses Curriculum mit einem deutlichen Plädoyer für ein „neues und höheres Anforderungsprofil“ des GU verbunden ist (a.a.O., 65). Bemerkenswert auch, dass für die Oberstufe „problemorientierte / problemlösungsorientierte Projektarbeiten mit ökologisch-anwendungsorientierter Thematik lokal-regional“ vorgeschlagen werden (→ ökologischer Ansatz).
Die Didaktische Rekonstruktion ist als Forschungsrahmen in der GD inzwischen fest verankert. Erstmals wurde sie für die GD vom Rezensenten (Lethmate 2007 a) vorgestellt, wobei auch die Problematik des Faches mit den beiden Teildisziplinen Anthropogeographie und Physiogeographie erläutert wurde. Redlicherweise sollte in einem WGD auch diese Primärquelle genannt und bzgl. der Doppelnatur bzw. der gesellschaftlichen Perspektive des Faches nicht auf die „fremde“ Politikdidaktik verwiesen werden.
Exkursionsdidaktik befasst sich lt. WGD mit Lehren und Lernen geographischer Inhalte vor Ort, müsste demnach sowohl anthropo- wie auch physiogeographische Sachverhalte thematisieren oder noch besser deren Überwindung durch sozialökologische Ansätze (vgl. WGD S. 265). Von den Autoren des Begriffs werden unter den sieben Literaturangaben drei eigene Arbeiten mit stadtgeographischen Exkursionsbeispielen genannt, die zudem noch mit kritischen Unterrichtsprinzipien durchsetzt sind (Lernen mit allen Sinnen, ganzheitliches Lernen → Lernen mit allen Sinnen). Der stetige Verweis in diesen Arbeiten auf Frederic Vesters „Denken, Lernen, Vergessen“ erweist sich keineswegs als Bestätigung der eigenen lerntheoretischen Begründungen durch einen naturwissenschaftlichen Autor, vielmehr als popularisierender Beitrag einer Art Ratgeberliteratur, deren lerntheoretische Setzungen in der kognitionswissenschaftlichen Literatur nicht vorkommen (Looß 2001). Die anderen vier Literaturstellen beziehen sich auf allgemeine exkursionsdidaktische Übersichten. Weshalb bleiben naturwissenschaftlich ausgerichtete Exkursionsbeispiele komplett außen vor, sogar wenn sie eine sozialökologische Anbindung versuchen (z.B. Lethmate 2009 b)? In die gleiche Richtung geht der dezidierte Hinweis auf die Neue Kulturgeographie als Impulsgeber exkursionsdidaktischer Ansätze (WDG, 73). Weshalb hier nicht auch der ebenso berechtigte Verweis auf die Neue Physiogeographie, die der Exkursionsdidaktik sowohl inhaltliche, curriculare wie auch begriffskritische Impulse verleiht (Lethmate 2011 a)? Von den theoretischen Missverständnissen und Verkürzungen in geographischen Exkursionen, die Hasse (2010 a) in zehn Punkten herausanalysiert, fehlt ebenfalls jeder Hinweis.
Dass das WGD eine begriffskritische Darstellung über das Experiment enthält ist sicher erfreulich, dennoch auch hier: Der Hinweis auf Defizite im Experimentverständnis bei Schülern bedarf der Ergänzung, dass auch ein Großteil der Erdkundelehrer den Kern experimentellen Arbeitens falsch wiedergibt, wenn er den Vorteil des Experimentierens in der Anschaulichkeit sieht (Spellsiek 2013). Zudem: Der im WGD betonte und sogar grafisch dargestellte experimentelle Algorithmus verdient die Angabe der Primärquelle (Drieling 2006). Letzteres gilt auch für die Quelle, die den Anstoß längst überfälliger Experimentkritik in der GD gegeben hat (Lethmate 2003). Extrem problematisch bleibt nach wie vor die Diskrepanz zwischen dem natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Verständnis des Experimentbegriffs, wie die so genannten „Experimente zur Aneignung des öffentlichen Raumes“ belegen (Rhode-Jüchtern 2006).
Geographische Bildung ist nach dem WGD nicht nur zentraler, sondern sogar unverzichtbarer Teilbereich der Bildung. Welche geographische Bildung, ist dann die Frage bei 16 Geographien in 16 Bundesländern? Auch bleibt die Frage nach der Berechtigung bisheriger kritischer Einwände, die in der fachdidaktischen Literatur immer wieder auftauchen: „Erdkunde ohne Zukunft. Konkrete Alternativen zu einer Didaktik der Belanglosigkeiten“ – „Wozu noch Geographie?“ – „Bekenntnis zu einem sterbenden Fach“ – „Profillosigkeit eines ‘modernen’ Geographieunterrichts“ – „Die Geographie droht an den Schulen in Bedeutungslosigkeit zu versinken…“ – „Physische Geographie: Am Ende?“ – „Erdkundeschulbücher – eine nach Ländern sortierte Briefmarkensammlung“ – „Geographieunterricht = penetrante Belehrungssucht“. Eine Habilitationsschrift bilanziert: „…die tiefe Orientierungslosigkeit eines Faches, das drei Jahrzehnte lang versucht hat, intellektuelle Ansprüche an den Unterricht mit Atlas und erhobenem Zeigefinger abzuwehren“ (Uhlenwinkel 2006 a, 383 f.). Hinzu kommen die saloppen Charakterisierungen des Schulfaches als Tutti-Frutti-Disziplin, Laberfach, Mitteilungsgeographie, Postmeister-Geographie, Land-für-Land-Unterricht, Stadt-Land-Fluss-Unterricht (vgl. Abb. 1).
Nach einem Schulpraktikum kommentierte eine Lehramtsstudentin der Geographie (8. Semester): „Einige Lehrkräfte haben mir mehr oder weniger mitgeteilt, dass sie Erdkunde nur als Nebenfach unterrichten können und es auch für sich persönlich so ansehen, da ihre eigentlichen Energien und Stärken woanders liegen. Nur wenige wirkten ihren Schülerinnen und Schülern gegenüber das Fach an sich ernst nehmend […]. Das aus meiner Perspektive Nichternstnehmen des Faches übertrug sich nicht selten auf die Motivation der Klassen, die dann über jede Form von Aufwand zu diskutieren versuchten und dem Fach einen ‘Labercharakter’ aufzwangen“ (Hütters 2008). Wer dies für eine singuläre studentische Erfahrung hält, wird durch die noch deutlicheren Ausführungen von Hochschullehrern über das „etwas geringschätzige Bild von der Geographie“, das Studierende aus der Schule mitbringen, eines Besseren belehrt (Hard 1980, 290; vgl. auch → Schülerinteresse). Die Bedeutung einzelner geographischer Bildungsinhalte soll gar nicht bestritten werden, die obigen Einblendungen sind als kritisches Korrektiv notwendig, die Bedeutung geographischer Bildung nicht pauschal in voreiliger Selbstgewissheit wie oben, sondern in Anbindung an ein konkretes Curriculum bzw. Curriculumbausteine zu bestimmen (z.B. Ehlers 2000).
Globales Lernen – wieder wird ein Begriff im WGD dargestellt ohne jede explizite kritische Einblendung. Es muss hier nicht auf Kritiken außerhalb der Didaktik verwiesen werden, etwa den „fernethischen Illusionismus“ (Becker 1989) oder den Einwand der Soziobiologie, unseren „sozialen Mesokosmos“ nicht verlassen zu können. Selbst in der GD wurden kritische Positionen laut: „Weltgesellschaft“, „Weltgemeinschaft“, „Eine Welt“, „Achtung vor der globalen Mitwelt“ u.a. wurden als Mythen globalen Lernens und als pädagogische Illusionen diskutiert (Hasse 2010 c). Die Wörterbuchdarstellung enthält davon nicht ein Wort. Jede Lehrerin, jeder Lehrer dürfte verzweifeln angesichts des im WDG angeführten Kanons von Kompetenzen, die bei Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollen. Dort, wo in der GD der Anspruch globalen Lernens in einem evolutionären Kontext erörtert wird (Applis 2012, 68 f.), ist der Tier-Mensch-Vergleich („der“ Mensch und „die“ Bienen) angesichts des primatologisch-anthropologischen Diskussionsstandes, der nach den klassischen Untersuchungen von Jane Goodall über wilde Schimpansen seit über 35 Jahren auch in zahlreichen deutschsprachigen Publikationen vorliegt, geradezu peinlich.
Abb. 1: Karikatur von Gerhard Mang; Quelle: GW-Unterricht Nr. 74 (1999), S. 43
Interkulturelles Lernen ist neben BNE und Globalem Lernen ein weiterer Lernbereich, der in der Geographiedidaktik größte Aufmerksamkeit erfährt. Im WGD wird eingestanden, dass nicht nur Modelle der Pädagogik, sondern auch Ansätze vieler Disziplinen in die Diskussion dieses Lernbereichs einfließen. Das daraus für die Schulpraxis resultierende Problem eines fach-, d.h. geographiespezifischen Beitrags wird nicht angesprochen und vielleicht gar nicht gesehen (ebenso wenig wie bei BNE und Globalem Lernen). Im Schulbereich wird interkulturelle Verständigung als domänenspezifischer Mindeststandard der Fremdsprachen/Sprachen ausgewiesen (GFD 2009).
Wie keine andere Fachdidaktik zeichnet sich die GD durch internationale und nationale Erklärungen aus. Das WGD listet 7 Positionspapiere auf. Die kritische Kommentierung eine der wesentlichsten Erklärungen, der Internationalen Charta der geographischen Erziehung, fehlt in Diskussion und Literaturangabe (Hasse 1994). Sie stellt u.a. fest (a.a.O.: 46): „Von Schülerinnen und Schülern verlangt die Charta alles, von Lehrerinnen und Lehrern wenig!“
Dass das WGD noch den Begriff Inwertsetzung enthält, ist überraschend, gilt er doch als veraltet und zudem als äußerst kritisch. Letzteres wird zwar angedeutet, nicht aber durch eine Quellenangabe dokumentiert. Der Begriff steht „für einen bedenkenlosen Optimismus, der unter den heutigen Umständen nur noch provokativ wirken kann“ (Schultz 1999, 188). Jahre vorher hatte bereits Daum (1991, 45) gefragt: „Warum haben wir das törichte Gerede von der ‘Inwertsetzung’ nicht schon lange über Bord geworfen? […] Der Begriff ‘Inwertsetzung’ verschleiert, dass das große, alte Mensch-Erde-Paradigma jahrhundertelang im Sinne von Landraub, Mord und Sklaverei, Ausplünderung und Ausbeutung verstanden worden ist.“
Das Lernen mit allen Sinnen wird nur knapp (1 Druckspalte, 2 Literaturangaben) in positiver Konnotation vorgestellt. Unerwähnt bleibt, dass es mit sehr kritischen lerntheoretischen Missverständnissen behaftet ist. Insbesondere die geographische Exkursionsdidaktik soll „die naive bis prototheoretische ‘Fundierung’ sinnlichen Lernens […] beispielhaft illustrieren […]. Die vornehmlich in Zeitschriften für die Unterrichtspraxis publizierten Vorschläge sind zu einem hohen Anteil theoretisch reduktionistisch, metaphysisch überhöht, aktionistisch und konzeptionell von der Möglichkeit der Anbahnung intellektueller Lernzuwächse abgekoppelt“ (Hasse 2010 a: 41). Die im WGD genannte erste Literaturquelle (Engelhardt 1991) ist für Looß (2001) ein Beispiel für die geradezu zwanghafte Anwendung dieses Lernmethode: Im GU sollen durch Kochen internationaler Gerichte der Geschmack und der Geruch die Erkenntnisse über Länder steigern.
Auch das mit dieser Lernmethode im Gleichklang betonte und im WGD dezidiert genannte „ganzheitliche Lernen“ ist kritikwürdig. Für Kritiker ist es eine pädagogische Illusion (Kahlert 1997) und wird wie das Lernen mit allen Sinnen angesichts der weiten Verbreitung und kritiklosen Übernahme im Schulalltag als beunruhigend, wenn nicht verhängnisvoll angesehen (Looß 2001). Diese kursorischen Einwände zum Lernen mit allen Sinnen – sie werden von den Kritikern differenziert begründet –, mögen andeuten, weshalb im WGD eine ausführlichere kritische Darstellung dringend notwendig gewesen wäre.
Die naturwissenschaftliche Grundbildung wird zwar auf aktuellem Niveau einer generellen scientific literacy angemessen dargestellt, Hinweise zu den gerade in diesem Lernbereich bestehenden Hemmnissen fehlen. Anderenorts werden eine „neue Geographie und neue Geographiedidaktik“ ausgerufen, ohne dass naturwissenschaftliches Lernen überhaupt mit einem Wort erwähnt wird (Haversath 2007). Ein jüngst erschienenes Lehrbuch der Geographiedidaktik (Kanwischer 2013) hat den Anspruch einer „grundlegenden Einführung“ und soll „ein Verständnis der grundlegenden theoretischen Hintergründe des Geographieunterrichts“ ermöglichen, aber ohne jeden Beitrag zu naturwissenschaftlicher Grundbildung, zur Physischen Geographie, geschweige denn zur geoökologischer Systemkompetenz. Vor allem aber: Eine bundesweite naturwissenschaftliche Grundbildung in der Ausbildung von Geographielehrern ist illusionär, gibt es doch in der Bundesrepublik allenfalls drei Hochschulstandorte der Geographiedidaktik mit physiogeographischer Orientierung. Allein dieses Strukturdefizit mag andeuten, wie dringlich im WGD ein kritischer Hinweis zur besonderen Problematik der naturwissenschaftlichen Grundbildung in GD und GU wäre. Schließlich sollten Gesellschafts- und naturwissenschaftliche Teilgebiete im GU gleichwertig vertreten sein (Vogt 2000; vgl. auch → ökologischer Ansatz, physisch-geographischer Ansatz).
Die im Vergleich zur letzten Auflage erheblich gekürzte Begriffsdarstellung Ökologischer Ansatz (ÖA) hinterlässt nur Fragezeichen! Die Konkretisierungen als „landschaftsökologischer Ansatz“ und „Siedlungsökologie“ bedürfen einer Abwägung, die ersteren seit langem klar favorisiert: „Wenn sich die physische Geographie in der Schule auf diese Thematik konzentrieren könnte, würde sie erlöst von der sterilen und global allgemein bildenden Thematik aller Art, die da war: die Erde als Himmelskörper; die Entstehung der Tages- und Jahreszeiten; die atmosphärische Zirkulation; wie das Wetter entsteht; Ebbe und Flut; die Landschaftsgürtel der Erde; die Eiszeiten und die Vulkane; die Schichtstufenlandschaft; die Kontinentaldrift usw. usf. Nicht, als ob das alles zu verschwinden hätte: Es könnte […] als eine Art geowissenschaftlicher Allgemeinbildung wenigstens zum Teil neben dem eigentlichen, thematisch zentrierten Erdkundeunterricht stehen […]. Die eigentliche Erdkunde naturwissenschaftlicher Art wäre landschaftsökologisch“ (Hard 1974, 470). Noll (1989) hat einen Vorschlag zur unterrichtlichen Umsetzung des landschaftsökologischen Ansatzes skizziert, der Rezensent hat ihn ausdifferenziert (Lethmate 2009 b).
Zu einem unterrichtspraktischen Problem werden landschafts- und/oder geoökologischer Ansatz unter dem speziellen systemar-holistischen Verständnis des Landschaftsökologen Hartmut Leser, dessen Vorstellungen in Unterrichtsempfehlungen eingeflossen sind. Sie wurden massiv als „hochgradig diffuse Konstruktion voller Unklarheiten und Fehler“ kritisiert (Menting 2001, 61). Ökologie im GU kann konzipiert werden, ohne dass im Vergleich zum Biologieunterricht ein geographiespezifischer Beitrag aufgegeben werden müsste (vgl. Lethmate 2009 b). Die hohe Relevanz des ÖA im Vergleich mit anderen Themenbereichen des GU hat Hard (1974, 434) in einer Nutzwertanalyse illustriert. Gänzlich unklar bleibt im WGD die Verortung des ÖA im Diskussionsstrang Systemdenken, wo
Systemzusammenhänge zwischen einzelnen Lebewesen und deren Populationen stärker betont worden seien als z.B. abiotische Faktoren des Ökosystems. Wenn Schulbücher – was selten genug vorkommt – Praxis- bzw. Methodenseiten zur Umsetzung des ÖA geben, dann mit Vorschlägen zur Analyse abiotischer, meist bodenkundlicher Inhalte. Viel kritischer aber: Der angebliche biotische Schwerpunkt wird nicht dahingehend präzisiert, ob er Lebewesen der eigen Art oder verschiedener Arten umfasst. Im Sinne der Teildisziplinen der Ökologie kann also nicht entschieden werden, ob im WGD Populationsökologie oder Synökologie gemeint ist. Geographiedidaktisch ist dies aber bedeutsam, wurde das synökologische Missverständnis der Physiogeographie doch jahrzehntelang zum Hemmnis naturwissenschaftlichen Arbeitens im GU (Uhlenwinkel 2005).
Die eigentlichen, für den GU relevanten Fragen bleiben im ÖA des WGD völlig außen vor: Welcher fachspezifische, methodisch-methodologische Beitrag bleibt dem GU bei der Behandlung ökologischer Inhalte angesichts der Dominanz der Ökologie im Biologieunterricht, vor allem angesichts des Problems, Dopplungen im Unterricht zu vermeiden?! Vorschläge dazu liegen vor (z.B. Lethmate 2009 b-d). Hier muss auch die Frage des Anspruchsniveaus gestellt werden. Ein Beispiel: In einem fächerübergreifenden Unterricht zum Thema Wald werden dem Biologieunterricht Messen und Experimentieren zugeordnet, die Teilnehmer des GU durchstreifen ein Waldgebiet und dokumentieren menschliche Einwirkungen auf den Wald mit Hilfe eines Fotoapparates, was dann noch als „Fotoexpedition“ ausgewiesen wird (Hupke 2004, 9). Solche methodischen Vorschläge machen die Forderung verständlich: „Die Geographie in der Schule […] muss sich ein neues und höheres Anforderungsprofil zulegen“ (Ehlers 2000, 65) und sich von „betulichen Lernzielen“ verabschieden. Wieczorek (1992, 66) mahnt zu recht: „Die intellektuellen Anforderungen sind so anzusetzen, dass sie nicht unter denjenigen anderer Fächer liegen“. Der ÖA garantiert gerade dies (Lethmate 2009 d). Weiter: Wie kann ökosystemares Lernen konkret im GU umgesetzt werden, vor allem: Welchem Ökosystemkonzept sollte der GU folgen? Bis heute enthalten Schulbücher drei Begriffe: Landschaftsökosystem, Geoökosystem und Ökosystem. Schülerinnen und Schüler, ja selbst Studierende verwirrt dieses Nebeneinander von Begriffen mehr als es klärt (Lethmate 2012, 2013).
Wenn der ÖA „ein Identität schaffender zentraler Teil“ der Geographie ist (Blümel 2003), wenn nach der empirisch entwickelten Denkschrift „Zukunftsfähige Bildung“ das Wissens-Item „Ökosystem“ unter den 11 Items des Bildungsbereiches UB an 1. Stelle steht und als „besonders zukunftsrelevant“ den Fächern Geographie und Biologie (in dieser Reihenfolge!) zugeordnet wird (Birkenhauer et al. 2009, 11), dann ist die Darstellung im WGD einfach zu dürftig. Es muss hier gefragt werden, wie ein Autor, der seine geographiedidaktische Qualifikation durch Vergleichsuntersuchungen rumänischer, mexikanischer und bayerischer Lehrpläne und Schulbücher erworben hat (Bagoly-Simó/Hemmer 2011), aber nach seiner Publikationsliste nie eine ökologische Arbeit veröffentlicht, geschweige denn ökologisch gearbeitet hat, mit der Wörterbuchdarstellung eines Begriffes wie ÖA betraut werden kann? Es gibt kaum einen anderen Begriff der GD, der so viel Potential für praktisches Arbeiten, aber auch so viele methodisch-methodologische Fallstricke und Kontroversen enthält wie der ÖA. Im WGD ahnt der Leser nichts davon.
Der physisch-geographische Ansatz verdient besondere Beachtung, wäre er doch ebenfalls Ort für das von der GD so betonte naturwissenschaftliche Lernen. Als Hindernisse seiner Umsetzung werden im WDG genannt: Reduzierung der Stundenzahl, Zuordnung des GU im sozialwissenschaftlichen Fächerverbund, fachfremd ausgebildete Lehrer. Verschwiegen werden nicht zu vernachlässigende „interne“ Hindernisse, z.B. die Präferenz von Geographielehrkräften für gesellschaftswissenschaftliche Inhalte, die sie bereits bewusst im Studium wählen. Sie manifestiert sich etwa in den Bereichen, in denen Lehramtsstudierende ihre Examensarbeiten schreiben. So wurden im FB Geowissenschaften der Universität Münster in den Jahren 1999 - 2006 52 didaktische Arbeiten (Sek. II/I) verfasst, davon neun Arbeiten (= 17,3 %) mit naturwissenschaftsdidaktischen, 43 Arbeiten (82,7%) mit gesellschaftswissenschaftsdidaktischen Themen. Von den 186 fachwissenschaftlichen Arbeiten entfielen 40 Arbeiten (21,5%) auf physiogeographische, 146 Arbeiten (78,5 %) auf anthropogeographische Themen. An der sozialgeographisch orientierten Geographiedidaktik des Standortes Jena finden sich unter den 83 Examensarbeiten der Jahre 2007 - 2011 vier naturwissenschaftliche Themen; während diese Arbeiten (z.B. Waldbodencatena) als „traditionell“ bezeichnet werden und zudem noch „besonders genau“ begründet werden müssen, folgen die anderen Arbeiten (z.B. Todesorte – Zur alltäglichen Regionalisierung von Todesorten in Deutschland) einem „innovativen Ansatz“: „Es werden nicht einfach ‘Dinge’ im Containerraum bearbeitet/quantifiziert/reproduziert, sondern Objekte/Prozesse/ Diskurse werden in einer problematischen Eigenschaft und in ihrer multiplen Bedeutsamkeit konstituiert und begründet zum Thema gemacht“ (Rhode-Jüchtern 2012, 161, 164). Lehramtsstudierende lehnen die Inhalte der Physiogeographie eher ab als Einfachstudierende (Gassler/Rammer 1991) und vermeiden in ihrer Zweitfachwahl harte naturwissenschaftliche Fächer (Lößner/Lüdemann 2009). Die nach Vogt (2000, 95) zwingende Folge: „Viele Hochschulabsolventen sind für die Vermittlung […] physisch-geographischer Inhalte nicht hinreichend qualifiziert“, ihr Unterrichtsprinzip wird die „Inkompetenzvertuschung“ (G. Hard) oder aber sie übergehen physiogeographische bzw. naturwissenschaftliche Themen.
Auf einem Schulgeographentag musste für einen physiogeographischen Arbeitskreis „nur ein schwaches Interesse“ konstatiert werden (Geiger 1989), heute besteht der AK Physische Geographie nur noch auf dem Papier, ein Nachfolger für die Leitung konnte nicht gefunden werden (M. Ernst schriftl. Mitt.). Lehrpläne und Schulbücher einzelner Bundesländer verstärken das naturwissenschaftliche Defizit. So enthält etwa das neueste Schulbuch TERRA Geographie Oberstufe NRW auf 563 Seiten ca. 570 Aufgaben, darunter aber nicht eine, die dem naturwissenschaftlichen Mindeststandard „sorgfältig Daten erheben und dokumentieren“ entspricht!
Nicht zu vernachlässigen sind schließlich auch die mangelnde Akzeptanz von Schülerinnen und Schülern für naturwissenschaftliches Lernen im GU sowie der schwache Status der Erdkunde in Lehrerkollegien und Schulverwaltung, etwa wenn für praktisches Arbeiten oder eine Exkursion eine Doppelstunde bzw. ein Vormittag beansprucht werden (Dierkes 2002, Lößner 2010). Das Verschweigen, das Nicht-Wahrhaben-Wollen oder auch die Fehleinschätzung der massiven Diskrepanz zwischen physiogeographischem Anspruch und seiner Umsetzung in Lehrplan und Schulpraxis dürfte zu den größten Lebenslügen der GD gehören, von Hard (1980) bereits früh thematisiert. „In dieser Diskussion wurde […] einmal mehr deutlich, dass die synökologisch orientierten Didaktiker und Lehrer nichts mehr fürchten als die Naturwissenschaften“ (Uhlenwinkel 2005, 21).
Der Begriff Raumverhaltenskompetenz (RVK), so das WGD (S. 230), fand trotz kritischer Einwände weithin Anerkennung. Unter den sechs Literaturstellen sind vier Arbeiten des Autors erwähnt, der den Begriff geprägt hat, aber nicht eine Gegenposition. Schon vor über 20 Jahren wurde RVK als „Zauberwort“ kritisiert, mit dem sein Autor „die Menschheit und vor allem die Schüler des Geographieunterrichts beglücken möchte“, dabei erinnere das Wort eher an „Bürokratenbefriedigungssucht“ (Daum 1992, 41). Sogar ein Autor wie Eberhard Kroß, in der GD alles andere als ein Außenseiter, vielmehr einer der Hauptrepräsentanten des geographiedidaktischen Mainstreams, lehnte den Begriff in einem Interview ab (Schöpke 2003, 107): „Von dem Begriff Raumverhaltenskompetenz halte ich wenig, zumal ich ihn für meine didaktische Argumentation gar nicht benötige. Er ist für den internen Gebrauch wenig hilfreich, weil er richtungslos ist und immer wieder neu inhaltlich und vor allem wertbezogen diskutiert und definiert werden muss. Darüber hinaus ist er für eine externe Verwendung sperrig und der Öffentlichkeit sehr schwer zu vermitteln“.
Die Definition der RVK enthält das Kriterium „adäquates erdraumbezogenes Verhalten“, anderenorts als „erdgerechtes Verhalten“ und „raumethischer Imperativ“ formuliert. All diese Bewahrungsformeln sind als für Schülerinnen und Schüler gänzlich verfehlte „Bändigungsethik“ differenziert kritisiert worden, das WGD hätte wenigstens eine der vier Arbeiten des Begriffsschöpfers zugunsten dieser kritische Gegenposition (Schultz 1999) streichen müssen.
Der Begriff Reisedidaktik verspricht hohe Kompetenz, zählt „Ich verreise gern“ in Deutschland und Österreich doch zu einem der häufigsten Motive für die Wahl des Geographiestudiums (Gassler/Rammer 1991, Möller 1999). In der Schweiz verhält es sich ähnlich: die „Abneigung gegen Abstraktes“ (Geographie = leichtes, vor allem konkretes Fach) und das „Interesse an lustbetonter Tätigkeit“ (= Reisen, Photographieren) sind Hauptmotive des Geographiestudiums (Wanner/Caspar 1985, 143). Was aber erwartet den Leser im WGD? Eine Erläuterung, die zumindest etwas Verwunderung, wenn nicht Verständnislosigkeit hervorrufen dürfte. Kostprobe (WGD, 234): „Mit der Kategorie der ästhetischen Erfahrung wird das erfasst, was in der Begegnung mit Fremdem geschieht. Aufzeichnungen, z.B. das Reisetagebuch oder die Kartierung, fungieren im Sinne einer Selbst-Verortung auf Reisen. Im mehrfachen Wechselspiel der Erfahrung, die zur Erfahrung der Aufzeichnung führt, ergibt sich ein Eigendrehmoment, ein Eigen-Spin, der persönliche Sinn-Bildungen auf Reisen antreibt“. Lehrkräfte müssen für die unterrichtspraktische Umsetzung dieses „Wechselspiels“ wohl weit gereist sein…
Das Schülerinteresse wird von den Begriffsautoren mit einem Schwerpunkt auf eigene Befunde zur Interessenforschung recht umfangreich erläutert. Zu Recht stellen die Autoren fest, dass Ergebnisse zum Interesse an geographischen Sachverhalten von Oberstufenschülern rar sind. Insofern verdient hier ein Befund besondere Aufmerksamkeit, der von den Interessenforschern m.W. bisher überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde. In einer empirischen, wenngleich nicht repräsentativen Studie (Zwick u. Renn 2000) wurden die Lieblings- und ungeliebten Fächer bei Abiturienten (n = 413) und Studienanfängern (n = 263) ermittelt; letztere hatten noch keinerlei Kontakt zum Geographiestudium. Das Auswertungsdiagramm zeigt zwei Fächerblöcke, getrennt durch eine gestrichelte Linie zwischen den Fächern Geschichte und Deutsch (Abb. 2). Der obere Block bündelt die Fächer mit den meisten Nennungen als Lieblingsfach oder besonders ungeliebtes Fach, der 2. Block sammelt den „Typus von Fächern, der in der Wahrnehmung und Bewertung der Schüler eher geringe Emotionen und Polarisierung auslöst und ein eher ‘randständiges’ Dasein besitzt. Nicht einmal jeder fünfte Schüler favorisierte – im Positiven oder im Negativen – diese Fächer“ (a.a.O., 39). Die Erdkunde liegt in diesem 2. Block zwischen Religion und Latein (6% negative, 4% positive Nennungen, Abb. 2). Das Ergebnis korrespondiert mit älteren Befunden an 337 Primanern hessischer Gymnasien, die von 16 Schulfächern vier Lieblingsfächer angeben sollten. Prozentanteile unter 10% entfielen nur auf 2 Fächer: Erdkunde 7%, Religion 9% (Teschner 1968, zit. n. Schramke 1978, 23).
Abb. 2: Lieblings- und ungeliebte Fächer bei Gymnasiasten, vgl. Text; Quelle: verändert nach Zwick/Renn 2000, 39
In der Wahl des Studienfaches ergibt sich auf den ersten Blick Überraschendes: Obwohl Geographie nach Auskunft von Studienanfängern in der Schule nicht das Lieblingsfach ist, wird es dennoch häufig studiert (Wanner/Caspar 1985). Hard (1980, 290) klärt auf: Das studentische Interesse an der Geographie „nährt sich aus dem Interesse an einem Zweit- und Nebenfach der Lehrerausbildung […], dessen Anliegen man als Bagatelle, dessen Instrumentarium man als identisch mit Photoapparat und Atlas und dessen Schulbedeutung man (oft aufgrund eigener Schulerfahrung) als völlig untergeordnet anzusehen berechtigt sei, dessen Wahl jedoch – hochökonomisch gedacht – als die des Weges geringsten Prüfungswiderstandes bezeichnet werden könnte.“
Im WGD wird der Begriff Schülerinteresse ohne kritische Gegenposition erläutert. Dabei hat es zur deutschen geographiedidaktischen Interessenforschung nicht nur eine kritische Stellungnahme gegeben (Uhlenwinkel 2006 b), sondern auch eine Folgedebatte (Hemmer/Otto 2007, Uhlenwinkel 2007) mit abschließender Ergänzung in der Sicht eines Fachleiters aus einem Studienseminar, d.h. eines Vertreters der 2. Ausbildungsphase von (Geographie-)Lehrern (Heske 2007). Der von Heske (a.a.O., 91) geäußerte massive Vorwurf „fundamentaler methodischer Mängel“, mit der über einen „fragwürdigen Fragebogen Inhalte präjudiziert“ würden, bezieht sich auf die Habilitationsschrift einer der Autoren, der verantwortlich für den WGD-Beitrag zeichnet. Die Kritik würde bedeuten, dass die Ergebnisse dieser geographiedidaktischen Interessenforschung Artefakte sind, ein Einwand, der bis heute nicht entkräftet ist.
Beim Begriff Umweltbildung (UB) stellt sich die Frage nach kritischen Gegenpositionen noch schärfer. Die Darstellung im WGD favorisiert unter Verweis auf immer die gleichen Autoren (A. Braun, Ch. Stein) das Unterrichtsziel „umweltbewusstes Handeln“ unter Berücksichtigung von Leitbildern wie „Naturforscher“, „Naturfreund“, „Naturschützer“ und „Umweltschützer“. Das Problem einer damit vorprogrammierten und im GU jahrzehntelang gepredigten Gesinnungspädagogik wird von der Autorin des WGD-Textes offensichtlich nicht gesehen. Die diesbezügliche vom Rezensenten schon im Jahr 2000 initiierte Debatte in der Zeitschrift DIE ERDE (Lethmate 2000), als „lively discussion“ deklariert (Ellger 2001) und in zwei späteren Qualifikationsschriften ausführlich diskutiert (Uhlenwinkel 2006 a, Winkler 2004), wird nicht zur Kenntnis genommen. Dabei folgt aktuell sogar die Umweltbewusstseinsforschung den dort entwickelten Positionen: Da „umweltbewusstes Handeln“ als UB-Ziel empirisch kaum mehr trägt, wird das Ziel deutlich abgeschwächt: kompetente Beteiligung von Personen am gesellschaftlichen Diskurs (Gräsel 2010). Gleichzeitig wird auf das mit diesem Ziel kompatible Konzept der bereits vor über 20 Jahren entwickelten „verständigungsorientierten Umweltbildung“ (Kahlert 1991) hingewiesen; auch davon bleibt die Begriffsdarstellung im WGD unberührt.
Der Vergleich mit der Biologiedidaktik ist hier erhellend. Naturerleben wird ausführlich, aber sehr kritisch diskutiert und dem eigentlichen Ziel des Biologieunterrichts, nämlich Wissen aufzubauen, untergeordnet (Berck/Graf 2010). Der Rezensent hat für die GD ein schulgemäßes Konzept „Umweltbildung als Wissensbildung“ ausgeführt (Lethmate 2009 b), das mit dem von der Erziehungswissenschaft begründeten Zweck von Schule (Terhart 1999) kompatibel ist. Es wird vom Mainstream der GD aber ebenso übergangen wie die Kritik zum aktuellen Versuch, UB in die BNE einzuordnen (Hasse 2010 b). Nach Winkler (2004, 30) hat die vom Rezensenten ausgelöste Debatte die GD „wie bedauerlicherweise kaum eine Kritik zuvor […] in ihrer Wirkung seismologisch“ erschüttert, was auf eine bestehende stabile Ordnung der GD schließen ließe – eine Schlussfolgerung, die offensichtlich bis heute Bestand hat.
Eingangs erwähnt die Begriffsdefinition im WGD „ökologische Gesetzmäßigkeiten“ als Bestandteil von UB. Es sei die Bemerkung erlaubt, dass die Analyse von ökologischen Gesetzmäßigkeiten mit Naturerleben u.ä. unterrichtlich kaum zu erreichen ist: „Man kann im Wald seine Sinne schulen, intensive Empfindungen haben, tiefe Betroffenheit erleben, doch das Umweltproblem Waldsterben erschließt sich nicht über Sinnenschulung, Betroffenheit und handelndes Erleben, sondern durch Interpretation, durch theoriegeleitete Analysen, durch gedankliche Kombination verschiedener Wissenselemente – kurz, durch Schulung und Gebrauch des Verstandes“ (Kahlert 1991, 100).
Bis heute zählen die Leitlinien Handlungs- und Situationsorientierung zum bedeutendsten didaktischen Ansatz der UB. Die Umweltbewusstseinsforschung hat das erkannt (Gräsel 2010), der Mainstream der GD wohl nicht. Derartige Leitlinien würden für den GU zwingend ein lokales Curriculum voraussetzen, in der GD aber wird der Nahraum im Vergleich zu Fernthemen vernachlässigt. GIS-unterstützte Nahraumerkundungen, wie sie hier und da vorgeschlagen werden, entsprechen keiner naturwissenschaftlicher Analyse. Zu einer naturwissenschaftlichen Nahraum-Analyse zählt auch, die traditionellen Geofaktoren zugunsten von Geoelementen i.S. von konkreten abiotischen Faktoren zu erweitern. Bis heute täuschen die Geofaktoren in Schulbuch und Lehrplan naturwissenschaftliche Zugriffe vor. Auch Abituraufgaben, soweit sie physiogeographische Aspekte beinhalten, bestehen durchweg in der Auswertung von Klimadiagrammen, kleinmaßstäbigen Niederschlags-, Vegetations- oder Bodenkarten (vgl. z.B. Koch et al. 2013), was zu entsprechend generalisierten Aussagen führen muss. Vage Korrelationen landschaftlicher Geofaktoren wie auch weitläufige Zusammenhänge zwischen Variablenklassen (Boden, Vegetation, Klima u.a.) sind nach Hard (1982 a, 169) eher Merkmal vorwissenschaftlichen denn disziplinierten Denkens. Auch Hard (1982 b, 284) hält in seinem Plädoyer für Nahthemen den Nahraum-Ansatz für sinnvoller als eine triviale „Geoökologie der Landschaftszonen“. In empirischen Analysen von Schülervorstellungen zum Fach Geographie dokumentiert sich dieser Hintergrund wie folgt: Während Biologen „viel genauer untersuchen“, forschen Geographen „nicht in jedem Detail“, vielmehr erforschen sie das „Grobe der Welt bzw. der Länder“ (Bette 2011, zit. n. Lethmate 2011 b, 138). All diese Probleme werden im WGD nicht angesprochen, was die Autorin des UB-Begriffs aber nicht vergisst zu betonen, ist wieder einmal die herausragende Eignung des Faches für UB: „Der Zusammenhang zwischen Mensch und Umwelt kann von keinem anderen Fach kompetenter aufgezeigt werden als von der Geographie […]“ (WGD S. 274, Hervorh. J.L.).
Das Zentrierungsfach Geographie wird in seiner Integrationsfunktion von Kultur- und Naturwissenschaft „allgemein anerkannt“ (WGD, 301). Die Problematik des oft, u.a. auch in den Bildungsstandards, zitierten „Brückenfaches“, wird nicht verfolgt, obwohl es „eine höchst missverständliche und letztlich kontraproduktive Metapher [ist], weil es eine komplexe Problemlage auf geradezu unerträgliche Weise verkürzt und vereinfacht“ (Weichhart 2008, 66). Ein solches Missverständnis dokumentiert sich sogar in einem Lehrplan: Im GU „verschmelzen“ Materielles, Soziales und Ideelles (Berliner Rahmenlehrplan für die Sek. I Geographie), herauskommen kann da nur „amtlich privilegierter Unsinn“ (Schultz 2013, 398).
Fazit
Sicher können die angeführten und angesichts von 220 Begriffen noch eher unvollständigen kritischen Defizite nicht in der hier vorgenommenen Breite in einem Wörterbuch ausgeführt werden, dennoch: Sie gehören zumindest als kurzer Hinweis zum kritischen Anspruch und müssen auch mit wenigstens einer (1) Literaturangabe belegt werden. Die o.g. und sicher ebenfalls noch unvollständigen positiven Beispiele des WGD zeigen, dass dies sehr wohl möglich ist. So bleibt der Eindruck, dass das für Schülerinnen und Schüler eingeforderte Critical thinking (WGD, 42 f.) auf diese Adressaten beschränkt bleibt, für etliche Vertreter der geographiedidaktischen Community zumindest in den angeführten Beispielen nicht gilt, oder dass diese ihr Critical thinking den Adressaten des WGD vorenthalten. Vielleicht kennen jüngere Geographiedidaktiker auch die „alten“ Diskussionen zu wenig, sie sollten „alte“ Arbeiten nicht vorschnell als historisch und damit als nicht mehr aktuell oder gar überholt ansehen. Die ewigen Kritiken zu Geographie und Geographieunterricht, formuliert in der immer wiederkehrenden „Quo vadis…“-Formel, finden im WGD trotz seines Anspruches, auch Gegenpositionen zu berücksichtigen, in wesentlichen Begriffen/Konzepten keinen Widerhall. Problemfelder der GD und des GU werden geschönt dargestellt und bleiben blauäugig: Solange experimentelles Arbeiten z.B. nicht als verbindlicher Inhalt im Lehrplan vorgeschrieben wird, werden alle Appelle zugunsten dieser Arbeitsweise im Schulalltag verpuffen. Vergleichbares gilt für die mangelhafte und ernüchternde Exkursionspraxis in der Schule (Lößner 2010) und schließlich generell für naturwissenschaftliches Lernen: Wenn dieser Lernbereich – wie z.B. im neuen Kernlehrplan für die Sek. II Nordrhein-Westfalen – mit einem Kurs „Landschaftszonen als räumliche Ausprägung von Klima und Vegetation“ abgedeckt wird, zudem nur in der Einführungsphase, und sich die inhaltlich-methodischen Anforderungen in der Beschreibung (!) von Geofaktoren und Analyse von Karte, Bild, Film, Statistiken, Graphiken und Texte beschränken, haben Lehrkräfte keinerlei Anlass, die Mindeststandards naturwissenschaftlichen Lernens praxisorientiert einzulösen.
Vor allem Studierenden könnte mit dem WGD der Eindruck einer die GD kennzeichnenden durchgängigen Klarheit, Widerspruchslosigkeit, Selbstgewissheit, ja Harmonie vermittelt werden – mit hier und da ein paar Defiziten, die dann als zukünftige Herausforderung
für GD und GU betrachtet werden, ohne aber die eigentlichen fachimmanenten Hemmnisse offenzulegen bzw. überhaupt wahrzunehmen. Daran wird sich zukünftig auch wenig ändern, wird das Strukturdefizit einer massiven Überrepräsentation gesellschaftswissenschaftlich orientierter Professuren der GD doch kaum aufgehoben. Zudem schimmert der Glaube an das Besondere, Einzigartige, eben Exzeptionelle des GU im WGD hier und da noch immer durch. Bleibt die GD also eine unbelehrbare Disziplin? Vielleicht nicht „ganz“, einige Vertreter des geographiedidaktischen Mainstreams aber sind und bleiben unbelehrbar! Ob da die evolutionäre Lerntheorie tröstet? Sie interpretiert Lernen als Ausführung genetischer Programme. Menschen, so die logische Schlussfolgerung, sind prinzipiell nicht belehrbar!
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Der hier wieder gegebene Rezensionsaufsatz von Jürgen Lethmate wurde zuerst veröffentlicht in: geographische revue, Jahrgang 15, 2013, Heft 2, S. 67-88
Dieter Böhn und Gabriele Obermaier: Wirklich unbelehrbar und harmoniesüchtig? Eine kurze Stellungnahme der Herausgeber zu Jürgen Lethmates „Anmerkungen“ im „Besprechungsaufsatz“ zum Wörterbuch der Geographiedidaktik
Eine Rezension (der Autor nennt sich Rezensent, z.B. S. 75) von 21 Seiten mit einem Literaturverzeichnis von nicht weniger als 86 Titeln, das macht neugierig, denn es verspricht eine intensive Auseinandersetzung. Zwar werden von den rund 220 Begriffen des Wörterbuchs nur 21 näher besprochen, zwar liegt das Gewicht auf Begriffen, die sich mit dem naturwissenschaftlichen Bereich der Geographiedidaktik auseinandersetzen, aber das ist legitim. Zumal der Rezensent sich ausdrücklich auf die Bereiche beschränkt, die er „aus eigener, mehr als je 20 jähriger Tätigkeit in Schule und Hochschule überschaut“. Man ist neugierig, denn die Überschrift wie das Fazit (S. 82 f.) qualifiziert das „Wörterbuch der Geographiedidaktik“ WGD mit der Behauptung ab: „Unbelehrbare Geographiedidaktik“. Worin besteht die Unbelehrbarkeit? Das wird gleich zu Beginn gesagt, das zieht sich als roter Faden durch den Beitrag: Es wird zu wenig Kritik geübt, es werden zu wenige gegensätzliche Positionen dargestellt. Vor allem die naturwissenschaftliche Bildung und hier deren geographiedidaktische Forschung wird zu wenig berücksichtigt.
Einen Grund sieht Jürgen Lethmate in der Auswahl der Autoren. Die geographiedidaktische Community sei „wohl die der Herausgeber“ (S. 68). Nein, das Gegenteil ist richtig: Über den Hochschulverband für Geographiedidaktik wurden alle Mitglieder aufgefordert, am Wörterbuch mitzuarbeiten und zum Beispiel Begriffe zu nennen, die in einem solchen Wörterbuch erfasst werden sollten. Alle Vorschläge, die an uns gesandt worden waren, wurden von uns aufgenommen. Schade, dass Jürgen Lethmate diese Gelegenheit nicht genutzt hat, um ihm wichtige Begriffe einzubringen. Fast 90 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter sehr viele der jüngeren Generationen, sind dem Aufruf gefolgt. Die Herausgeber nahmen keine Auswahl vor, weder der Beiträge, noch der Autoren. Sie diskutierten allerdings jeden Beitrag mit den Autoren, wobei das Kriterium nur die inhaltliche Qualität, nicht aber der vertretene Standpunkt war.
Das Fazit behauptet, das WGD vermittle den Eindruck von „Widerspruchslosigkeit, Selbstgewissheit, ja Harmonie“ in der Geographiedidaktik (S. 82). Stimmt das? Wir sind sehr stolz darauf, dass das Wörterbuch bereits in einer ersten Auflage 1985 (damals noch unter dem Titel „Fachdidaktische Grundbegriffe in der Geographie“) bei allen Begriffen den „Stand der fachdidaktischen Diskussion“ (im Wörterbuch nun „Zur geographiedidaktischen Diskussion“) aufführte. Das ist in den meisten Lexika und anderen wissenschaftlichen Lehrwerken nicht der Fall, muss es auch nicht. Man kann durchaus kritisieren, dass zu wenig Kritik geübt werde, zu wenige kontroverse Ansätze dargestellt werden. Aber grundsätzlich absprechen kann man – so man wissenschaftlich korrekt arbeitet – den kritischen Ansatz nicht. Manche Forderung lässt sich allerdings nicht einmal mit einem WGD nach Lethmate erfüllen. Nachdem er kritisiert, „Problemfelder der GD und des GU werden geschönt dargestellt und bleiben blauäugig“, fährt er fort: „Solange experimentelle Arbeiten z.B. nicht als verbindlicher Inhalt im Lehrplan vorgeschrieben sind, werden alle Appelle zugunsten dieser Arbeitsweise im Schulalltag verpuffen“ (S. 82).
Hier wird ein zweiter Ansatz des Beitrags erkennbar, der weit über das WGD hinausgeht. Die fast verzweifelte Klage eines Geographiedidaktikers, seine (und die seiner Kolleginnen und Kollegen) als vergeblich bewertete Bemühungen um eine Stärkung der naturwissenschaftlichen Bildung in der Forschung und vor allem im Geographieunterricht. In den meisten der 21 Begriffe, die er thematisiert, kritisiert Jürgen Lethmate, dass zu wenig auf kritische Positionen eingegangen werde. Allein 13 eigene Beiträge werden als Beleg angeführt. Die Kritik ist fundamental, der gesamte Geographieunterricht wird negativ gesehen. Das belegt u.a. die Karikatur (Abbildung 1, S. 73), nach der Geographie „alles, alles, alles“ sei. Offensichtlich ist Jürgen Lethmate auch davon überzeugt, dass die fehlende naturwissenschaftliche Bildung Ursache des geringen Ansehens der Geographie am Gymnasium sei (Abb. 2, S. 79). Immer wieder werden negative Belege aufgeführt, von den entmutigenden Erfahrungen einer Referendarin (S. 72) bis zu fehlenden Lehrplaninhalten (S. 82).
Viele der Anmerkungen Jürgen Lethmates sind anregend und sollten, ja werden hoffentlich in die Diskussion eingehen. Man darf aber nicht in der resignativen, bitteren Sicht verharren, eine Auseinandersetzung werde gescheut. Sie findet statt, das belegt gerade das WGD, in dem bewusst gegensätzliche Positionen aufgezeigt werden. Offensichtlich nicht immer in der vom Rezensenten gewünschten Breite, darüber lässt sich diskutieren. Wichtig ist zu erkennen, dass es unterschiedliche Ansichten gibt, dass sich Auffassungen wandeln. Denn den letzten Satz seines Beitrags glaubt, so sind wir sicher, nicht einmal Jürgen Lethmate: „Menschen … sind prinzipiell nicht belehrbar“. Freuen wir uns auf weitere kritische Auseinandersetzungen. Die Mitarbeit in der Community der Geographiedidaktiker/innen steht allen offen.
Jürgen Lethmate: „Unbelehrbare Geographiedidaktik?“ oder „Unbelehrbare Geographiedidaktik“. Eine Antwort auf die Stellungnahme von Dieter Böhhn und Gabriele Obermaier
Die Herausgeber (so nennen sich Autorin und Autor der „kurzen Stellungnahme“) machen aus meiner Frage „Unbelehrbare Geographiedidaktik?“ eine Behauptung. Die Beantwortung meiner Frage adressiere ich zudem gar nicht an die gesamte Geographiedidaktik. Wenn auf der Titelseite der neuen Geographischen Revue mein Beitrag ohne Fragezeichen abgedruckt ist, sollte das nicht missverstanden werden und hat nach Auskunft der Redaktion einen formalen Grund: in der Titelei wurden die abschließenden Satzzeichen generell abgeschafft. Dass im WGD zu wenig Kritik geübt und zu wenige Gegenpositionen dargestellt worden seien, habe ich ausdrücklich auf die von mir angesprochenen Begriffsfelder bezogen. Auch Widerspruchslosigkeit, Selbstgewissheit, ja Harmonie werden nicht pauschal behauptet, sondern konjunktivistisch als möglicher Eindruck auf bestimmte Adressaten vermutet. Die Herausgeber (im Folgenden: HG) hätten vielleicht genauer lesen sollen! Zudem hätte ich mir gewünscht, dass die HG zu den Fakten des naturwissenschaftlichen Defizits Stellung beziehen und sich nicht nur über eine Literaturliste wundern.
Wenn die Auswahl der Autoren zur Mitarbeit am WDG über eine Aufforderung des Hochschulverbandes für Geographiedidaktik zustande kam, hat mich das nicht erreicht, vielleicht weil ich seit meiner Pensionierung kein Verbandsmitglied mehr bin? Insofern konnte ich mich auch nicht mit eigenen Vorschlägen einbringen. Hier nehme ich meinen Verdacht, die Geographische Community sei wohl die der HG, gerne zurück. Meine ehemaligen Kollegen haben sicher nicht daran gedacht, dass es im Institut für Didaktik der Geographie in Münster sehr wohl einen Interessenten für die Diskussion geodidaktischer Positionen gegeben hat und bis heute gibt; jedenfalls haben sie mich über das Buchprojekt nicht informiert.
Es ist schon bemerkenswert: Da kritisiert man ein jahrelang bestehendes naturwissenschaftliches und geoökologisches Defizit in GD und GU, ohne es aber bei der Kritik zu belassen, im Gegenteil versucht man, dem Defizit durch eigene Beiträge zu begegnen, und dann wird einem „verzweifelte Klage“ und das Anführen eigener Beiträge vorgehalten. Wo erwähnt das WDG denn geoökologische Arbeiten? Ich finde unter den Begriffsfeldern Exkursion, Exkursionsdidaktik, Naturwissenschaftliche Grundbildung, Ökologischer Ansatz, Umweltbildung nicht eine einzige. Die ehemaligen Kollegen in Münster schreiben zwar viel und oft über „das exkursionsdidaktische Ausbildungsangebot im Institut für Geographiedidaktik in Münster“, haben aber wohl vergessen zu erwähnen, dass außer Ruhrgebiet, Berlin, ostfriesische Inseln und Mallorca noch Nahraum-Exkursionen mit geoökologischer Feldarbeit in terrestrischen und aquatischen Ökosystemen angeboten und zumindest partiell veröffentlicht wurden, auch als Übersicht über die geoökologische Ausbildungsstrategie für den Lehramtsstudiengang (Lethmate u. Brauckmann 1999).
Das gravierendste Beispiel für die Beharrungstendenz einer didaktisch kaum zu rechtfertigenden Position - zumindest aus naturwissenschaftlicher Sicht - bleibt für mich das Kursthemas „Klima- und Vegetationszonen“. Hier wurde die Chance naturwissenschaftlichen Arbeitens zugunsten einer deskriptiven Landschaftszonen-Betrachtung vertan. Ich wiederhole dies nochmals, um den Zeithorizont bewusst zu machen: Die Kritik an diesem Kursthema wurde bereits vor über 35 Jahren deutlich pointiert (Noll 1977) und ist in den Folgejahren immer wieder ausgeführt worden. Mit Etablierung der neuen Kernlehrpläne, Beispiel NRW, erscheinen die „Landschaftszonen als räumliche Ausprägung des Zusammenwirkens von Klima und Vegetation“ noch immer als Inhaltsfeld, mit der Sachkompetenz „beschreiben des Zusammenwirkens von Geofaktoren…“ und in der Methodenkompetenz ohne jede experimentelle Lehrform wie z.B. „untersuchen“, nicht einmal im Leistungskurs. Ein so kritischer Aspekt gehört m. E. sehr wohl in ein WDG, immerhin klingt das Problem im WGD zumindest an (S. 216).
Die „Reserviertheit“ von Schulgeographen gegenüber konsequent naturwissenschaftlichen Entwürfen kenne ich noch allzu gut aus der Schule, etwa die ablehnende Haltung gegenüber geoökologischen Projekten durch eine ganze Fachschaft. Sie ist mir aber auch zu Beginn meiner Tätigkeit im Hochschuldienst begegnet: Die von einer Vorbereitungsgruppe (Schulbehörde, Lehrerverband, ortsansässige Institute der Geoinformatik, Landschaftsökologie, Geographie und Geographiedidaktik) verabschiedete innovative Planung des Schulgeographentages 2000 in Münster, u.a. mit geoökologischen Arbeitsexkursionen in Land- und Gewässerökosystemen, wurde aus inhaltlichen Gründen von den Schulgeographen abgelehnt (Bünstorf u. Schrand 1999). Gefragt waren Busexkursionen ins Ruhrgebiet! Der Schulgeographentag 2000 fand in Duisburg statt. Weitere Beispiele erspare ich mir, zumal sie nicht in ein Wörterbuch gehören – oder vielleicht doch auf der Metaebene der Problematik naturwissenschaftlichen Unterrichts in GU und GD?!
Die wohlmeinende Feststellung der HG, es gäbe unterschiedliche Ansichten und Auffassungen würden sich wandeln, verharmlost das Problem: „Bei der Konzeption des Lehramtsstudienganges Geographie ist auf die gleichberechtigte Vermittlung physisch-geographischer/geoökologischer und humangeographischer Inhalte…Wert zu legen…“(DGfG 2009, S. 9). Diese Forderung gilt ja wohl auch für die Schule, wohlgemerkt als gleichberechtigte (!) Vermittlung, nicht einfach als Aufgabe neben gesellschaftlicher Bildung (WDG, S. 204). Wahrnehmung und Bewertung dieses geodidaktischen und daher wörterbuchrelevanten Problems, so scheint es, sind bei Geographiedidaktikern wohl sehr verschieden.
Wenn ich mich skeptisch über das Niveau des Geographieunterrichts geäußert habe, stehe ich mit dieser Einschätzung - wie an den aufgelisteten Kurzcharakterisierungen des Faches belegt - wohl nicht allein da. Dennoch sind kritische, gar negative Stellungnahmen zum Erdkundeunterricht von Hochschuldidaktikern eher selten, oder – provokante Frage – kommen sie wenn überhaupt vornehmlich von naturwissenschaftlich orientierten Kollegen? Es gibt von Seiten zumindest eines Anthropogeographen aber auch deutliche Worte: „Der Geographieunterricht der vergangenen Jahrzehnte war teilweise sehr schlecht“ (E. Kulke, in Sienoff 2007).
Was die Hoffnung der HG auf eine Diskussion betrifft, bleibe ich eher skeptisch. Bisher sind mir sieben Begründungsmuster für/gegen einen Diskussionsbeitrag begegnet: (1) Die Einladung zur Diskussion nehme ich gern an. (2) Ich beschäftige mich lieber mit Forschungsfragen, Lesen, Nach- und Weiterdenken, nicht mit dem Schreiben von Repliken. (3) Darauf antworten? Habe ich das nötig? (4) Ausdrücklicher Zuspruch per E-Mail, Verzicht auf öffentlichen Diskussionsbeitrag ohne Begründung. (5) Ausdrücklicher Zuspruch per E-Mail, Verzicht auf öffentlichen Diskussionsbeitrag mit der Begründung, sich mit Kritik zurückzuhalten, als Pensionär aber könne man nichts mehr verlieren. (6) Zuspruch zur Grundrichtung der Kritik in persönlichem Brief per Post, kein öffentlicher Diskussionsbeitrag erwähnt. (7) Beschwerde in persönlichem Brief per Post, kein öffentlicher Diskussionsbeitrag.
Ich schließe mit gewisser Erleichterung: Meine Stellungnahme zum WDG ist nach Aussage der HG in vielen Anmerkungen „anregend“ und es wird nicht mit einem Rechtsanwalt gedroht, wie in den raumnachrichten.de im Heftverweis auf die neue Geographische Revue angedeutet.
Literatur
Bünstorf, J. u. H. Schrand (1999): Stellungnahme – Schulgeographentag 2000. In. Rundbrief Geographie 154 – Mai 1999
DGfG – Deutsche Gesellschaft für Geographie (Hrsg.) (2009): Rahmenvorgaben für die Lehrerausbildung im Fach Geographie an deutschen Universitäten und Hochschulen. Bonn, 24 S.
Lethmate, J. u. H.-J. Brauckmann (1999): Böden als Kompartiment von Ökosystemen – Ansätze und Erfahrungen in der geoökologischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden. Mitt. Dtsch. Bodenkdl. Ges. 89: 73-76
Noll, E. (1977): Die Problematik der Ökologie im Schulfach „Erdkunde“ in der Sekundarstufe II. In: Verh. Ges. f. Ökologie Bd. 6: 609-613
Sienoff, J. (2007): Das geheime Wissen der Erdkundelehrer. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 38, 23.09.07